Kein Pass = unerlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet

Ein Ausländers macht sich wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet ohne Pass oder Passersatz strafbar, wenn zumutbare Bemühungen unterlässt, sich einen Reisepass oder Passersatz zu beschaffen.

Kein Pass = unerlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet

Der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beinhaltet ein echtes Unterlassungsdelikt, sodass der Täter dieses nur verwirklichen kann, wenn er eine Rechtspflicht zum Handeln hat und er entgegen dieser Rechtspflicht ihm zumutbare Handlungen unterlässt. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn ihm eine Pass- oder Ausweisersatzbeschaffung nach § 48 Abs. 2 AuslG unzumutbar gewesen wäre. Grundsätzlich kommt ein Ausländer seiner Verpflichtung, die in § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausdrücklich geregelt ist (ebenso § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG), nur dann nach, wenn er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatsstaates stellt. Im Regelfall ist es nämlich jedem Ausländer zuzumuten, bei seinem Heimatsstaat einen Pass zu beantragen (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV), sofern er keinen Anspruch auf Erteilung eines deutschen Passersatzes hat. Ein Ausländer hat insbesondere dann nicht in zumutbarer Weise auf die Ausstellung eines Passes seines Heimatlandes hingewirkt, wenn er zu seiner Person falsche Angaben gemacht hat, mithin über seine Identität täuscht bzw. diese verschleiert1; mithin hat der Angeklagte keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung in Form eines Ausweisersatzes nach § 48 Abs. 2 AufenthG (sogenannte qualifizierte Duldung).

Weiterlesen:
Bedingter Tötungsvorsatz - und die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung

Die Zumutbarkeit entfällt auch nicht deshalb, weil er ggf. eine Abschiebung in sein Heimatland zu gewärtigen hätte2.

Da das Herkunftsland nicht feststeht, bestehen auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass ein entsprechender Antrag des Angeklagten von vornherein aussichtlos wäre. Die Zumutbarkeit der Antragstellung entfällt im Übrigen grundsätzlich auch dann nicht, wenn die Heimatbehörden die Ausstellung eines Passes von Bedingungen abhängig machen3. Angesichts des unbekannten Heimatlandes hat der Angeklagte insoweit die Pflicht, „in Vorleistung“ zu treten; sollte diese Behörde sodann irgendwelche Bedingungen stellen, wäre die Zumutbarkeit ggf. zu bewerten.

Die Strafbarkeit steht der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) sowie den hierzu vom Europäischen Gerichtshof ergangenen Entscheidungen vom 28.04.2011 – C-61/11; und vom 06.12.2011 – C-329/11 – nicht entgegen, da die Strafe wegen der vorliegenden Straftat keine „Maßnahme“ oder „Zwangsmaßnahme“ im Sinn von Artikel 8 der Rückführungsrichtlinie darstellt4.

Landgericht Waldshut -Tiengen, Urteil vom 5. Dezember 2012 – 6 Ns 24 Js 4035/10

  1. OLG München, Beschluss vom 21.11.2012 – 4 St RR 133/12; OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.08.2012 – 1 Ss 210/12; OLG Frankfurt NStZ-RR 2012, 220; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.09.2006 – 1 Ss 167/06; OLG München NStZ 2006, 529; ebenso BayObLG NStZ-RR 2005, 21 zu § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG[]
  2. OLG München, Beschluss vom 09.03.2010 – 4 St RR 102/09[]
  3. OLG München NStZ-RR 2011, 188 [Türkei: Wehrdienst/Ablösezahlung]; OLG Stuttgart NStZ-RR 2011, 28 [Türkei: ebenso]; anders OLG München, Beschluss vom 09.03.2010 – 4 St RR 102/09 [juris; Iran: „Freiwilligkeitserklärung“]; OLG Nürnberg StV 2007, 362 [Iran: ebenso][]
  4. OLG München, Beschluss vom 21.11.2012, aaO; ebenso für die vorliegende Fallkonstellation: Hörich/Bergmann NJW 2012, 3339; vgl. auch OLG Hamburg NStZ-RR 2012, 219 zu § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG[]
Weiterlesen:
Verschleierte Parteispenden sind keine Untreue