Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung – und der Zeitablauf

Das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) wird nicht allein durch den Ablauf eines erheblichen Zeitraums nach Abgabe der entsprechenden Erklärungen verbraucht oder unwirksam.

Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung – und der Zeitablauf

Der Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung soll den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör sichern1. Die Verfahrenswahl einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Was die Voraussetzungen anbelangt, unter denen im Verwaltungsprozess eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zulässig ist, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dahin geklärt, dass § 101 Abs. 2 VwGO insoweit eine eigenständige und abschließende Regelung enthält2. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Das Einverständnis nach § 101 Abs. 2 VwGO ist eine grundsätzlich unwiderrufliche Prozesshandlung3. Es muss nach dem Grundsatz der Klarheit einer verfahrensbestimmenden Prozesserklärung klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden4. Die Einverständniserklärung unterliegt keiner zeitlichen Befristung. § 101 Abs. 2 VwGO sieht eine zeitliche Bindung des Gerichts nach Verzicht auf die mündliche Verhandlung nicht vor5. § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO, der eine Drei-Monatsfrist bestimmt, ist nicht entsprechend über § 173 VwGO anwendbar6. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung bezieht sich seinem Inhalt nach aber lediglich auf die nächste Entscheidung des Gerichts und wird – wenn diese kein abschließendes Urteil ist – dadurch verbraucht. Er ist deshalb dann nicht mehr wirksam, wenn nach diesem Verzicht ein Beweisbeschluss ergeht, den Beteiligten durch einen Auflagenbeschluss eine Stellungnahme abgefordert wird oder Akten zu Beweiszwecken beigezogen oder sonst neue Erkenntnismittel in den Prozess eingeführt werden7. Eine Änderung der Prozesslage führt hingegen im Verwaltungsprozess weder von selbst zur Unwirksamkeit eines einmal erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung noch – wie in § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO vorgesehen – zu dessen Widerrufbarkeit8.

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Ausgehend von dieser Rechtsprechung liegt es auf der Hand und bedarf keiner erneuten Durchführung eines Revisionsverfahrens, dass ein erklärtes Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht allein durch den Ablauf eines erheblichen Zeitraums verbraucht oder unwirksam wird. Des Weiteren folgt daraus, dass das Verstreichen eines erheblichen Zeitraums nach der Einverständniserklärung für sich auch nicht die Verpflichtung des Gerichts begründet, den Beteiligten mitzuteilen, ob von der durch das Einverständnis eröffneten Möglichkeit, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, Gebrauch gemacht werde und wann eine Entscheidung ergehen soll. Das Verwaltungsprozessrecht schreibt dem Gericht solche Erklärungen nicht vor9. Mit welchem Motiv bzw. Ziel das vorbehaltlos abzugebende Einverständnis erklärt wird, ist unerheblich. Daher spielt es insoweit auch keine Rolle, dass das entscheidende Motiv für das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegebenenfalls die Beschleunigung des Verfahrens war, das Verfahren durch den Verzicht auf mündliche Verhandlung aber im Ergebnis nicht beschleunigt wurde.

Hinsichtlich der Frage, in welchen Fällen der Anspruch auf rechtliches Gehör dem Gericht gebieten kann, nach Ablauf eines (erheblichen) Zeitraums im Rahmen seiner Ermessensentscheidung nach § 101 Abs. 2 VwGO davon abzusehen, von dem erklärten Verzicht Gebrauch zu machen, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt, dass es zwar im Ermessen des Gerichts steht, ob es trotz wirksamen Verzichts ohne mündliche Verhandlung entscheidet, das Gericht aber in diesem Zusammenhang dafür einzustehen hat, dass trotz der unterbleibenden mündlichen Verhandlung das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht verletzt wird. Danach kann etwa die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung notwendig sein, wenn ein Beteiligter geltend macht, eine wesentliche Änderung der Prozesslage erfordere unter dem Gesichtspunkt seines rechtlichen Gehörs deren Durchführung10.

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Abschiebehaft - und der nicht rechtzeitig bekanntgegebene Haftantrag

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 4. Juni 2014 – 5 B 11.2014 –

  1. vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.11.2005 – 10 B 45.05 5 m.w.N.[]
  2. vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13.12 2013 – 6 BN 3.13 10; und vom 09.09.2009 – 4 BN 4.09 27 jeweils m.w.N.[]
  3. vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.12 2013 a.a.O. Rn. 8 m.w.N.[]
  4. vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 08.11.2005 – 10 B 45.05 4; und vom 17.10.1997 – 4 B 161.97, Buchholz 310 § 87a VwGO Nr. 3 S. 4 jeweils m.w.N.[]
  5. vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.09.2009 a.a.O.; und vom 08.07.2008 – 8 B 29.08 7 jeweils m.w.N.[]
  6. vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 09.09.2009 a.a.O.; und vom 19.12 2001 – 1 B 120.01, Buchholz 310 § 116 VwGO Nr. 27 S. 6 jeweils m.w.N.[]
  7. vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.12 2013 a.a.O.[]
  8. vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.12 2013 a.a.O. m.w.N.[]
  9. vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.06.1994 – 6 B 45.93, Buchholz 310 § 101 Nr.20[]
  10. vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 01.03.2006 a.a.O.; und vom 13.12 2013 – 7 B 90.05[]