Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden

Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt -und damit auch ein Steuerbescheid – nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden

Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschriften beurteilt werden1.

Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, zu der die Finanzbehörden insbesondere bei Verletzung von Mitwirkungspflichten berechtigt und verpflichtet sind, verlangt die Berücksichtigung aller für die anzuwendende Steuerrechtsnorm einschlägigen Umstände. Die Vorschriften über die Schätzung erlauben es, Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung zu treffen, als dies in der Regel (nach § 88 AO) geboten ist (sog. Reduzierung des Beweismaßes; vgl. BFH, Urteile vom 15.02.1989 – X R 16/86, BStBl II 1989, 462; vom 14.08.1991 – X R 86/88, BStBl II 1992, 128). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit („Überzeugung“) reduziert sich in der Weise, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Dies bedeutet, dass sich das Gericht hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen kann. Stets ist freilich vorauszusetzen, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder nicht berechnet werden können (§ 162 Abs. 1 AO). Andererseits ist das gewonnene Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig2, wenn feststehende Tatsachen berücksichtigt werden. Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige -wie im Streitfall- seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das Finanzamt an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will3. Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits ihre Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen4. Nichtigkeit ist jedoch anzunehmen, wenn sich das Finanzamt nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben5.

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Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein „objektiv willkürlicher“ Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das Finanzamt grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen6. Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, „die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten“7; „Strafschätzungen“ eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden. Jedoch führen auch mehrere grobe Schätzungsfehler bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen regelmäßig nicht zu der Annahme, das Finanzamt habe bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt. Der Schätzungsbescheid ist dann zwar rechtswidrig und anfechtbar, nicht aber nichtig8.

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Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 7. Mai 2013 – 6 K 392/12

  1. BFH, Urteile vom 20.12.2000 – I R 50/00, BStBl II 2001, 381, m.w.N.; vom 15.05.2002 – X R 34/99, juris; BFH, Beschlüsse vom 12.12.2010 – VIII B 192/09, BFH/NV 2010, 833; und vom 20.10.2005 – IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 125 FGO Rz. 4[]
  2. vgl. BFH, Beschluss vom 28.03.2001 – VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N.[]
  3. BFH, Beschluss vom 15.05.2002 – X R 34/99, juris; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 45[]
  4. BFH, Urteile vom 20.12.2000 – I R 50/00, BStBl II 2001, 381; vom 15.05.2002 – X R 34/99[]
  5. vgl. BFH, Urteil vom 15.05.2002 – X R 34/99, juris; BFH, Beschluss vom 20.102005 – IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240[]
  6. BFH, Urteil vom 20.12.2000 – I R 50/00, BStBl II 2001, 381[]
  7. BFH vom 20.12.2000 – I R 50/00, BStBl II 2001, 381[]
  8. BFH, Beschluss vom 20.10.2005 – IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240[]