Kein Kopftuch in NRW-Schulen

Seit dem 1. August 2006 heißt es in § 57 Abs. 4 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes:

Kein Kopftuch in NRW-Schulen

„Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“

Diese Vorschrift rechtfertigt nach einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Kündigung einer türkischstämmigen Lehrerin, die auch nach Abmahnung ihr Kopftuch nicht abgenommen hat:

Die im Jahr 1977 geborene Klägerin trat 2001 als Lehrerin in die Dienste des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie ist türkischer Abstammung und bekennt sich zum islamischen Glauben. Sie erteilte muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache. Dabei handelt es sich um ein freiwilliges Zusatzangebot der Schulen. Am Unterricht nahmen ausschließlich muslimische Schüler teil.Bei ihrer Bewerbung hatte die Klägerin ein Lichtbild eingereicht, das sie mit Kopftuch zeigte. In der darauf folgenden Zeit verrichtete sie ihren Dienst stets mit Kopftuch.

Im August 2006 wurde die Klägerin von ihrem Schulleiter davon in Kenntnis gesetzt, dass das Tragen eines Kopftuchs nach islamischem Religionsbrauch mit der Neufassung des SchulG NRW nicht mehr vereinbar sei. Die Klägerin führte daraufhin in einer schriftlichen Stellungnahme aus, sie trage das Kopftuch seit ihrem 12. Lebensjahr, und zwar aus eigenem Wunsch und aus religiöser Überzeugung. Nach einer erneuten Anhörung der Klägerin sprach das beklagte Land Nordrhein-Westfalen mit Schreiben vom 21. November 2006 eine Abmahnung aus. Darin hielt es der Klägerin das Tragen des Kopftuchs als Pflichtenverstoß vor und kündigte arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur Kündigung an, falls sie nicht spätestens ab dem 27. November 2006 dauerhaft ohne Kopftuch in der Schule erscheinen sollte. Die Klägerin kam der Aufforderung nicht nach. Nach Zustimmung des Personalrats erklärte das beklagte Land daraufhin mit Schreiben vom 22. Februar 2007 die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2007.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage der Klägerin abgewiesen, das Landesarbeitsgericht Hamm die Berufung der Klägerin zurückgewiesen1. Die Revision der Klägerin hiergegen wies das Bundesarbeitsgericht jetzt ebenfalls zurück:

Weiterlesen:
Nochmals: Kopftuchverbot an Berliner Schulen - und die Benachteiligung wegen der Religion

Das Tragen des Kopftuchs als verhaltensbedingter Kündigungsgrund

Die Kündigung ist aus verhaltensbedingten Gründen iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, so das Bundesarbeitsgericht.

Eine Kündigung ist durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht – in der Regel schuldhaft – erheblich verletzt hat, das Arbeitsverhältnis dadurch konkret beeinträchtigt wird, eine zumutbare Möglichkeit einer anderen Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheint2. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Das beklagte Land hat das Verhalten der Klägerin zu Recht als Pflichtverletzung gewertet. Die Klägerin hat gegen das Neutralitätsgebot des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW verstoßen.

Nach dieser Bestimmung dürfen Lehrerinnen und Lehrer in der Schule keine religiösen Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den religiösen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören.

Die Klägerin hat dieses Neutralitätsgebot verletzt. Sie ist als Lehrerin im Sinne des § 57 Abs. 4 SchulG NRW beschäftigt. Die bewusste Wahl einer religiös bestimmten Kleidung fällt unter das Verbot des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW. Eine religiöse Bekundung im Sinne von § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW ist die bewusste, an die Außenwelt gerichtete Kundgabe einer religiösen Überzeugung3. Im Streitfall besteht – auch nach den eigenen Erklärungen der Klägerin – kein Zweifel, dass sie das Kopftuch trägt, weil sie dem von ihr als maßgeblich angesehenen Religionsbrauch folgen will. In eben diesem Sinn fasst auch der unbefangene Beobachter das Tragen des Kopftuchs auf.

Das Verhalten der Klägerin ist geeignet, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern und den religiösen Schulfrieden zu gefährden. Das Verbot in § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW knüpft an einen abstrakten Gefährdungstatbestand an. Es erfasst nicht erst Bekundungen, die die Neutralität des Landes oder den religiösen Schulfrieden konkret gefährden oder gar stören. Das Verbot soll schon einer abstrakten Gefahr vorbeugen, um konkrete Gefährdungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Im Gesetzeswortlaut kommt dies darin zum Ausdruck, dass religiöse Bekundungen bereits dann verboten sind, wenn sie „geeignet“ sind, die genannten Schutzgüter zu gefährden4. Der Landesgesetzgeber wollte ersichtlich darauf Bedacht nehmen, dass die Schule ein Ort ist, an dem unterschiedliche politische und religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinandertreffen, deren friedliches Nebeneinander der Staat zu garantieren hat. Die religiöse Vielfalt in der Gesellschaft hat zu einem vermehrten Potenzial von Konflikten auch in der Schule geführt. In dieser Lage ist der religiöse Schulfrieden schon durch die berechtigte Sorge der Eltern vor einer ungewollten religiösen Beeinflussung ihrer Kinder gefährdet. Dazu kann das religiös bedeutungsvolle Erscheinungsbild des pädagogischen Personals Anlass geben5.

Weiterlesen:
Kopftuchverbot im Unternehmen

Dass die Klägerin ausschließlich muslimische Schüler unterrichtete und diese freiwillig teilnahmen, führt zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr gewinnt die religiöse Neutralität gerade dort Bedeutung, wo ihre Verletzung als religiöse Parteinahme gewertet werden kann. Das ist bei einem von den Anhängern eines Glaubens nicht einhellig befolgten religiös bestimmten Brauch wie dem Tragen eines Kopftuchs in besonderem Maße der Fall, weil der Eindruck entstehen kann, durch die Duldung des Brauchs werde er gewissermaßen offiziell als verbindlich und sogar vorbildlich anerkannt. Eben diese Parteinahme soll durch das Gesetz vermieden werden.

Die Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

Das Bekundungsverbot des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW ist nicht verfassungswidrig. Der Landesgesetzgeber durfte die Pflichten der bei ihm beschäftigten Lehrkräfte konkretisieren und ihnen ua. das Tragen von solcher Kleidung oder Zeichen in der Schule untersagen, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft erkennen lassen6.

Der Landesgesetzgeber war zuständig und berechtigt, ein Gesetz zu erlassen, das einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und Grundrechte von Lehrkräften, pädagogischem Personal, Schülern und Eltern sowie des Staates als des Trägers des allgemeinen Erziehungsauftrags regelt7.

Die Lösung des verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses durch § 57 Abs. 4 SchulG NRW verletzt nicht die Grundsätze der praktischen Konkordanz der betroffenen Grundrechtspositionen. Die Regelung liegt im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Landesgesetzgebers. Dieser durfte die positive Glaubensfreiheit und die Berufsausübungsfreiheit eines pädagogischen Mitarbeiters hinter die staatliche Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität, das Erziehungsrecht der Eltern und die negative Glaubensfreiheit der Schüler zurücktreten lassen, um die Neutralität der Schule und den Schulfrieden zu sichern. Die Vermeidung religiös-weltanschaulicher Konflikte in öffentlichen Schulen stellt ein gewichtiges Gemeingut dar8. Zu diesem Zweck sind gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit rechtlich zulässig3. Dabei ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die landesgesetzliche Regelung religiöse Bekundungen von Lehrern in öffentlichen Schulen ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls untersagt. Der Gesetzgeber darf Gefährdungen des Schulfriedens auch dadurch vorbeugen, dass er Lehrern bereits das Tragen religiös bedeutsamer Kleidungsstücke oder Symbole verbietet und muss konfliktvermeidende Regelungen nicht an die konkrete Gefahr einer drohenden Auseinandersetzung knüpfen9.

Das Neutralitätsgebot des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Es behandelt die verschiedenen Religionen nicht unterschiedlich. Die gesetzliche Regelung erfasst jede Art religiöser Bekundung unabhängig von deren Inhalt10. Christliche Glaubensbekundungen werden nicht bevorzugt. Dies gilt auch mit Blick auf § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW. Nach dieser Bestimmung widerspricht die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Art. 7 und Art. 12 Abs. 6 Landesverfassung Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen nicht dem Verhaltensgebot nach § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW. Gegenstand der Regelung in Satz 3 der Vorschrift ist die Darstellung, nicht die Bekundung christlicher Werte. Bestimmte Werte darzustellen heißt, sie zu erörtern und zum Gegenstand einer Diskussion zu machen. Das schließt die Möglichkeit der Rückfrage und Kritik ein. Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte ist nicht gleichzusetzen mit der Bekundung eines individuellen Bekenntnisses. Bei ihr geht es nicht um die Kundgabe innerer Verbindlichkeiten, die der Darstellende für sich anerkannt hätte11. Außerdem bezeichnet der Begriff des „Christlichen“ – ungeachtet seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich – eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht. Der Auftrag zur Weitergabe christlicher Bildungs- und Kulturwerte verpflichtet und berechtigt die Schule deshalb nicht zur Vermittlung bestimmter Glaubensinhalte, sondern betrifft Werte, denen jeder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes unabhängig von seiner religiösen Überzeugung vorbehaltlos zustimmen kann12.

Weiterlesen:
Diskriminierung wegen des Kopftuchs - und die Entschädigung für die Stellenbewerberin

Die Regelung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW behandelt die Klägerin auch nicht wegen ihres Geschlechts ungleich. Die Vorschrift verbietet religiöse Bekundungen unabhängig vom Geschlecht. Sie richtet sich nicht etwa speziell gegen das von Frauen getragene islamische Kopftuch oder entsprechende Kopfbedeckungen13.

Kein Verstoß gegen Art. 9 EMRK

Das Neutralitätsgebot des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW verstößt nicht gegen Art. 9 EMRK. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass ein Verbot, während des Unterrichts an öffentlichen Schulen religiöse Symbole zu tragen, eine gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK notwendige Einschränkung der nach Abs. 1 der Bestimmung gewährleisteten Religionsfreiheit eines Lehrers ist, welches wegen der möglichen Beeinträchtigung der Grundrechte der Schüler und Eltern ausgesprochen wird, um die Neutralität des Unterrichts zu gewährleisten. Dabei ist den Konventionsstaaten ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Die Regelungen können entsprechend den jeweiligen Traditionen und den Erfordernissen zum Schutz der Rechte anderer und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von Staat zu Staat verschieden sein. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof das Verbot für eine Lehrerin in einer Schweizer Grundschule, während des Unterrichts ein islamisches Kopftuch zu tragen, ebenso als mit der Religionsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 EMRK vereinbar angesehen wie das generelle, nicht nur für Dozentinnen, sondern auch für Studentinnen geltende Verbot, ein solches Kopftuch an türkischen Hochschulen zu tragen. Darin liegt keine Diskriminierung von Frauen, wenn auch Verbotsmaßnahmen gegen Männer vorgesehen sind, falls diese ihre religiöse Überzeugung unter den gleichen Umständen durch das Tragen von Kleidungsstücken bekunden14.

Weiterlesen:
Lehrerin mit Mütze

Kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot

§ 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW verletzt als landesrechtliche Vorschrift nicht das bundesgesetzliche Diskriminierungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG. Zwar kann das Bekundungsverbot zu einer unmittelbaren Benachteiligung der Lehrkraft aus Gründen der Religion im Sinne von § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Abs. 1 AGG führen. Eine unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen zur Erfüllung einer wesentlichen beruflichen Anforderung ist gem. § 8 Abs. 1 AGG aber zulässig, wenn der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Dies ist hier gegeben. Im Streitfall ist zwar nicht eine bestimmte Religionszugehörigkeit oder gerade deren Fehlen als ein in § 1 AGG genannter Grund Voraussetzung für die Ausübung der fraglichen Tätigkeit. Gleichwohl liegt ein Anwendungsfall von § 8 Abs. 1 AGG vor. Der Klägerin gereicht eine bestimmte Form ihrer Religionsausübung zum Nachteil. Deren Unterlassung wiederum ist wegen der Bedingungen der Ausübung ihrer Tätigkeit eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung. Der damit verfolgte Zweck ist rechtmäßig und die Anforderung angemessen.

Der von § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW verfolgte Zweck, die Neutralität des Landes und den religiösen Schulfrieden zu garantieren, ist rechtmäßig.

Die gesetzliche Anforderung, religiöse Bekundungen in der Schule zu unterlassen, ist angemessen. Sie untersagt eine äußere Kundgabe der eigenen religiösen Überzeugung lediglich während des Aufenthalts im Bereich der Schule und besteht ausschließlich um der – negativen – Religionsfreiheit Anderer willen. Der Begriff der Angemessenheit erfordert es nicht, das Tragen religiös bedeutungsvoller Kleidungsstücke nur mit Blick auf die konkreten Umstände und Verhältnisse der jeweiligen Schule zu untersagen15. Eine landesgesetzliche Bestimmung, die sich als verfassungsgemäßer Ausgleich widerstreitender Grundrechtspositionen erweist, ist zugleich angemessen im Sinne der bundesgesetzlichen Regelung des § 8 Abs. 1 AGG6.

Kein Trageanspruch wegen Vollzugsdefizits

Die Klägerin hat auch unter dem von ihr geltend gemachten Gesichtspunkt des Vollzugsdefizits keinen Anspruch darauf, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen. Weder ergibt sich aus der von ihr bemängelten Verwaltungspraxis ein Anhaltspunkt dafür, dass im Gesetz bereits eine Ungleichbehandlung angelegt wäre, noch ist diese Verwaltungspraxis zu beanstanden. Der Umstand, dass an der Westfälischen Schule für Blinde und Sehbehinderte in Paderborn eine Schwester in Ordenstracht unterrichtet, reicht nicht aus, um auf eine einseitig gegen islamische Bekundungen gerichtete, christliche Bekundungen verschonende Verwaltungspraxis des beklagten Landes zu schließen. Vielmehr handelt es sich insoweit um eine historisch bedingte Sondersituation. Zum einen wurde der Orden (Die Kongregation der Schwestern der Christlichen Liebe) im Zusammenhang mit der Übergabe der ursprünglich als Privatinstitut betriebenen Einrichtung (Schule für Blinde und Sehbehinderte) an das beklagte Land (bzw. die Provinzialverwaltung Westfalen) gegründet. Zum anderen ist die Ordenschwester lediglich im Rahmen eines Gestellungsvertrags für das beklagte Land tätig. Beides spricht gegen das Vorliegen einer vergleichbaren Situation. Dass bei dem beklagten Land noch weitere Lehrer beschäftigt werden, die im Unterricht religiösen Kleidungsbräuchen folgen, ist nicht ersichtlich.

Weiterlesen:
Der Entschädigungsanspruch zweier Kopftuch tragenden Lehrerinnen

Kein Vertrauensschutz

Ohne Erfolg macht die Klägerin Vertrauensschutz für sich geltend. Vertrauensschutz gegen Gesetze kann nur insoweit bestehen, als die Gesetze sich – sog. echte oder unechte – Rückwirkung beimessen. Daran fehlt es hier.

Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte in der Vergangenheit anknüpfen. Es bedarf deshalb einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolgen eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert. Eine Rechtsnorm entfaltet dann (echte) Rückwirkung, wenn der Beginn ihrer zeitlichen Anwendung auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist. Demgegenüber betrifft die tatbestandliche Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, ihr Tatbestand erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind16.

Im Streitfall liegt weder eine echte noch eine unechte Rückwirkung vor. Die zeitliche Anwendung des Gesetzes begann nicht vor seinem Inkrafttreten am 1. August 2006. Dieses knüpft auch nicht an religiöse Bekundungen vor dem 1. August 2006 an. Dass die Klägerin Dispositionen in der Erwartung getroffen hat, die Rechtslage werde sich nicht ändern, führt nicht zu einer ihr günstigeren Bewertung. Die bloße Annahme, rechtlich werde alles bleiben wie es ist, genießt keinen rechtlichen Schutz.

Die Klägerin ist trotz der – nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen berechtigten – Abmahnung nicht bereit gewesen, bei der Arbeit das Kopftuch abzulegen. Mit einer Änderung ihres Verhaltens ist nicht zu rechnen.

Die gem. § 1 Abs. 2 KSchG erforderliche umfassende Interessenabwägung führt nicht zur Sozialwidrigkeit der Kündigung. Danach ist eine verhaltensbedingte Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt, wenn sie bei vollständiger Würdigung und Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien billigenswert und angemessen erscheint17. Von diesen Grundsätzen ist das Landesarbeitsgericht Hamm ausgegangen und hat sie zutreffend angewandt. Dabei hat es zugunsten der Klägerin die Dauer der beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit und die soziale Situation (Unterhaltspflichten) in Ansatz gebracht, ist sodann aber – was revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist – zu dem Schluss gekommen, dass dem beklagten Land eine dauerhafte Missachtung der gesetzlich angeordneten Verhaltensregelungen iSv. § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW gleichwohl nicht zugemutet werden könne.

Weiterlesen:
Baskenmütze statt Kopftuch

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Dezember 2009 – 2 AZR 55/09

  1. LAG Hamm, Urteil vom 16.10.2008 – 11 Sa 572/08 und 11 Sa 280/08[]
  2. BAG 31.05.2007 – 2 AZR 200/06, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71[]
  3. BVerwG 16.12.2008 – 2 B 46.08, ZTR 2009, 167; BVerwG 24.06.2004 – 2 C 45.03, BVerwGE 121, 140[][]
  4. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227; für die insoweit inhaltsgleiche Vorschrift des § 59b Abs. 4 BremSchulG: BVerfG 22.02.2006 – 2 BvR 1657/05, BVerfGK 7, 320, m.w.N.; zur gleichlautenden Vorschrift des § 38 Abs. 2 SchulG BW: BVerwG 24.06.2004 – 2 C 45.03, BVerwGE 121, 140[]
  5. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, a.a.O.; BVerwG 24.06.2004 – 2 C 45.03, a.a.O.[]
  6. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227[][]
  7. BVerfG 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282; BVerwG 24.06.2004 – 2 C 45.03, BVerwGE 121, 140[]
  8. BVerfG 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282; BVerwG 26.06.2008 – 2 C 22.07, BVerwGE 131, 242[]
  9. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227; BVerwG 16.12.2008 – 2 B 46.08, a.a.O.; BVerwG 26.06.2008 – 2 C 22.07, a.a.O.[]
  10. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227; zu § 38 Abs. 2 SchulG BW: BVerwG 24.06.2004 – 2 C 45.03, BVerwGE 121, 140[]
  11. zu § 38 Abs. 2 Satz 3 SchulG BW: VGH B-W 14.03.2008 – 4 S 516/07[]
  12. so BVerwG 16.12.2008 – 2 B 46.08, ZTR 2009, 167; 24.06.2004 – 2 C 45.03, a.a.O.[]
  13. BAG 20.08.2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227; zu § 38 SchulG BW: VGH B-W 14.03.2008 – 4 S 516/07[]
  14. EGMR 10.11.2005 – 44774/98, NVwZ 2006, 1389; EGMR 15.02.2001 – 42393/98, NJW 2001, 2871[]
  15. BVerwG 16.12.2008 – 2 B 46.08, ZTR 2009, 167; a.A. Walter/von Ungern-Sternberg DVBl. 2008, 880[]
  16. BVerfG 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133[]
  17. vgl. BAG 24.06.2004 – 2 AZR 63/03, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 49 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65; APS/Dörner 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 274[]