TVöD – und die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist

Nach § 34 Abs. 2 Satz 1 TVöD können die Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und die den Regelungen des Tarifgebiets West unterliegen, nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.

TVöD – und die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist

Mit dem Begriff „wichtiger Grund“ knüpft die tarifvertragliche Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 1 BGB an. Deren Verständnis ist deshalb auch für die Auslegung der Tarifnorm maßgebend1.

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann.

Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht2.

Dabei gilt ein objektiver Maßstab. Nach § 626 Abs. 1 BGB bestimmt sich der wichtige Grund anhand des Vorliegens von Tatsachen3. Maßgeblich ist nicht, ob ein bestimmter Arbeitgeber meint, ihm sei die Einhaltung der Kündigungsfrist nicht zuzumuten, und ob er weiterhin hinreichendes Vertrauen in einen Arbeitnehmer hat. Es kommt darauf an, ob die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist dem Kündigenden aus der Sicht eines objektiven und verständigen Betrachters unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist oder nicht4.

Weiterlesen:
Fakturierung von Wachstunden innerhalb einer Wachschicht

Der Arbeitgeber ist bei Vorliegen eines wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB nicht gezwungen, fristlos zu kündigen. Er kann die Kündigung grundsätzlich auch – etwa aus sozialen Erwägungen oder weil eine Ersatzkraft fehlt – unter Gewährung einer Auslauffrist aussprechen5. Ob die Gewährung einer Auslauffrist zu der Annahme berechtigt, dem Arbeitgeber sei die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zumindest bis zum Ablauf der Frist auch objektiv zumutbar, ist unabhängig davon und nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen6. Für sich genommen erlaubt die Gewährung einer Auslauffrist, auf die das Landesarbeitsgericht allein abgestellt hat, einen solchen Schluss nicht.

Aus § 34 Abs. 2 Satz 1 TVöD folgt nichts anderes. Schon der Wortlaut der Bestimmung schließt lediglich eine Kündigung ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes aus, nicht aber eine Kündigung aus wichtigem Grund mit Auslauffrist. Ein solches Verständnis widerspricht nicht etwa dem Sinn und Zweck des tariflichen Sonderkündigungsschutzes. Durch ihn sollen länger beschäftigte ältere Arbeitnehmer, die im Allgemeinen weniger schnell Zugang zum Arbeitsmarkt finden, einen weiter gehenden Arbeitsplatzschutz erlangen7. Dieser Schutz wird bei Vorliegen eines wichtigen Grundes durch die Gewährung einer Auslauffrist in keiner Weise geschmälert.

Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegt auch im Verhältnis zu einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis ordentlich nicht gekündigt werden kann, dann vor, wenn es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – objektiv – nicht zuzumuten ist, den Arbeitnehmer auch nur bis zum Ablauf der (fiktiven) ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen. In diesem Fall wäre eine außerordentliche Kündigung auch dann gerechtfertigt, wenn die ordentliche Kündigung nicht ausgeschlossen wäre8.

Weiterlesen:
Überstundenzuschlag für Teilzeitbeschäftigte

Als wichtiger Grund in diesem Sinne ist neben der Verletzung vertraglicher Hauptpflichten auch die erhebliche Verletzung von Nebenpflichten „an sich“ geeignet. Nach § 241 Abs. 2 BGB ist jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet. Droht der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber mit einem empfindlichen Übel, um die Erfüllung eigener streitiger Forderungen zu erreichen, kann – je nach den Umständen des Einzelfalls – ein erheblicher, die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigender Verstoß gegen seine Pflicht zur Wahrung von dessen Interessen liegen9.

Denkbar ist ferner, dass ein pflichtwidriges Verhalten, das bei einem Arbeitnehmer ohne Sonderkündigungsschutz nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigen würde, gerade wegen der infolge des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung langen Bindungsdauer einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung für den Arbeitgeber iSd. § 626 Abs. 1 BGB darstellen kann10. Zwar wirkt sich der Sonderkündigungsschutz insofern zum Nachteil für den Arbeitnehmer aus. Dies ist jedoch im Begriff des wichtigen Grundes gemäß § 626 Abs. 1 BGB angelegt. Dieser richtet sich nach der Zumutbarkeit einer Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses. Zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs muss in einem solchen Fall allerdings zugunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden. Der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber ordentlich nicht gekündigt werden kann, darf im Ergebnis nicht schlechter gestellt sein, als wenn er dem Sonderkündigungsschutz nicht unterfiele11.

Weiterlesen:
Revisionsanträge - und ihre Auslegung

Bei Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers wird eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Die Pflichtverletzung müsste einerseits so gravierend sein, dass sie im Grundsatz auch eine fristlose Kündigung rechtfertigen könnte. Andererseits müsste es dem Arbeitgeber aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls zumutbar sein, dennoch die (fiktive) ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Wäre etwa die Gefahr einer Wiederholung des Pflichtverstoßes zwar für den Lauf der ordentlichen Kündigungsfrist auszuschließen, nicht aber darüber hinaus12, könnte ausnahmsweise gerade der Ausschluss der ordentlichen Kündigung dazu führen, dass ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung – mit notwendiger Auslauffrist – bestünde13.

Ist die Pflichtverletzung zwar nicht so schwerwiegend, dass sie „an sich“ als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht käme, könnte sie jedoch eine ordentliche Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial rechtfertigen, führte auch der Ausschluss der ordentlichen Kündigung regelmäßig nicht dazu, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung – mit notwendiger Auslauffrist – bestünde. Bei einem typischerweise nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigenden Grund im Verhalten des Arbeitnehmers bedingen es vielmehr Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes, dass sich der Arbeitgeber von der freiwillig eingegangenen, gesteigerten Vertragsbindung nicht lösen kann14.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Mai 2015 – 2 AZR 531/14

  1. BAG 31.07.2014 – 2 AZR 407/13, Rn. 23; 9.06.2011 – 2 AZR 381/10, Rn. 12; 26.11.2009 – 2 AZR 272/08, Rn. 12, BAGE 132, 299[]
  2. BAG 31.07.2014 – 2 AZR 407/13, Rn. 25; 8.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rn. 16[]
  3. KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 109; HK-ArbR/Griebeling 3. Aufl. § 626 BGB Rn. 58; APS/Dörner/Vossen 4. Aufl. § 626 BGB Rn. 22[]
  4. BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09, Rn. 47, BAGE 134, 349[]
  5. BAG 13.04.2000 – 2 AZR 259/99 – zu – II 2 a der Gründe, BAGE 94, 228; 9.02.1960 – 2 AZR 585/57 – zu – IV der Gründe, BAGE 9, 44[]
  6. vgl. BAG 6.02.1997 – 2 AZR 51/96 – zu – II 2 b der Gründe; 9.02.1960 – 2 AZR 585/57 – aaO[]
  7. BeckOK TVöD/Eylert Stand 1.09.2014 TVöD-AT § 34 Rn. 24; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TVöD Stand März 2015 § 34 Rn. 656[]
  8. vgl. BAG 10.10.2002 – 2 AZR 418/01 – zu B – I 5 b der Gründe; 27.04.2006 – 2 AZR 386/05, Rn. 34 f., BAGE 118, 104; KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 301b[]
  9. vgl. BAG 8.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rn.19 f.; KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 408; APS/Dörner/Vossen 4. Aufl. § 626 BGB Rn. 231 f.[]
  10. BAG 15.11.2001 – 2 AZR 605/00 – zu – II 5 a der Gründe, BAGE 99, 331; 13.04.2000 – 2 AZR 259/99 – zu – II 3 d cc der Gründe, BAGE 94, 228; offengelassen BAG 21.06.2012 – 2 AZR 343/11, Rn. 16, 21[]
  11. BAG 15.11.2001 – 2 AZR 605/00 – zu – II 5 b der Gründe; 13.04.2000 – 2 AZR 259/99 – aaO; 11.03.1999 – 2 AZR 427/98 – zu B – II 3 b der Gründe[]
  12. zu einer solchen Konstellation vgl. BAG 9.06.2011 – 2 AZR 284/10, Rn. 29[]
  13. ebenso KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 301b; HaKo-Gieseler 5. Aufl. § 626 Rn. 80, 87; Linck/Scholz AR-Blattei SD 1010.7 Rn. 74; vgl. auch ErfK/Müller-Glöge 15. Aufl. § 626 BGB Rn. 49 aE; HWK/Sandmann 6. Aufl. § 626 BGB Rn. 80[]
  14. vgl. zur Problematik auch BAG 21.06.2012 – 2 AZR 343/11, Rn.20; ErfK/Müller-Glöge 15. Aufl. § 626 BGB Rn. 49 aE; KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 301b[]
Weiterlesen:
Beschäftigung im öffentlichen Dienst und der Grundwehrdienst des Sohnes