Zentrales Verhandlungsmandat im Presse-Großhandel

§ 30 Abs. 2a GWB ist mit Art. 106 Abs. 2 AEUV vereinbar. Der flächendeckende und diskriminierungsfreie Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften ist eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne des Unionsrechts.

Zentrales Verhandlungsmandat im Presse-Großhandel

Der Gesetzgeber hat die Presseverlage und Presse-Grossisten sowie ihre Vereinigungen damit betraut, den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften im stationären Einzelhandel sicherzustellen und damit unabhängig von den Kosten jede Zeitungs- und Zeitschriftenverkaufsstelle zu beliefern, die darum nachsucht.

Dabei hat es der Bundesgerichtshof dahin stehen lassen, ob auf das räumlich auf Deutschland und sachlich jedenfalls im Wesentlichen auf deutschsprachige Presseerzeugnisse beschränkte Vertriebssystem des Presse-Grosso Unionskartellrecht überhaupt anwendbar ist oder ob es an der dafür erforderlichen Voraussetzung einer spürbaren Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten fehlt. Ebenso wenig bedarf der Entscheidung, ob das zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellt, die nicht nach Absatz 3 dieser Vorschrift freigestellt ist, oder ob das nicht der Fall ist, etwa weil zwischen den Presse-Grossisten weder aktueller noch potentieller Wettbewerb besteht. Auf Kartellrecht gestützte Ansprüche der Zeitschriftenverlegerin scheiden jedenfalls nach § 30 Abs. 2a GWB in Verbindung mit Art. 106 Abs. 2 AEUV aus.

Nach Art. 106 Abs. 2 AEUV ist eine Anwendung der Wettbewerbsregeln ausgeschlossen, wenn Unternehmen mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, sofern die Anwendung der Wettbewerbsregeln die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert und durch die Nichtanwendung der Wettbewerbsregeln die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Union zuwiderläuft. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

Die dem beklagten Branchenverband angehörenden Pressegrossisten sind als wirtschaftlich tätige Einheiten Unternehmen im Sinne von Art. 106 Abs. 2 AEUV.

Der flächendeckende und diskriminierungsfreie Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften ist nach dem insoweit unionsrechtlich maßgeblichen Willen des deutschen Gesetzgebers eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.

Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sind marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden. Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat zu Recht auf das Vorhandensein und den Schutz einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe berufen kann, sind im Unionsrecht nicht abschließend geregelt. Die Mitgliedstaaten verfügen daher über ein weites Ermessen bei der Definition dessen, was sie als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ansehen. Die entsprechenden Entscheidungen der Mitgliedstaaten werden von der Kommission lediglich auf „offenkundige Fehler“ überprüft1. Auch die Gerichte der Union und der Mitgliedstaaten können insoweit keine weitergehende Kontrolle ausüben2.

Danach wurden als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte und von der Kommission bisher die Energieversorgung, Postdienste, Verkehrsleistungen, Telekommunikations- und Kommunikationsnetze, Rundfunk, Wasserversorgung und Abfallentsorgung anerkannt, wobei jeweils eine Pflicht zur flächendeckenden und diskriminierungsfreien Versorgung ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs in Rede stand3.

Nach diesen Grundsätzen ist nicht zu beanstanden, dass der deutsche Gesetzgeber den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ansieht.

Der Gesetzgeber bezweckte mit der Neuregelung in § 30 Abs. 2a GWB, das seit Jahrzehnten bewährte Presse-Grosso-Vertriebssystem kartellrechtlich abzusichern, da es wesentlich zur Überallerhältlichkeit von Pressetiteln und zu einem diskriminierungsfreien Zugang insbesondere auch von Titeln kleinerer Verlage und von Titeln mit kleineren Auflagen zum Lesermarkt beigetragen habe4. Der Gesetzgeber will durch das Presse-Grosso einen flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften gewährleisten, auch soweit dies etwa in ländlichen Gebieten oder in Bezug auf Nischenprodukte unwirtschaftlich ist. Im Hinblick auf die Bedeutung einer im gesamten Bundesgebiet flächendeckenden publizistischen Vielfalt und des Marktzugangs auch kleinerer Verlage für die Grundrechte der Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) handelt es sich dabei um eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe5. Die Regelung des § 30 Abs. 2a GWB bezweckt dagegen nicht den Schutz der Gruppeninteressen der Pressegrossisten6, auch wenn sie sich für einen erheblichen Teil dieser Unternehmen vorteilhaft auswirken mag.

Der Gesetzgeber hat das ihm unionsrechtlich bei der Definition des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses eingeräumte Ermessen nicht deshalb überschritten, weil er nicht die betroffene Dienstleistung selbst, sondern mit den Branchenvereinbarungen eine bestimmte Kartellabsprache legitimiert hat und so der Pressevertrieb über Vertriebsmittler weitgehend den Wettbewerbsregeln entzogen worden ist7.

Anlass für das Tätigwerden des Gesetzgebers war allerdings, dass das zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes in erster Instanz als kartellrechtlich unzulässig eingestuft worden war und das bestehende Vertriebssystem des Presse-Grosso deshalb „kartellrechtlich abgesichert“ werden sollte8. Das stellt indes nicht in Frage, dass es sich beim flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften um eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse handelt, und dass die gesetzliche Regelung in § 30 Abs. 2a GWB diese im öffentlichen Interesse liegenden Vertriebsparameter gewährleisten soll9.

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Die Vorschrift des § 30 Abs. 2a GWB nimmt den Pressevertrieb auch nicht generell von der Anwendung der Wettbewerbsregeln aus. Vielmehr müssen für die Nichtanwendbarkeit der Wettbewerbsregeln jeweils sowohl die besonderen Voraussetzungen des § 30 Abs. 2a GWB wie auch diejenigen des Art. 106 Abs. 2 AEUV vorliegen.

Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Düsseldorf10 stellt § 30 Abs. 2a GWB einen ausreichenden und wirksamen Betrauungsakt im Sinne von Art. 106 Abs. 2 AEUV dar.

Eine Betrauung setzt einen Hoheitsakt voraus, also ein Gesetz oder einen Verwaltungsakt, der die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen des betrauten Unternehmens zu Dienstleistungen klar definiert11. Der Betrauungsakt verkörpert die politische Entscheidung eines Mitgliedstaates, die Gewährleistungsverantwortung für die Versorgung der Bevölkerung mit bestimmten Dienstleistungen zu übernehmen, und zwar in der Weise, dass das im Betrauungsakt bezeichnete Unternehmen verpflichtet wird, auf diese Dienstleistungen bezogene konkrete Aufgaben auch dann zu erfüllen, wenn dies im Einzelfall wirtschaftlich unrentabel ist12.

Die Vorschrift des § 30 Abs. 2a GWB stellt einen staatlichen Hoheitsakt dar, der klar den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungs- und Zeitschriftensortimenten als gemeinwirtschaftliche Aufgabe der Presse-Grossisten definiert, die auch dann zu erfüllen ist, wenn dies im Einzelfall wirtschaftlich unrentabel ist.

Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts scheitert eine unionsrechtlich wirksame Betrauung nicht daran, dass nach § 30 Abs. 2a GWB Verlage und Pressegrossisten sowie deren Vereinigungen nur im Sinne von Art. 106 Abs. 2 AEUV betraut sind, soweit entsprechende Branchenvereinbarungen einen flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften durch die Pressegrossisten vorsehen, die Pressegrossisten mithin zur Übernahme der Gewährleistungsverantwortung für die Dienstleistung nicht verpflichtet sind.

Nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte ist der obligatorische Charakter der betreffenden Dienstleistung wesentliche Voraussetzung einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe im Sinne des Unionsrechts. „Obligatorischer Charakter“ bedeutet, dass die durch einen Hoheitsakt mit einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe betrauten Wirtschaftsteilnehmer grundsätzlich verpflichtet sind, die betreffende Dienstleistung unter Berücksichtigung der für ihre Erbringung geltenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf dem Markt anzubieten13. Jedoch ist der einseitige Verzicht auf die Erbringung einer Dienstleistung mit der Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen grundsätzlich vereinbar. So kann ein Mitgliedstaat Schifffahrtsgesellschaften, die sich an Liniendiensten von, zwischen und nach Inseln beteiligen, nach Art. 4 Abs. 1 VO 3577/92 gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen hinsichtlich bestimmter Verkehrsdienste auferlegen. Es steht einem Reeder aber grundsätzlich frei, die fraglichen Verkehrsdienste zu erbringen. Nur wenn er sie erbringt, muss er die dabei auferlegten Verpflichtungen beachten14. Der Betrauungsakt muss danach nicht zwingend gewährleisten, dass die Dienstleistung von dem betrauten Unternehmen tatsächlich dauerhaft erbracht wird.

Weiter hat das Gericht der Union entschieden, dass einem Wirtschaftsteilnehmer die Wahrnehmung einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe durch Konzession übertragen werden kann, dafür aber die Zustimmung des Konzessionsempfängers erforderlich ist15.

Nicht ausreichend für eine wirksame Betrauung ist dagegen ein bloßer Erlaubnisvorbehalt16. Eine staatliche Erlaubnis genügt trotz ihres Charakters als Hoheitsakt nicht den Anforderungen an eine Betrauung, weil es an einer Übertragung der Dienstleistungserbringung auf bestimmte Unternehmen fehlt.

Danach liegt im Streitfall ein ausreichender Betrauungsakt vor17.

Der Wortlaut von § 30 Abs. 2a Satz 2 GWB sieht eine Betrauung ausdrücklich vor. Damit hat der Gesetzgeber seinen Willen, die am Pressegrosso beteiligten Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

In der Anknüpfung der Betrauung an Branchenvereinbarungen liegt keine unzulässige Bedingung. Der Gesetzgeber hat die Bestimmung des § 30 Abs. 2a GWB in Kenntnis und vor dem Hintergrund der bestehenden Marktverhältnisse eingeführt. Kennzeichnend dafür waren die seit Jahrzehnten bestehenden Branchenvereinbarungen zwischen den Verlagen, den Pressegrossisten und deren Verbänden, die nach Auffassung des Gesetzgebers in vorbildlicher Weise einen flächendeckenden und diskriminierungsfreien Pressevertrieb sichergestellt haben. Diese vom Gesetzgeber vorgefundene Lage, bei der die gemeinwirtschaftliche Aufgabe im Pressevertrieb bereits langfristig erfüllt wurde, wollte der Gesetzgeber bewahren18. Wird, wofür der Gesetzgeber keinen Anhaltspunkt hatte, künftig keine Branchenvereinbarung mehr abgeschlossen, so entfällt die Voraussetzung für die Betrauung. Dieser Sachverhalt entspricht demjenigen nach Ablauf einer – unbedenklich zulässigen befristeten Betrauung. Der Gesetzgeber muss dann im Rahmen seiner Gestaltungshoheit neu entscheiden, ob und gegebenenfalls wie er die Erbringung der gemeinwirtschaftlichen Aufgabe künftig gewährleistet.

Durch die vom Gesetzgeber in § 30 Abs. 2a GWB verwendeten Worte „soweit“ und „insoweit“ wird keine konditionale Verknüpfung im Sinne einer Bedingung für die Betrauung formuliert, deren Eintritt ungewiss ist. Vielmehr handelt es sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen; und vom Gesetzgeber vorausgesetzten Marktverhältnisse um eine notwendige zeitliche Verknüpfung. Sobald es künftig an einer Branchenvereinbarung im Sinne von § 30 Abs. 2a GWB fehlen sollte, wäre diese Betrauung aufzuheben. Das nimmt die Bestimmung mit der Formulierung „soweit“ vorweg.

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Der Anwendung von Art. 106 Abs. 2 AEUV steht daher nicht entgegen, dass die Verlage und Pressegrossisten sowie deren Verbände nach § 30 Abs. 2a GWB nicht verpflichtet sind, weiterhin Branchenvereinbarungen abzuschließen, die den diskriminierungsfreien und flächendeckenden Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften durch die Pressegrossisten gewährleisten. Ausreichend ist vielmehr, dass solange solche Branchenvereinbarungen wie bisher abgeschlossen werden, der Gesetzgeber die Presseverlage und Presse-Grossisten sowie ihre Vereinigungen damit betraut hat, den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften im stationären Einzelhandel sicherzustellen und damit unabhängig von den Kosten jede Zeitungs- und Zeitschriftenverkaufsstelle zu beliefern, die darum nachsucht. Solange die Voraussetzungen für diese Betrauung weiter vorliegen, sind die Verlage, Grossisten und ihre Vereinigungen auch grundsätzlich verpflichtet, die Dienstleistung des Pressevertriebs an den stationären Einzelhandel unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber festgelegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf dem Markt anzubieten. Diese Dienstleistung hat infolgedessen den vom Unionsrecht geforderten obligatorischen Charakter19. Die Regelung in § 30 Abs. 2a GWB stellt damit auch keinen bloßen Erlaubnisvorbehalt dar, der für eine wirksame Betrauung nicht ausreichen würde20.

Schließlich scheitert eine wirksame Betrauung nicht daran, dass staatliche Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten fehlen. Bei einem nicht flächendeckenden oder diskriminierungsfreien Vertrieb entfiele die an die Einhaltung dieser Voraussetzungen geknüpfte Betrauung mit der Folge, dass eventuelle Branchenvereinbarungen den Wettbewerbsregeln unterlägen. Außerdem ist über § 30 Abs. 3 Satz 2 GWB eine besondere kartellbehördliche Missbrauchsaufsicht eröffnet, die neben die Eingriffsbefugnisse des Amtes gemäß §§ 32, 19 und 20 GWB tritt, die nach § 30 Abs. 2a Satz 2 GWB unberührt bleiben.

Die Wettbewerbsregeln der Union sind auf das zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes nicht anwendbar, da ihre Geltung die Erfüllung der besonderen Aufgaben, die den Pressegrossisten übertragen worden sind, im Sinne von Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV verhindern würde.

Für eine Verhinderung im Sinne von Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV reicht es aus, wenn die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben bei einer Anwendung der Wettbewerbsregeln gefährdet wäre.

Nach Art. 14 AEUV obliegt es der Union und den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse, die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse so zu gestalten, dass diese Dienste ihre Aufgabe erfüllen können. Im Hinblick auf diese unionsrechtliche Funktionsgarantie21 setzt eine Verhinderung im Sinne von Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV nach der neueren Rechtsprechung der Unionsgerichte nicht mehr voraus, dass die Anwendung des Unionsrechts mit der Erfüllung der besonderen Aufgabe nachweislich unvereinbar ist22. Vielmehr kommt es darauf an, ob bei Anwendung der Wettbewerbsvorschriften die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben gefährdet wäre. Eine bloße Behinderung oder Erschwerung der Aufgabenerfüllung genügt allerdings nicht23. Die Ausnahme nach Art. 106 Abs. 2 AEUV ist somit auf dasjenige Maß zu beschränken, das erforderlich ist, um eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung zu verhindern24.

Bei der Prüfung der Frage, ob die Anwendung der Wettbewerbsregeln die Aufgabenerfüllung eines mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmens gefährdet, besteht ein Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers.

Das Unionsrecht in der Fassung des Vertrags von Lissabon erkennt seit 1.01.2009 ausdrücklich als gemeinsamen Wert der Union einen weiten Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage an, wie die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind (Art. 1 des Protokolls Nr. 26 zum Vertrag von Lissabon, ABl.2008 Nr. C 115/308).

Ein solcher Spielraum ist schon deshalb erforderlich, weil die Beurteilung der Gefährdung notwendig eine komplexe Prognose dazu verlangt, wie sich die Marktverhältnisse im Fall einer Anwendung der Wettbewerbsregeln entwickeln würden25. Beim Pressevertrieb geht das Bundeskartellamt davon aus, ein Wegdenken des über Jahrzehnte praktizierten, fortentwickelten und sehr komplexen Presse-Grossosystems führe zu einer rein hypothetischen Marktbetrachtung, die eine fusionsrechtliche Untersagung nicht tragen könne; es sei offen, welche Wettbewerbsbedingungen und Marktpositionen ohne ein System der Gebietsmonopole herrschen würden26.

Im Zusammenhang mit der Anwendung von Art. 106 Abs. 2 AEUV im Beihilferecht ist der Prüfungsumfang der Kommission und der Gerichte hinsichtlich der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit von Ausgleichszahlungen an ein mit einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe betrautes Unternehmen wegen des Ermessens der Mitgliedstaaten bei der Definition einer solchen Aufgabe und der Festlegung der Bedingungen für ihre Durchführung auf offenkundige Fehler beschränkt. Zu überprüfen ist allein, ob das System der Ausgleichszahlungen auf offenkundig unzutreffenden wirtschaftlichen oder tatsächlichen Prämissen beruht und ob es zur Erreichung der verfolgten Ziele offenkundig ungeeignet ist. Den Mitgliedstaaten kommt ein weites Ermessen bei der Beurteilung der Frage zu, wie sicherzustellen ist, dass die gemeinwirtschaftliche Aufgabe unter wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen erfüllbar ist. Nicht geprüft wird, ob sich der Markt tatsächlich in einer gewissen Weise entwickeln würde und ob die Anwendung der Regulierungsinstrumente unerlässlich ist, um die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Aufgabe zu gewährleisten27.

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Auch im Glücksspielrecht ist ein Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Frage anerkannt, wie sie die Ziele des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Sozialordnung verwirklichen28.

Gibt es – wie im Pressevertrieb – auf einem Gebiet keine Gemeinschaftsregelung, so ist die Kommission nicht befugt, über die Kosten einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, über die Zweckmäßigkeit der von den nationalen Behörden auf diesem Gebiet getroffenen Entscheidungen oder über die wirtschaftliche Effizienz des öffentlichen Betreibers in dem ihm vorbehaltenen Sektor zu entscheiden29. In entsprechender Weise erkennt der Gerichtshof der Europäischen Union bei Beschränkungen des Warenverkehrs aus Gründen des Gesundheitsschutzes einen weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten an30, wenn unionsrechtliche Regelungen fehlen und Unsicherheiten bei der Beurteilung bestehen.

Besteht danach ein Einschätzungsspielraum der Mitgliedstaaten und gibt es große Prognoseunsicherheiten, so ist der durch Art. 106 Abs. 2 AEUV unionsrechtlich eröffnete Prüfungsumfang der mitgliedstaatlichen Gerichte gegenüber Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers auf eine Kontrolle offenkundiger Fehler beschränkt31. Maßgeblich ist, ob die mitgliedstaatliche Regelung offenkundig ungeeignet ist, den ihr zugrunde liegenden Zweck zu erfüllen und ob dieser Regelung eine offenkundig unzutreffende Tatsachengrundlage zugrunde liegt.

Nach diesen Grundsätzen ist die Einschätzung des Gesetzgebers, der flächendeckende und diskriminierungsfreie Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften wäre bei Anwendung der Wettbewerbsregeln auf die in § 30a Abs. 2a GWB aufgeführten Branchenvereinbarungen gefährdet, ökonomisch plausibel und unionsrechtlich nicht zu beanstanden32.

Das durch § 30 Abs. 2a GWB ermöglichte zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes ist geeignet, entsprechend der Absicht des Gesetzgebers den international als vorbildlich angesehenen Pressevertrieb in Deutschland zu erhalten, der bislang einen flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften gewährleistet hat.

Ein flächendeckender, neutraler Universaldienst ist durch einheitliche Preise und Konditionen gekennzeichnet, die ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs festgesetzt werden33. Diese einheitlichen Preise und Konditionen gewährleistet im Vertriebssystem des Presse-Grosso das zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes.

Indem die zentralen Verhandlungen die Grossisten daran hindern, an ihren jeweiligen tatsächlichen Kosten orientierte, nach Gebieten differenzierte Preise beim Vertrieb desselben Zeitschriftentitels anzuwenden, tragen sie zur Überallerhältlichkeit aller Presseerzeugnisse bei. Bei einer räumlichen Preisdifferenzierung wäre zu befürchten, dass insbesondere wirtschaftlich schwächere Verlage den Vertrieb von Zeitschriftentiteln mit kleiner Auflage auf Ballungsgebiete mit hoher Verkaufsstellendichte oder umsatzstarke Standorte (etwa bestimmte Universitätsstädte) konzentrieren, weil für sie die weitere Belieferung ländlicher und umsatzschwacher Regionen wegen erhöhter Vertriebskosten unwirtschaftlich wäre. Wegen der bundeseinheitlichen Preisbindung für ihre Zeitungen und Zeitschriften hätten diese Verlage keine Möglichkeit, regional höhere Vertriebskosten durch höhere Preise in der entsprechenden Region auszugleichen. Die Verlage wären zunehmend gezwungen zu prüfen, an welchen Verkaufsstellen sich für sie der Vertrieb welcher Titel lohnt. Ergäbe sich daraus ein räumlich differenziertes Presseangebot, bestände faktisch auch keine Neutralität des Pressevertriebs mehr. Es würden nicht mehr alle Presseerzeugnisse überall angeboten.

Zudem wurde das seit Jahrzehnten unbestritten positive Marktergebnis im deutschen Pressevertrieb, das durch die Überallerhältlichkeit von Pressetiteln und den diskriminierungsfreien Zugang insbesondere auch von Titeln kleinerer Verlage und von Titeln mit kleinerer Auflage zum Lesermarkt gekennzeichnet ist18, in einem System der gebietsbezogenen Alleinauslieferung erreicht. Die Beibehaltung dieses wesentlich durch die Gebietsmonopole der Grossisten geprägten Vertriebssystems lässt auch künftig die vom Gesetzgeber gewünschten Marktergebnisse erwarten. Die weitere Zulässigkeit der zentralen Verhandlungen des Brandenverbandes ist geeignet, die bestehenden Gebietsmonopole zu erhalten. Die Verlage haben dann keinen Anlass, im Hinblick auf bessere Konditionen bei einem Wettbewerber den Grossisten zu wechseln. Auch die Presse-Grossisten haben bei einheitlichen Preisen und Konditionen kaum Interesse daran, außerhalb ihres Vertriebsgebiets tätig zu werden. Dementsprechend nimmt das Bundeskartellamt an, die gemeinsame Verhandlung der Konditionen durch den Branchenverband sei Teil des bestehenden Systems, das tatsächlichen und potentiellen Wettbewerb zwischen verlagsunabhängigen Grossisten ausschließe34. Davon geht auch die Zeitschriftenverlegerin aus, die durch Beseitigung des zentralen Verhandlungsmandats Verhandlungsspielräume eröffnen und auf diese Weise die systemprägenden Gebietsmonopole aufbrechen will.

Die Prognose des Gesetzgebers, das zentrale Verhandlungsmandat sei zur Abwehr einer Gefährdung der von ihm verfolgten Ziele erforderlich, ist ökonomisch plausibel; offenkundige Fehler dieser Einschätzung sind nicht ersichtlich.

Der Gesetzgeber konnte und musste bei seiner Gefahrenprognose die verfassungsrechtlichen Aspekte des Pressevertriebs berücksichtigen.

Eine vielfältige und möglichst umfassend vertriebene Presse ist von grundlegender Bedeutung für die außer durch Art. 5 Abs. 1 GG auch durch Art. 6 Abs. 1 EUV iVm Art. 11 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta sowie Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützte freie Meinungsbildung. Nach einer Änderung des nach Ansicht des Gesetzgebers bewährten Großhandelsvertriebssystems könnten etwaige negative Entwicklungen auf dem grundrechtssensiblen Presse- und Pressevertriebsmarkt nur schwer oder gar nicht rückgängig gemacht werden. Dagegen schließt das gegenwärtige, durch zentrale Verhandlungen und Gebietsmonopole gekennzeichnete Pressevertriebssystem Diskriminierungen der Verlage beim Zugang zum Vertrieb ebenso zuverlässig aus, wie es die Überallerhältlichkeit von Presseprodukten gewährleistet.

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Zudem hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass gerade neue, finanzschwache oder minderheitenorientierte Presseunternehmen, die zum Aufbau eines eigenen Vertriebsnetzes außerstande sind, auf den freien Vertrieb durch die Pressegrossisten angewiesen sind, um ihr Publikum zu erreichen35. Dabei gewährleisten insbesondere die im Voraus bekannten einheitlichen Preise und Konditionen einen einfachen und sicheren Marktzugang. Wären die zentralen Verhandlungen unzulässig, müsste dagegen jeder Verlag über die Handelsspannen dezentral verhandeln oder einen Nationalvertrieb zwischenschalten36.

Der Gesetzgeber ist nach Anhörung verschiedener Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren zur 8. GWB-Novelle zu dem Ergebnis gelangt, dass das bisherige Presse-Grosso-System, dessen wesentlicher Bestandteil gemeinsame Verhandlungen der Pressegrossisten sind, maßgeblich zur Überallerhältlichkeit von Pressetiteln und zu einem diskriminierungsfreien Zugang insbesondere auch von Titeln kleinerer Verlage und von Titeln mit kleineren Auflagen zum Lesermarkt beigetragen hat37. Eine Gefährdung des den verfassungsrechtlichen Anforderungen in vorbildlicher Weise Rechnung tragenden Pressevertriebssystems brauchte der Gesetzgeber nicht hinzunehmen.

Bei einem Wegfall des zentralen Verhandlungsmandats erscheint durchaus naheliegend, dass große Verlage und Verlage mit auflagenstarken Titeln, ungeachtet der Möglichkeit kleinerer Verlage, ihren Vertrieb in Nationalvertrieben zu bündeln, aufgrund ihrer Marktstärke sowie der großen Auflagen, deren Vertrieb sie nachfragen, bessere Preise und Konditionen als kleinere Verlage durchsetzen könnten, so dass die Vertriebskosten für kleinere Verlage relativ zu denjenigen großer Verlage oder auch absolut pro verkauftem Exemplar stiegen. Es ist weiter plausibel, dass nach einem Aufbrechen der Gebietsmonopole mittels individueller Verhandlungen insgesamt höhere Vertriebskosten für den Pressevertrieb anfielen. Zwar dürfte nicht wahrscheinlich sein, dass Pressegrossisten die Belieferung eines benachbarten Gebiets aufnähmen, wenn dies für sie unrentabel wäre. Würde jedoch ein Pressegrossist in einem benachbarten Gebiet tätig, wäre nicht zu erwarten, dass er dieses Vertriebsgebiet gleich für alle Verlage übernähme. Infolgedessen entstände ein Doppel- oder Mehrfach-Grosso, das parallele Vertriebsstrukturen erforderte. Dadurch würde der Vertrieb insgesamt verteuert. In den bestehenden Doppel-Grosso Gebieten mag diese Situation zwar für alle Beteiligten wirtschaftlich auskömmlich sein. Es handelt sich dabei jedoch um Großstädte oder daran angrenzende Gebiete, in denen aufgrund der Verkaufsstellendichte parallele Vertriebsstrukturen wirtschaftlicher betrieben werden können als in ländlichen Gebieten.

Ob und wie die Pressegrossisten die Mindereinnahmen ausgleichen könnten, die ihnen bei Gewährung besserer Preise und Konditionen an Großkunden oder wegen des Verlustes von Großkunden in dem bisher belieferten Gebiet entstünden, ist von vielen Faktoren abhängig, zu denen insbesondere das Verhalten der Verlage, der Pressegrossisten und der belieferten Einzelhändler zählt. Bei dieser Beurteilung handelt es sich um eine komplexe Prognose. Mangels Erfahrungen mit einem wettbewerblich verfassten Großhandelsvertrieb für Presseerzeugnisse in Deutschland ist es kaum möglich, die weitere Entwicklung zuverlässig vorauszusagen. Es ist denkbar, dass Wettbewerb zu Effizienzsteigerungen führte, die Mindereinnahmen jedenfalls teilweise kompensieren könnten. Nicht fernliegend erscheint aber auch, dass es zu einer Konsolidierung bei den Pressegrossisten käme und im Laufe der Zeit immer weniger Grossisten immer größere Gebiete belieferten. Plausibel ist ferner, dass es für kleinere Verlage und unrentable Verkaufspunkte, vor allem in ländlichen Gebieten, zu höheren Preisen und schlechteren Konditionen käme, mit der Folge, dass der Vertrieb von Nischenprodukten oder die Belieferung unrentabler Verkaufspunkte längerfristig eingestellt würde.

Dagegen bietet zwar zunächst das kartellrechtliche Missbrauchsverbot (§ 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB) einen gewissen Schutz. Dieser Schutz griffe jedoch nicht mehr ein, wenn ein Pressegrossist in einem bestimmten Gebiet seine marktbeherrschende Stellung verlöre. Die Vorschrift des § 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB verbietet zudem unterschiedliche Preise und Konditionen nur dann, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt sind. Insbesondere kann ein marktbeherrschendes Unternehmen nicht gezwungen werden, seine Leistung zu nicht kostendeckenden Preisen anzubieten38. Es wäre daher durchaus zu befürchten, dass nach Beendigung des zentralen Verhandlungsmandats des Brandenverbandes Pressegrossisten in zulässiger Weise ein Preissystem anwendeten, in dem höhere Fracht- und sonstige Vertriebskosten für entlegene Verkaufspunkte oder Kleinmengen bei der Preisgestaltung berücksichtigt würden. Einer Einstellung unrentabler Nischenprodukte oder Nichtbelieferung von Verkaufspunkten stände auch nicht der gleichgerichtete Wunsch der Verlage und Pressegrossisten nach einem möglichst umfassenden Vertrieb entgegen. Dieser Wunsch fände dort seine Grenze, wo ein Vertrieb zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen nicht mehr möglich wäre. Eine Pflicht zur flächendeckenden Versorgung geht somit deutlich über ein Verbot der Diskriminierung und unbilligen Behinderung hinaus.

Es kann dahinstehen, ob sich die den nationalen Gerichten bei der Anwendung von Art. 106 Abs. 2 AEUV übertragene Erforderlichkeitsprüfung auch auf die Frage erstreckt, ob dem nationalen Gesetzgeber zur Vermeidung der Gefährdung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ein die Geltung der Wettbewerbsregeln weniger beschränkendes Mittel zu Gebote steht39.

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Denn eine andere Möglichkeit, wie sich das verfassungsrechtlich geschützte, positive Marktergebnis beim Pressevertrieb ohne das zentrale Verhandlungsmandat des Brandenverbandes ebenso zuverlässig in einer Weise sichern ließe, die den Wettbewerb weniger beschränkte, ist nicht ersichtlich. Das gilt auch für das vom Oberlandesgericht erwogene, auf kleinere Titel und Verlage beschränkte zentrale Verhandlungsmandat. Für die Grossisten bestände dann der Druck, Großkunden bessere Preise und Konditionen gewähren zu müssen, um sie nicht zu verlieren, in gleicher Weise wie bei einer vollständigen Beendigung der Zentralverhandlungen. Unter diesen Umständen ist jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft, dass der Gesetzgeber eine Beschränkung des zentralen Verhandlungsmandats nicht als Alternative zu dessen vollständiger gesetzlicher Absicherung erwogen hat.

Die Entwicklung des Handelsverkehrs wird durch die Nichtanwendung des Kartellverbots auf die Branchenvereinbarungen des Brandenverbandes nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt, das den Interessen der Europäischen Union zuwider läuft (Art. 106 Abs. 2 Satz 2 AEUV). Dabei kann dahinstehen, ob es sich hierbei um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal für die partielle Befreiung von der Geltung des Unionsrechts handelt oder nur um eine negative Vorgabe für die Prüfung nach Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV40.

Der Vertrieb über das Presse-Grosso bezieht sich weitestgehend auf deutsche Zeitungen und Zeitschriften, die von deutschen Grossisten über Einzelhändler im Inland an deutsche Leser verkauft werden sollen. Der für die internationale Presse wichtige Bahnhofsbuchhandel ist nicht Teil des hier in Rede stehenden Vertriebssystems. Im Hinblick auf diese Umstände begegnet schon die vom Oberlandesgericht ohne weiteres angenommene Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts der Union Zweifeln. Es fehlen Feststellungen dazu, ob das Vertriebssystem des Presse-Grosso zu einer spürbaren Handelsbeeinträchtigung zwischen Mitgliedstaaten führt41. Jedenfalls ist ausgeschlossen, dass einer im Übrigen zulässigen Anwendung des Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV eine geringfügige Beeinträchtigung des Handels entgegenstehen könnte, wie sie im vorliegenden Fall allenfalls in Rede stehen kann.

Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst42. Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung von Art. 106 Abs. 2 AEUV, die nicht bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt oder zweifelsfrei zu beantworten ist.

Unter Berücksichtigung des Spielraums der Mitgliedstaaten bei der Definition und Ausgestaltung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sowie der Rechtsprechung der Unionsgerichte zu den Anforderungen an eine Betrauung und die Verhinderung der Aufgabenerfüllung bestehen an der richtigen Anwendung des Unionsrechts im vorliegenden Fall keine vernünftigen Zweifel.

Auch eine Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union besteht nicht. Eine Betrauung der hier vorliegenden Art mit Leistungen des flächendeckenden und nichtdiskriminierenden Pressevertriebs ist in der Union bisher einmalig.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf10 erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 561 ZPO). Die Anwendung von § 1 GWB ist nach § 30 Abs. 2a Satz 1 GWB ausgeschlossen. Der von der Zeitschriftenverlegerin im Wege einer Hilfsbegründung geltend gemachte Anspruch aus § 21 Abs. 2 GWB kommt als Grundlage für das Klagebegehren nicht in Betracht. Es ist nicht festgestellt, dass der Branchenverband Druck ausgeübt hat, um Grossisten zu einem nach § 21 Abs. 2 GWB verbotenen Verhalten zu veranlassen. Eine andere Anspruchsgrundlage für den Unterlassungsantrag der Zeitschriftenverlegerin ist nicht ersichtlich. Der Bundesgerichtshof hat daher in der Sache selbst zu entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Klage ist abzuweisen.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. Oktober 2015 – KZR 17/14

  1. EuG, Urteil vom 12.02.2008 – T289/03, Slg. 2008, II81 Rn. 165 f. – BUPA; Urteil vom 15.06.2005 – T17/02, Slg. 2005, II2031 Rn. 216 – Olsen; Mitteilung der Kommission zu den Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl.2001 C 17/4 Rn. 22; Mestmäcker/Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl., Art. 106 Abs. 2 AEUV Rn. 84[]
  2. vgl. Stadler in Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht, 12. Aufl., Art. 106 AEUV Rn. 48[]
  3. vgl. Mitteilung der Kommission zu den Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, aaO Anhang II; Mestmäcker/Schweitzer in Immenga/Mestmäcker aaO Art. 106 Abs. 2 AEUV Rn. 85; Wernicke in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand März 2011, Art. 106 AEUV Rn. 38; Bahr in Langen/Bunte, Kartellrecht, 12. Aufl., § 30 GWB Rn. 130[]
  4. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zum Regierungsentwurf zur 8. GWB-Novelle, BT-Drs. 17/11053 S. 18[]
  5. Bahr in Langen/Bunte, aaO § 30 Rn. 130; MünchKomm-WettbR-Bremer/Hackl, 2. Aufl., § 30 GWB Rn. 109; wohl auch Emmerich in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl., § 30 GWB Rn. 166; aA Paschke, AfP 2012, 501, 503 f.[]
  6. aA Keßler, WRP 2013, 1116, 1119[]
  7. vgl. Paschke, AfP 2012, 501, 503 f.[]
  8. vgl. BT-Drs. 17/11053 S. 18[]
  9. BT-Drs. aaO[]
  10. OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.02.2014 – VI-U (Kart) 7/12[][]
  11. EuGH, Urteil vom 11.04.1989 – 66/86, Slg. 1989, 803 Rn. 55 – Ahmed Saeed Flugreisen; EuG, Slg. 2008, II81 Rn. 181 – BUPA; Stadler in Langen/Bunte aaO Art. 106 AEUV Rn. 54[]
  12. Mestmäcker/Schweitzer in Immenga/Mestmäcker aaO Art. 106 Abs. 2 AEUV Rn. 53[]
  13. EuG, Slg. 2008, II81 Rn. 188 – BUPA[]
  14. vgl. EuGH, Urteil vom 20.02.2001 C205/99, Slg. 2001, I1271 Rn. 64 – Analir; EuG, Slg. 2005, II2031 Rn. 189 Olsen[]
  15. vgl. EuG, Slg. 2005, II2031 Rn. 188 Olsen[]
  16. vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.1983 – 7/82, Slg. 1983, 483 Rn. 29 ff. – GVL[]
  17. Ulmer/Guggenberger, AfP 2014, 303, 306 f.; Haus, WuW 2014, 830, 836; wohl auch BeckOK-Hennemann, Stand 1.02.2015, § 30 GWB Rn. 32; Emmerich in Immenga/Mestmäcker aaO § 30 GWB Rn. 166; zweifelnd Bahr in Langen/Bunte aaO § 30 GWB Rn. 131; aA Thoma in Berg/Mäsch, Deutsches und Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl., § 30 GWB Rn. 39 und wohl auch MünchKomm-WettbR-Bremer/Hackl aaO § 30 GWB Rn. 111[]
  18. vgl. BT-Drs. 17/11053, S. 18[][]
  19. vgl. EuG, Slg. 2008, II81 Rn. 188 – BUPA[]
  20. vgl. EuGH, Slg. 1983, 483 Rn. 31 f. – GVL[]
  21. vgl. Wernicke in Grabitz/Hilf/Nettesheim aaO Art. 106 Rn. 74; MünchKomm-EUWettbR-Gundel aaO Art. 106 Rn. 94[]
  22. so noch EuGH, Urteil vom 30.04.1974 – 155/73, Slg. 1974, 409 Rn. 15 – Sacchi; Urteil vom 03.10.1985 – 311/84, Slg. 1985, 3261 Rn.17 – CBEM[]
  23. vgl. EuGH, Urteil vom 23.10.1997 – C159/94, Slg. 1997, I5815 Rn. 95 – Kommission/Frankreich; Urteil vom 21.09.1999 – C67/96, Slg. 1999, I5863 Rn. 107 Albany; Urteil vom 03.03.2011 – C437/09, Slg. 2011, I973 Rn. 76 – AG2R Prévoyance; EuG, Urteil vom 01.07.2010 – T568/08 und T573/08, Slg. 2010 II3397 Rn. 138 – Métropole télévision[]
  24. vgl. Kommission, Mitteilung zu den Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl.2001 Nr. C 17/04 Rn. 23[]
  25. zur Absenkung der Darlegungslast des Mitgliedstaats bei komplexen Bewertungen vgl. auch EuGH, Slg. 1999, I5863 Rn. 120 – Albany[]
  26. BKartA, Fallbericht vom 19.12 2011 – B 639/11, S. 4[]
  27. vgl. EuG, Slg. 2008, II81 Rn. 220222 und 266 bis 268 – BUPA[]
  28. EuGH, Urteil vom 08.09.2010 C316/07 u.a., Slg. 2010, I8069 Rn. 79 ff. – Stoss u.a.[]
  29. EuG, Urteil vom 27.02.1997 T106/95, Slg. 1997, II229 Rn. 108 – FFSA; Slg. 2010, II3397 Rn. 139 Métropole télévision[]
  30. EuGH, Urteil vom 14.07.1983 – 174/82, Slg. 1983, 2445 Rn. 18 f. Sandoz[]
  31. vgl. von Dannwitz in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/I, S. 73, 87; Edward/Hoskins, CML 1995, 157, 170 ff.; MünchKomm-EUWettbR-Gundel aaO Art. 106 AEUV Rn. 97 f.; Haus, WuW 2014, 830, 837[]
  32. vgl. Kühling, ZUM 2013, 18, 24 f.; aA Emmerich in Immenga/Mestmäcker aaO § 30 GWB Rn. 166; offen Bahr in Langen/Bunte aaO § 30 GWB Rn. 132[]
  33. vgl. EuGH, Urteil vom 19.05.1993 – C320/91, Slg. 1993, I2533 Rn. 15 – Corbeau[]
  34. BKartA, Fallbericht aaO S. 4[]
  35. BVerfGE 77, 346, 355[]
  36. zum Beitrag des Presse-Grosso für den Marktzutritt kleinerer Verlage vgl. auch Monopolkommission, 9. Hauptgutachten, BT-Drs. 12/3031, S. 318[]
  37. BT-Drs. 17/11053, S. 18, sowie Wortprotokoll des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur öffentlichen Anhörung zur 8. GWB-Novelle, Protokoll Nr. 17/74, S. 18 ff.[]
  38. BGH, Beschluss vom 22.07.1999 KVR 12/98, BGHZ 142, 239, 247 f. – Flugpreisspaltung[]
  39. verneinend EuGH, Urteil vom 23.10.1997 – C157/94, Slg. 1997, I5699 Rn. 58 – Stromhandelsmonopol; EuG, Slg. 2008, II81 Rn. 268 BUPA; von Dannwitz aaO S. 87 f.; Edward/Hoskins, CML 1995, 157, 170 ff.; so in Verfahren, in denen – wie im Streitfall – neben dem Zeitschriftenverleger nur das betraute Unternehmen beteiligt war, auch EuGH, Urteil vom 19.05.1993 – C320/91, Slg. 1993, I2563 Rn. 16 ff. – Corbeau; Urteil vom 27.04.1994 – C393/92, Slg. 1994, I1477 Rn. 49 f. – Almelo; Urteil vom 18.06.1998 – C266/96, Slg. 1998, I3949 Rn. 44 f. – Corsica Ferries II; Slg. 2011, I973 Rn. 77 ff. – AG2R Prévoyance; dazu Mestmäcker/Schweitzer in Immenga/Mestmäcker aaO Art. 106 Abs. 2 AEUV Rn. 110; abweichend EuGH, Urteil vom 25.06.1998 C203/96, Slg. 1998, I4075 Rn. 67 – Dusseldorp[]
  40. zum Meinungsstand vgl. MünchKomm-EUWettbR-Gundel aaO Art. 106 AEUV Rn. 99[]
  41. vgl. EuGH, Urteil vom 16.06.1981 – 126/80, Slg. 1981, 1563 Rn. 17 – Salonia[]
  42. vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982 – 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 21 – C.I.L.F.I.T.[]
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Marktmacht im Telekommunikationsmarkt

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