Mißliebige Demonstranten – und polizeiliche Identitätsfeststellungen

Fertigt die Polizei Filmaufnahmen von einer Versammlung an, ist sie nicht ohne Weiteres berechtigt, die Identität von Versammlungsteilnehmern festzustellen, die die Polizeikräfte ihrerseits filmen. Die Identitätsfeststellung ist nur bei konkreter Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut zulässig.

Mißliebige Demonstranten – und polizeiliche Identitätsfeststellungen

Es wären daher tragfähige Anhaltspunkte dafür erforderlich gewesen, dass die Filmaufnahmen der Versammlungsteilnehmer später veröffentlicht werden sollen und nicht anderen Zwecken, etwa der Beweissicherung, dienen. Denn das Kunsturhebergesetz verbietet und bestraft nicht bereits die Anfertigung von Bildern, sondern erst deren unbefugte Verbreitung und Zurschaustellung.

Die hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Verfassungsbeschwerde betraf einen Fall aus Göttingen: Der Beschwerdeführer befand sich im Januar 2011 auf einer angemeldeten Versammlung, bei der die Polizei Ton- und Bildaufnahmen der Versammlungsteilnehmer anfertigte. Dort wurde er von Polizeibeamten aufgefordert, sich auszuweisen. Seine Begleiterin erweckte den Eindruck, als filme sie ihrerseits die eingesetzten Polizeibeamten. Der Beschwerdeführer kam der Aufforderung durch Aushändigung seines Personalausweises nach. Die gegen die Maßnahme gerichtete Klage blieb vor dem Verwaltungsgericht Göttingen1 und dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht2 ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht sah hierdurch den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG verletzt:

Die Gerichte des Ausgangsverfahrens haben bei der Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG3 verkannt.

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Der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Gestalt der Feststellung der Personalien des Beschwerdeführers ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt Gefährdungen und Verletzungen der Persönlichkeit Rechnung, die sich für den Einzelnen aus informationsbezogenen Maßnahmen ergeben4. Der grundrechtliche Schutz entfällt dabei nicht schon deshalb, weil der Einzelne gesetzlich verpflichtet ist, Angaben zu seinen Personalien zu machen (vgl. § 111 Abs. 1 OWiG), einen gültigen Ausweis zu besitzen und ihn auf Verlangen einer zur Feststellung der Identität berechtigten Behörde vorlegen muss (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1, 2 PAuswG). Die Befugnis der Behörde, einen Ausweis zu verlangen, wird hierdurch nicht begründet. Es gibt keine allgemeine Verpflichtung, sich ohne Grund auf amtliche Aufforderung auszuweisen oder sonstige Angaben zu Personalien zu machen5.

Die Feststellung der Identität einer Person durch Befragen und die Aufforderung, dass sie mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung aushändigt, greift in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden6. Zwar ist das Gewicht des Grundrechtseingriffs verhältnismäßig gering, da die Identitätsfeststellung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG weder heimlich noch anlasslos erfolgt und die Persönlichkeitsrelevanz der im Zusammenhang mit einer Identitätsfeststellung erhobenen Informationen von vornherein begrenzt ist7. Gleichwohl bedarf der Eingriff der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung im Einzelfall, im Rahmen derer die Gerichte bei der Anwendung und Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG gehalten sind, die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinreichend zu berücksichtigen.

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darf im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist8. Danach sind die Gesetze ihrerseits unter Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auszulegen und anzuwenden, damit dessen Bedeutung für das einfache Recht auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zur Geltung kommt. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet dabei insbesondere eine Auslegung des einfachen Rechts, bei der abschreckende Effekte auf den Gebrauch des Grundrechts möglichst gering gehalten werden9.

Hiergegen verstieße es, wenn das Anfertigen von Lichtbildern oder Videoaufnahmen eines Polizeieinsatzes unter Verweis auf die bloße Möglichkeit einer nachfolgenden strafbaren Verletzung des Rechts am eigenen Bild (nach § 22 Satz 1, § 33 Abs. 1 KunstUrhG) genügen sollten, um polizeiliche Maßnahmen wie eine Identitätsfeststellung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG durchzuführen. Wer präventivpolizeiliche Maßnahmen bereits dann gewärtigen muss, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass sein Verhalten Anlass zu polizeilichem Einschreiten bietet, wird aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen auch zulässige Aufnahmen10 und mit diesen nicht selten einhergehende Kritik an staatlichem Handeln unterlassen. Beabsichtigt die Polizei, wegen Lichtbildern und Videoaufnahmen präventivpolizeilich – sei es durch ein Film- oder Fotografierverbot11, sei es wie hier durch eine Identitätsfeststellung – einzuschreiten, ergibt sich aus den durch die Maßnahme jeweils betroffenen Grundrechten – hier Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG – die Anforderung einer konkreten Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut. Dies ist eine Frage der tatsächlichen Umstände im Einzelfall. Dementsprechend geht die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung grundsätzlich in verfassungskonformer Auslegung der §§ 22, 23 KunstUrhG davon aus, dass unzulässige Lichtbilder nicht auch stets verbreitet werden12. Gehen die Sicherheitsbehörden demgegenüber davon aus, dass im Einzelfall die konkrete Gefahr besteht, eine solche unzulässige Verbreitung sei ebenfalls zu befürchten, bedarf es hierfür hinreichend tragfähiger Anhaltspunkte. Dem genügen die vom Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen mit Blick auf die streitgegenständliche Identitätsfeststellung nicht.

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Die angefochtenen Entscheidungen haben vorliegend unterstellt, die eingesetzten Polizeibeamten hätten schon deshalb davon ausgehen dürfen, dass die Aufnahmen im Internet veröffentlicht werden sollten, weil ein anderer Grund für die Beamten nicht ersichtlich gewesen sei. Dabei verkennen sie, dass der Anlass für die Aufnahmen hier ausdrücklich darin lag, dass die Polizei selbst Bild- und Tonaufnahmen der Teilnehmer einer öffentlichen Versammlung anfertigte (vgl. § 12 NdsVersG). Zwar kann es eine „Waffengleichheit“ zwischen den Teilnehmern einer Versammlung und der Polizei nicht geben. Da die Polizei als staatliche Behörde eine ihr gesetzlich übertragene Aufgabe wahrnimmt, verfügt sie über spezifische Mittel und Befugnisse, die Privaten nicht zu Gebote stehen. Fertigen Versammlungsteilnehmer, die von der Polizei gefilmt oder videografiert werden, ihrerseits Ton- und Bildaufnahmen von den eingesetzten Beamten an, kann aber nicht ohne nähere Begründung von einem zu erwartenden Verstoß gegen § 33 Abs. 1 KunstUrhG und damit von einer konkreten Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut ausgegangen werden. Vielmehr ist hier zunächst zu prüfen, ob eine von § 33 Abs. 1 KunstUrhG sanktionierte Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung der angefertigten Aufnahmen tatsächlich zu erwarten ist oder ob es sich bei der Anfertigung der Aufnahmen lediglich um eine bloße Reaktion auf die polizeilicherseits gefertigten Bild- und Tonaufzeichnungen etwa zur Beweissicherung mit Blick auf etwaige Rechtsstreitigkeiten handelt.

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Die angefochtenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Göttingen und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts beruhen auch auf dem Grundrechtsverstoß. Das Bundesverfassungsgericht hat sie daher aufgehoben und die Sache an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 1 BvR 2501/13

  1. VG Göttingen, Urteil vom 21.11.2012 – 1 A 14/11[]
  2. Nds. OVG, Beschluss vom 19.06.2013 – 11 LA 1713[]
  3. vgl. BVerfGE 65, 1, 41 ff.; 120, 378, 397 ff.[]
  4. vgl. BVerfGE 65, 1, 42; 113, 29, 46; 115, 166, 188; 115, 320, 341 f.; 120, 378, 397[]
  5. vgl. BVerfGE 92, 191, 197; OLG Hamm, Urteil vom 09.06.1954 – (3) 2a Ss 436/54, NJW 1954, S. 1212, 1212[]
  6. vgl. BVerfGE 65, 1, 41 f.; 78, 77, 84; Beschluss vom 15.03.2001 – 2 BvR 1841/00 u.a., NJW 2001, S. 2320, 2321[]
  7. vgl. BVerfGE 120, 378, 402 f.[]
  8. BVerfGE 103, 21, 33; Beschluss vom 29.09.2013 – 2 BvR 939/13 13[]
  9. vgl. BVerfGE 43, 130, 136; 93, 266, 292[]
  10. zur grundsätzlichen Zulässigkeit des Filmens und Fotografierens polizeilicher Einsätze vgl. BVerwGE 109, 203, 210 f.[]
  11. vgl. BVerwGE 143, 74, 77 ff.[]
  12. vgl. BVerwGE 109, 203, 211[]
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