Der Bereitschaftsdienst eines Oberarztes

Ein Oberarzt hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Anordnung solcher Bereitschaftsdienste, in denen nicht gleichzeitig ein anderer Arzt die ärztliche Grundversorgung übernimmt.

Der Bereitschaftsdienst eines Oberarztes

Gesetzliche Bestimmungen, insbesondere die Normen des ArbZG, verlangen nicht, dass generell Bereitschaftsdienst gegenüber einem Oberarzt nur angeordnet wird, wenn gleichzeitig ein untergeordneter Arzt Dienst hat und die ärztliche Grundversorgung wahrnimmt. Dies gilt auch hinsichtlich der Einhaltung der gesetzlichen Ruhepausen nach §§ 4, 7 ArbZG1. Es ist Sache des Arbeitgebers, wie er die Einhaltung der Ruhepausen sicherstellt; dies verlangt nicht zwingend die vorliegend von dem Oberarzt angestrebte Maßnahme.

Ebenso wenig können Bestimmungen des TV-Ärzte/VKA sein Anliegen rechtfertigen.

Nach § 7 Abs. 6, § 10 Abs. 1 TV-Ärzte/VKA sind Ärztinnen und Ärzte im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zur Leistung von Bereitschaftsdienst verpflichtet. Die tarifliche Regelung unterscheidet nicht zwischen Ärzten verschiedener Vergütungsgruppen (§ 16 TV-Ärzte/VKA); auch leitende Oberärzte der Entgeltgruppe IV sind Ärzte, die den allgemeinen tariflichen Vorschriften – positiv wie negativ – unterliegen. Die Ableistung des Bereitschaftsdienstes gehört zum ärztlichen Berufsbild2. Lediglich bei Teilzeitbeschäftigten ist nach § 7 Abs. 6 TV-Ärzte/VKA deren Zustimmung bzw. eine entsprechende arbeitsvertragliche Regelung erforderlich.

Bereitschaftsdienst darf nach § 10 Abs. 1 Satz 2 TV-Ärzte/VKA nur angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, dass zwar Arbeit anfällt, erfahrungsgemäß aber die Zeit ohne Arbeit überwiegt3. Nach § 611 Abs. 1 BGB (ggfs. in Verbindung mit den Bestimmungen seines Arbeitsvertrages) ist der Oberarzt verpflichtet, Bereitschaftsdienste zu leisten, auch wenn kein (Assistenz-)Arzt die ärztliche Grundversorgung übernimmt. Der Arbeitgeber überschreitet hiermit nicht die Grenzen des Direktionsrechts im Sinne von § 106 Satz 1 GewO.

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Nach § 106 Satz 1 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit die Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz festgelegt sind. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers dient nur der Konkretisierung des vertraglich vereinbarten Tätigkeitsinhalts, beinhaltet aber nicht das Recht zu einer Änderung des Vertragsinhalts4. Der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung; eine Zuweisung geringerwertiger Tätigkeiten ist auch dann unzulässig, wenn die bisherige Vergütung fortgezahlt wird5.

Im vorliegenden Fall ist der Kläger nach seinem Arbeitsvertrag als Oberarzt und Vertreter des Chefarztes der Neurologie angestellt. Der Arbeitgeber kann ihm damit alle Tätigkeiten zuweisen, die mit der Aufgabenstellung eines leitenden Oberarztes verknüpft sind. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Art der Dienste als auch hinsichtlich des Arbeitsinhalts.

Ein Oberarzt ist zunächst einmal Arzt. Kernaufgabe des Arztes ist das fachgerechte Bemühen um Heilung des Patienten6. Die Tätigkeit als Arzt ist grundsätzlich mit einer spezifischen Verantwortung verbunden, die nicht auf andere Personen übertragen werden kann und darf. Nach § 11 Abs. 1, § 2 Abs. 3 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä 1997) idF des 114. Deutschen Ärztetages 2011 ist jeder Arzt im Rahmen der Berufsausübung verpflichtet, seine Patienten gewissenhaft mit geeigneten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu versorgen sowie bei der Übernahme und Ausführung der Behandlung die gebotenen medizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztlichen Kunst gewissenhaft auszuführen7.

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Zu den spezifischen Aufgaben des Oberarztes gehören – bei Letztverantwortung des Chefarztes – in selbständiger medizinischer Verantwortung die Leitung von operativen Eingriffen und anderen Behandlungsmethoden und die Beratung und Beaufsichtigung der in seinem Bereich tätigen Assistenzärzte; er nimmt diesen gegenüber eine herausgehobene Stellung ein8. Wie bei jeder anderen Tätigkeit gehören im Zusammenhang mit den Kernaufgaben stehende Tätigkeiten ebenso zum Berufsbild.

In tarifrechtlicher Hinsicht ist Oberarzt nach der Protokollerklärung zu § 16 Buchst. c TV-Ärzte/VKA derjenige Arzt, dem die medizinische Verantwortung für selbständige Teil- oder Funktionsbereiche der Klinik bzw. der Abteilung vom Arbeitgeber ausdrücklich übertragen worden ist. Dieses Tätigkeitsmerkmal ist nur erfüllt, wenn dem Oberarzt ein Aufsichts- und – teilweise eingeschränktes – Weisungsrecht hinsichtlich des medizinischen Personals zugewiesen worden ist. Ihm muss mindestens ein Facharzt der Entgeltgruppe II unterstellt sein9. Die „medizinische“ Verantwortung eines Oberarztes geht über die allgemeine „ärztliche“ Verantwortung eines Assistenzarztes und eines Facharztes deutlich hinaus. Dabei wird an die tatsächliche krankenhausinterne Organisations- und Verantwortungsstruktur angeknüpft. Kliniken sind arbeitsteilig organisiert und weisen zahlreiche spezialisierte und fragmentierte Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeabläufe mit einer abgestuften Verantwortungsstruktur der handelnden Personen auf10. Darüber hinaus vertritt der leitende Oberarzt den leitenden Arzt (Chefarzt) ständig in der Gesamtheit seiner Dienstaufgaben (§ 16 Buchst. d TV-Ärzte/VKA nebst Protokollerklärung).

Der Arbeitgeber darf dem Arbeitnehmer in gewissen eng umgrenzten Fällen, etwa in Not- oder Ausnahmesituationen, auch ohne dessen Einverständnis eine vertraglich nicht geschuldete, geringerwertige Tätigkeit zuweisen11.

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Aber auch abgesehen von einer Anordnungsbefugnis in Not- und Ausnahmesituationen hat der Oberarzt keinen arbeitsvertraglichen Unterlassungsanspruch.

Im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit wird der Kläger vertragsgemäß als leitender Oberarzt (Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA) beschäftigt. Während der streitgegenständlichen Bereitschaftsdienste muss der Oberarzt im vorliegenden Fall hingegen weit überwiegend (zu jedenfalls 80 %) typische Assistenzarzttätigkeiten erbringen und nur in geringem Umfang spezifisch fachärztliche Tätigkeiten. Ihm untergeordnete Ärzte kann er in dieser Zeit nicht anleiten. Es handelt sich aber um ärztliche Aufgaben, die Teil des Berufsbildes des Oberarztes sind. Der Umstand, dass eine bestimmte Aufgabe in der Regel durch einen Assistenzarzt unter Anleitung und Überwachung durch einen Oberarzt vorgenommen wird, bedeutet nicht, dass diese nicht in weiter gehender ärztlicher Verantwortung auch zum Aufgabengebiet des Oberarztes gehört. So steht einem Arzt die Vergütung einer höheren Entgeltgruppe nach § 15 Abs. 2 Satz 2 TV-Ärzte/VKA schon dann zu, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die die Anforderungen dieser Entgeltgruppe erfüllen. Damit wird deutlich, dass Anteile der Beschäftigung auch Tätigkeiten umfassen können, die nicht entsprechend herausgehoben sind. Ebenso wenig muss in jeder Minute der Tätigkeit ein eingruppierungsrechtlich gefordertes Unterstellungsverhältnis auch tatsächlich zum Tragen kommen. Vielmehr ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine bestimmte Organisationsstruktur vorliegt und ein entsprechendes Weisungsrecht übertragen wurde12.

Allerdings darf der Charakter der Tätigkeit als leitender Oberarzt durch die Übertragung bestimmter Aufgaben oder die Anordnung bestimmter Dienste unabhängig von deren zeitlichem Anteil nicht verloren gehen. Die typischen Aufgaben müssen der Tätigkeit weiterhin das Gepräge geben. Dies ist beispielsweise nicht mehr der Fall, wenn gegenüber einer Oberärztin die Teilnahme am Bereitschafts- und Stationsdienst der Assistenzärzte angeordnet wird13. Die Situation im vorliegenden Fall ist damit aber nicht vergleichbar; die Tätigkeit des Oberarztes verliert ihren Charakter durch einen ausschließlich von einem Oberarzt durchgeführten Bereitschaftsdienst nicht.

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Wie bereits dargelegt, gehört die Ableistung von Bereitschaftsdiensten zum ärztlichen Berufsbild. Dies schließt Oberärzte ein, was sich im Übrigen besonders deutlich aus dem Umstand ergibt, dass der nunmehr speziell für Ärzte von deren Berufsgruppengewerkschaft abgeschlossene TV-Ärzte/VKA insoweit nicht differenziert. Aus den in der Branche oder am Arbeitsort gegebenen Üblichkeiten folgt kein anderes Ergebnis. Eine Übung dahingehend, dass Oberärzte allein dann zu Bereitschaftsdiensten herangezogen werden, wenn zugleich ein anderer Arzt die ärztliche Grundversorgung übernimmt, ist nicht ersichtlich. Zwar ist es im Allgemeinen so, dass Oberärzte zu Hintergrunddiensten (Rufbereitschaft) herangezogen werden und der Vordergrunddienst im Rahmen eines Bereitschaftsdienstes durch Assistenzärzte ausgeübt wird. Zwingend ist dies aber nicht, vielmehr können sich aus der Organisation des Krankenhausbetriebs und der Situation der beteiligten Beschäftigten Abweichungen ergeben. So muss der Arzt während der Rufbereitschaft nach § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA bei Abruf in angemessener Zeit die Arbeit im Krankenhaus aufnehmen können. Sind Beschäftigte dazu beispielsweise aus persönlichen Gründen nicht in der Lage, kann es erforderlich werden, das übliche Muster der Diensteinteilung zu verändern.

Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 612a BGB.

Nach § 612a BGB darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Die zulässige Rechtsausübung darf nicht nur äußerer Anlass, sondern muss der tragende Beweggrund, dh. das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme gewesen sein14. Der Kläger trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 612a BGB und damit auch für den Kausalzusammenhang zwischen benachteiligender Maßnahme und zulässiger Rechtsausübung15.

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Die Anordnung von Bereitschaftsdiensten, ohne dass zugleich ein anderer Arzt zur Gewährleistung der ärztlichen Grundversorgung zur Verfügung steht, ist keine Maßregelung iSd. § 612a BGB.

Der Arbeitgeber kann die Bereitschaftsdienste im Rahmen der gesetzlichen, tariflichen und vertraglichen Vorgaben und unter Beachtung personalvertretungsrechtlicher Beteiligungsrechte frei organisieren und zuteilen. Der Oberarzt ist arbeitsvertraglich – wie dargelegt – grundsätzlich zur Ableistung solcher Dienste verpflichtet. Eine Maßregelung könnte allenfalls vorliegen, wenn die anderen Oberärzte ebenfalls Bereitschaftsdienste leisten würden und ihnen etwa ein Assistenzarzt zugewiesen wäre, einem einzelnen Oberarzt dieser „Vorteil“ aber vorenthalten würde.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Oktober 2013 – 10 AZR 9/13

  1. vgl. zum Begriff: BAG 13.10.2009 – 9 AZR 139/08, Rn. 30, BAGE 132, 195[]
  2. BAG 22.07.2010 – 6 AZR 78/09, Rn. 21, BAGE 135, 179; aA für Oberärzte wohl Thomae in Weth/Thomae/Reichold Arbeitsrecht im Krankenhaus 2. Aufl. Teil 5 C Rn. 3[]
  3. vgl. dazu BAG 5.06.2003 – 6 AZR 114/02, zu A II 1 c cc der Gründe, BAGE 106, 252[]
  4. BAG 25.08.2010 – 10 AZR 275/09, Rn. 24, BAGE 135, 239[]
  5. st. Rspr., zB BAG 20.11.2003 – 8 AZR 608/02, zu II 2 a bb (2) der Gründe; zur vorübergehenden Übertragung höherwertiger Tätigkeiten vgl. § 17 TV-Ärzte/VKA und BAG 4.07.2012 – 4 AZR 759/10, Rn. 17 ff.[]
  6. MünchKomm-BGB/Müller-Glöge 6. Aufl. § 611 BGB Rn. 89 [zum Arztvertrag][]
  7. vgl. BAG 9.12 2009 – 4 AZR 495/08, Rn. 48, BAGE 132, 365[]
  8. Strauß Arbeitsrecht für Ärzte an Krankenhäusern S. 26; Thomae in Weth/Thomae/Reichold Arbeitsrecht im Krankenhaus Teil 5 C Rn. 2 f.; vgl. auch BVerwG 1.06.1995 – 2 C 20.94 – BVerwGE 98, 334 [zu einem beamteten Oberarzt][]
  9. BAG 26.01.2011 – 4 AZR 167/09, Rn. 37; 9.12 2009 – 4 AZR 495/08, Rn. 45, BAGE 132, 365[]
  10. BAG 9.12 2009 – 4 AZR 495/08, Rn. 49 mwN, aaO[]
  11. BAG 3.12 1980 – 5 AZR 477/78, zu II 2 der Gründe; 8.10.1962 – 2 AZR 550/61; ErfK/Preis 13. Aufl. § 106 GewO Rn. 4; Schaub/Linck 15. Aufl. ArbR-Hdb § 45 Rn. 37[]
  12. vgl. zu § 12 TV-Ärzte/TdL: BAG 9.12 2009 – 4 AZR 495/08, Rn. 45, BAGE 132, 365[]
  13. BAG 19.12 1991 – 6 AZR 476/89[]
  14. BAG 20.12 2012 – 2 AZR 867/11, Rn. 45; 14.03.2007 – 5 AZR 420/06, Rn. 34, BAGE 122, 1; 12.06.2002 – 10 AZR 340/01, zu II 1 der Gründe, BAGE 101, 312[]
  15. vgl. BAG 16.09.2004 – 2 AZR 511/03, zu C III 2 der Gründe; 22.05.2003 – 2 AZR 426/02, zu B III 2 b der Gründe[]
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