Die Verzögerungsrüge in Altfällen

In Gerichtsverfahren, die beim Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) am 3.12 2011 anhängig waren, war zur Wahrung von Entschädigungsansprüchen unverzüglich eine Verzögerungsrüge zu erheben, mit der die Länge des Gerichtsverfahrens zu beanstanden war.

Die Verzögerungsrüge in Altfällen

Für (alle) Ansprüche wegen vermeintlicher Verzögerungen bis zum 3.12 2011, an dem das am 2.12 2011 verkündete ÜGRG nach seinem Art. 24 in Kraft getreten ist, folgt dies bereits aus Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG wegen fehlender Erhebung der Verzögerungsrüge. Denn nach Satz 2 gilt für anhängige Verfahren, die beim Inkrafttreten des ÜGRG am 3.12 2011 bereits verzögert sind, § 198 Abs. 3 GVG mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. Die Verzögerungsrüge stellt eine Obliegenheit dar, bei deren Verletzung von der Rügepflicht erfasste Ansprüche bis zum tatsächlichen Rügezeitpunkt ausgeschlossen (präkludiert) sind, in den Fällen des Art. 23 Satz 2 ÜGRG nach Satz 3 dieser Norm also alle Ansprüche nach § 198 GVG1. Art. 23 Satz 2 ÜGRG verlangt eine Rüge „unverzüglich“ nach dem 3.12 2011.

Eine zuvor erhobene Rüge, d.h. eines ihr inhaltlich entsprechenden Begehrens, reicht also schon dem Wortlaut nach nicht aus2. Sie wäre auch schwerlich möglich, da es eine entsprechende Regelung zuvor nicht gab und unklar bliebe, welche Anforderungen an ein entsprechendes Begehren zu stellen wären.

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Auf die Erhebung der Verzögerungsrüge kann nur nach der weiteren Übergangsregelung in Art. 23 Satz 4 ÜGRG verzichtet werden. Danach bedarf es keiner Verzögerungsrüge, wenn „die Verzögerung bei einem anhängigen Verfahren in einer schon abgeschlossenen Instanz erfolgt ist“.

Hat die Klägerin somit nach dem 3.12 2011 die erforderliche Verzögerungsrüge nicht erhoben, so sind schon wegen dieser Obliegenheitsverletzung damit alle Ansprüche nach § 198 (Abs. 1 und 4) GVG ausgeschlossen, soweit sie auf einer – von der Klägerin ohnehin nur hinsichtlich des Widerspruchsverfahrens geltend gemachten – vor dem 3.12 2011 eingetretenen Verfahrensverzögerung beruhen; ob es eine solche Verfahrensverzögerung tatsächlich gab, ist also unerheblich.

Entschädigungsansprüche wegen einer – von der Klägerin selbst nicht substantiiert vorgetragenen – Verzögerung des gerichtlichen Verfahrens erst nach dem 3.12 2011 wären gleichfalls schon präkludiert. Sie wären zwar nicht von der Übergangsregelung des Art. 23 ÜGRG erfasst und ausgeschlossen. Stattdessen griffe aber § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG unmittelbar ein. Danach enthält ein Verfahrensbeteiligter Entschädigung nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Verzögerungsrüge kann nach § 198 Abs. 3 Satz 2 ÜGRG erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Eine Rüge vor diesem Zeitpunkt ist wirkungslos3. Wie dargelegt, hat die Klägerin aber nach dem 3.12 2011 nicht gerügt, nunmehr werde das gerichtliche Verfahren nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen.

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Da eine fehlende rechtzeitige Rüge i. S. d. § 198 Abs. 3 GVG nur Entschädigungsansprüche und – anders als für die nach Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG erfassten Altfälle – nicht alle Ansprüche nach § 198 GVG ausschließt, käme allerdings hilfsweise nach § 198 Abs. 4 GVG die nicht von einer vorherigen Rüge abhängige, inzident im Entschädigungsbegehren der Klage enthaltene4 Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer nach dem 3.12 2011 in Betracht5.

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 4. September 2014 – 21 F 1/13

  1. vgl. BGH, Urteil vom 17.07.2014, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 10.04.2014 – III ZR 335/13 27, 35[]
  2. vgl. BGH, Urteil vom 17.07.2014, a. a. O., Rn. 15[]
  3. vgl. Ott, a. a. O, Rn.193, m. w. N.[]
  4. vgl. Ott, a.a.O, § 198, Rn. 262[]
  5. vgl. Ott, a.a.O., § 198, Rn.193[]