Unterbringung in der Psychiatrie – und der Freiheitsanspruch nach 21 Jahren

Anordnungen der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verletzen den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG, wenn sie den Anforderungen, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ergeben, nicht genügen, weil sie nicht die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe aufweisen

Unterbringung in der Psychiatrie – und der Freiheitsanspruch nach 21 Jahren

Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert1.

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit2; zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB3.

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen4 und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht5.

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das hier bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass die Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden6. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen7.

Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf die an die Begründung einer Entscheidung zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit wachsender Intensität des Freiheitseingriffs wächst auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag8.

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Zu verlangen ist die Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen9. Dabei ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Dazu gehören der Zustand des Untergebrachten und die künftig zu erwartenden Lebensumstände10.

Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der Person des Untergebrachten nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt11.

Nach diesen Maßstäben verletzen in dem hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm12 und des Landgerichts Paderborn13 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG. Die Beschlüsse tragen dem zunehmenden Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers angesichts der Dauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB nur unzureichend Rechnung. Der Beschwerdeführer befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Entscheidungen seit mehr als 20 Jahren im Maßregelvollzug. Angesichts dieser besonders langandauernden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hätte die Anordnung ihrer Fortdauer besonders sorgfältiger Begründung bedurft. Dem genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.

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Der Beschluss des Landgerichts lässt bereits den Maßstab, welcher der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers zu Grunde gelegt wurde, nicht erkennen. Weder wird die Dauer der Unterbringung erörtert, noch wird erkennbar, welche Konsequenzen sich aus Sicht des Landgerichts aus der langjährigen Dauer der Unterbringung für das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers und die Anforderungen an die Begründung einer Fortdauerentscheidung ergeben.

Daneben fehlt es an einer hinreichenden Konkretisierung der Art der künftig zu erwartenden Straftaten. Das Landgericht beschränkt sich insoweit auf die Feststellung, es müsse mit „Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen beziehungsweise Frauen“ gerechnet werden. Weitergehende Konkretisierungen, etwa im Sinne gewalttätiger Delikte oder der Begehung von mit dem Anlassdelikt vergleichbaren Straftaten, erfolgen nicht und lassen sich auch nicht dem in Bezug genommenen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T. vom 26.06.2013 oder der Stellungnahme der Unterbringungseinrichtung vom 25.07.2014 entnehmen. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Gefahr einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Sinne der §§ 174 ff. StGB in jedem Fall geeignet ist, das angesichts der über 20-jährigen Unterbringung des Beschwerdeführers gestiegene Gewicht seines Freiheitsanspruchs zu überwiegen. Das Landgericht hätte sich daher dazu verhalten müssen, welche „Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen beziehungsweise Frauen“ konkret vom Beschwerdeführer zu erwarten sind und ob diese trotz der langjährigen Unterbringung des Beschwerdeführers geeignet sind, dessen Freiheitsanspruch zu überwiegen.

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Dem steht auch nicht der Verweis auf die durch den Beschwerdeführer in den Jahren 2004 und 2010 begangenen Taten entgegen. Dabei handelt es sich um sexuell belästigende Telefonanrufe bei Frauen und Kindern, deretwegen der Beschwerdeführer im Jahr 2004 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu 60 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt wurde, während das Verfahren 2010 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Weder kann ohne weitere Begründung davon ausgegangen werden, dass diese – noch dazu mehrere Jahre zurückliegenden – Delikte für sich genommen ausreichen, die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers zu rechtfertigen, noch ergibt sich daraus ohne Weiteres die Gefahr der Begehung schwerwiegenderer Sexualdelikte. Auch hierzu verhält das Landgericht sich nicht.

Darüber hinaus fehlt es auch an der verfassungsrechtlich gebotenen Auseinandersetzung mit weiteren Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles. Dazu zählt vor allem die fehlende Bewertung der Feststellung des Landgerichts, dass durchgreifende Behandlungserfolge bezüglich des Störungsbildes des Beschwerdeführers kaum noch zu erwarten sind. Zwar sind von der vorliegenden Maßregelanordnung Täter nicht von vornherein ausgeschlossen, bei denen die Aussicht auf Besserung zweifelhaft erscheint14. Dem Verblassen des Besserungszwecks mag auch eine nur begrenzte Bedeutung zukommen15, insbesondere mag die Besserung als Nebenzweck nachrangig sein16. Wenn sich jedoch die Besserungsprognose weiterhin verschlechtert und die Besserung gegebenenfalls sogar ausgeschlossen sein sollte, nähert sich die Unterbringung gemäß § 63 StGB dem Vollzug einer gegenständlich nicht angeordneten Sicherungsverwahrung an14. Die beiden Maßregeln, die grundsätzlich auch nebeneinander angeordnet werden können, sind jedoch voneinander zu unterscheiden. Sie stehen nicht in einem Stufenverhältnis zueinander, sondern unterscheiden sich qualitativ. Die Unterbringung ist im Verhältnis zur Sicherungsverwahrung kein geringeres, sondern ein anderes Übel17. Andererseits tragen – soweit vorhanden – verbleibende Möglichkeiten der Behandlung eines Untergebrachten auch bei geringen Erfolgsaussichten zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei18. Auch hierzu verhält das Landgericht sich nicht, obwohl es sich in der vorangegangenen Fortdauerentscheidung vom 29.11.2013 noch mit der Frage einer Verbesserung der Behandlungsaussichten durch den Neubeginn einer Therapie in einer anderen Einrichtung befasst hatte.

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Insgesamt kann der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts eine umfassende, den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragende Abwägung des Freiheitsrechtes des Betroffenen mit den berechtigten Sicherungsinteressen der Allgemeinheit nicht entnommen werden. Die vorgenommene Abwägung beschränkt sich auf allgemeine Feststellungen, die den angesichts der Unterbringungsdauer gegebenen Begründungserfordernissen nicht genügen.

Das Oberlandesgericht Hamm hat die Grundrechtsverletzung durch das Landgericht Paderborn durch seinen Beschluss vom 03.02.2015 vertieft, indem es lediglich auf die zutreffenden Gründe der angegriffenen Entscheidung Bezug nimmt.

Daher war gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 03.02.2015 sowie des Landgerichts Paderborn vom 21.11.2014 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG verletzen. Die Beschlüsse sind jedoch nicht aufzuheben, da sie durch die Fortdauerentscheidung des Landgerichts Paderborn vom 13.11.2015 sowie den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 11.02.2016 mittlerweile prozessual überholt sind19.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Juli 2016 – 2 BvR 435/15

  1. vgl. BVerfGE 35, 185, 190; 109, 133, 157; 128, 326, 372[]
  2. vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 45, 187, 223; 58, 208, 224 f.[]
  3. vgl. BVerfGE 70, 297, 307[]
  4. vgl. BVerfGE 58, 208, 222[]
  5. vgl. BVerfGE 58, 208, 230[]
  6. BVerfGE 70, 297, 311[]
  7. vgl. BVerfGE 70, 297, 312 f.[]
  8. vgl. BVerfGE 70, 297, 315 f.; BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012 – 2 BvR 442/12 17; Beschluss vom 21.04.2015 – 2 BvR 2462/13 37[]
  9. vgl. BVerfGE 70, 297, 315 f.; BVerfG, Beschluss vom 17.02.2014 – 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 42; Beschluss vom 21.04.2015 – 2 BvR 2462/13 38[]
  10. vgl. BVerfGE 70, 297, 314 f.; BVerfGK 16, 501, 506; BVerfG, Beschluss vom 17.02.2014 – 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 40; BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012 – 2 BvR 442/12 15; BVerfG, Beschluss vom 21.04.2015 – 2 BvR 2462/13 38[]
  11. vgl. BVerfGE 70, 297, 316 f.[]
  12. OLG Hamm, Beschluss vom 03.02.2015 – III-4 Ws 25/15[]
  13. LG Paderborn, Beschluss vom 21.11.2014 – 12 StVK 238/14[]
  14. vgl. BVerfGK 2, 55, 63[][]
  15. vgl. BVerfGE 70, 297, 316[]
  16. vgl. BVerfGE 70, 297, 318; BVerfGK 2, 55, 63[]
  17. vgl. BVerfGK 2, 55, 63; BVerfG, Beschluss vom 05.07.2013 – 2 BvR 708/12 43; Beschluss vom 26.11.2014 – 2 BvR 713/12 26[]
  18. vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.07.2013 – 2 BvR 708/12 41; Beschluss vom 26.11.2014 – 2 BvR 713/12 27[]
  19. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.11.2014 – 2 BvR 2774/12; Beschluss vom 21.04.2015 – 2 BvR 2462/13[]
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