Unverzüglichkeit der Verzögerungsrüge

Unverzüglich“ in Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 ist in Anlehnung an § 121 BGB zu verstehen mit der Folge, dass die Frage der Unverzüglichkeit in Abhängigkeit von einem zurechenbaren Verschulden zu sehen ist.

Unverzüglichkeit der Verzögerungsrüge

Eine im Ausgangsverfahren nicht anwaltlich vertretene Partei kann hinsichtlich der Unverzüglichkeit der Erhebung einer Verzögerungsrüge einem entschuldbaren Rechtsirrtum unterliegen mit der Folge, dass sie auch noch Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine Verzögerungsrüge erheben kann1.

Nach § 198 Abs. 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt, wobei sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritten richtet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG. Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, § 198 Abs. 2 S. 2 GVG. Eine zu leistende Entschädigung beträgt 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung, wenn das Gericht nicht im Einzelfall einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzt, § 198 Abs. 2 S. 3, 4 GVG. Eine Entschädigung setzt gemäß § 198 Abs. 3 GVG weiterhin grundsätzlich eine Verzögerungsrüge voraus.

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Art. 23 des Gesetzes vom 24.11.2011 über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.20112 steht im Streitfall dem geltend gemachten Entschädigungsanspruch nicht entgegen. Es heißt dort zwar, dass für anhängige Verfahren, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes schon verzögert sind, § 198 Abs. 3 GVG mit der Maßgabe gilt, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten (Art. 24 des Gesetzes) erhoben werden muss; dies dient ersichtlich zur Vermeidung eines „dulde und liquidiere“. Der üblichen Auslegung dieser Anforderung hat der Kläger nicht entsprochen.

Das Oberlandesgericht Celle bleibt bei seiner Auffassung, wonach der Anspruch des Klägers aber daran nicht scheitert, dies schon deswegen, weil „unverzüglich“ in Art. 23 des Gesetzes vom 24.11.2011 in Anlehnung an § 121 BGB zu verstehen ist3. Die Frage der Unverzüglichkeit ist danach in Abhängigkeit von einem zurechenbaren Verschulden zu sehen4.

Das Oberlandesgericht geht nach wie vor davon aus, dass der Kläger einem entschuldbaren Rechtsirrtum unterlag. Der Kläger war im Verfahren vor dem Amtsgericht Rinteln bereits lange vor dem Jahr 2006 anwaltlich nicht mehr vertreten. Man mag zwar die Ansicht vertreten, dass zum Jahreswechsel 2011/2012 in den allgemein zugänglichen Medien über das neue Gesetz zur Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer berichtet wurde. Dafür, dies auch für die (Rand- und Detail-)Frage einer unverzüglich zu erhebenden Verzögerungsrüge nach den Überleitungsvorschriften anzunehmen, sieht das Oberlandesgericht aber keine Grundlage.

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Seine Rechtsunkenntnis dem Kläger zum Vorwurf zu machen und damit seinen Anspruch wegen des jahrelangen Nichtbetreibens des Rechtsstreits vor dem AG Rinteln zu vereiteln, ist das Oberlandesgericht auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert.

Das Grundgesetz gewährleistet durch Art. 2 Abs. 1 GG i. V .m. dem Rechtsstaatsprinzip, Art.20 Abs. 3 GG, den Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf notwendigerweise einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. In dieser kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Hierzu gehören Form- und Fristerfordernisse, durch die einer unangemessenen Dauer des Verfahrens entgegengewirkt wird. Die insoweit notwendigen Regelungen müssen jedoch, was ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten und in Bezug auf ihre Auswirkung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dabei gibt zwar das Rechtsstaatsprinzip nicht im Einzelnen vor, wie der Widerstreit zwischen dem Interesse an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung einerseits und dem subjektiven Interesse des Rechtsuchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz andererseits zu lösen ist. Es ist Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Verfahrens die einander widerstreitenden Gesichtspunkte abzuwägen und für die einzelnen Abschnitte des gerichtlichen Verfahrens zu entscheiden, welchem von ihnen jeweils der Vorzug zu geben ist. Er muss dabei allerdings, wie ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten und in Bezug auf die Auswirkung der Regelung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten5.

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Soweit die Anwendung findenden Verfahrensregeln einen Auslegungsspielraum lassen, darf ein Gericht diese nicht in einem Sinne auslegen, der zu einem Widerspruch mit den Prinzipien des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz führen würde6; der Zugang zu den Gerichten darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Die Auslegung hat überdies die Anforderungen der EMRK, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, zu berücksichtigen und ihnen Rechnung zu tragen; die innerstaatlichen Gerichte haben bei ihrer Entscheidung über Entschädigungsansprüche die Konventionskriterien und deren Auslegung durch den EGMR zu berücksichtigen7.

Bei der Abwägung von möglichst wirkungsvollem Rechtsschutz einerseits und Rechtssicherheit andererseits bei gleichzeitiger Würdigung insbesondere von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt vorliegend besonders ins Gewicht, dass es bei der in Rede stehenden gesetzlichen Regelung zur Entschädigung bei überlangen Verfahren doch gerade darum geht, Verzögerungen und Untätigkeit seitens der Gerichte zu sanktionieren. Diese Sanktion kann aber schwerlich deshalb in Wegfall geraten, weil derjenige, den das Gesetz schützen will, die ihn treffenden Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat und dazu mangels rechtskundiger Beratung und Vertretung auch gar nicht in der Lage war. Gerade in dem vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht auch die Relation zwischen der über Jahre andauernden offenbar vorsätzlichen Untätigkeit des zuständigen Richters und der bestenfalls fahrlässigen Unkenntnis des Klägers von Art. 23 des Gesetzes vom 24.11.2011 zu berücksichtigen.

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In seiner Haltung sieht sich das Oberlandesgericht – im Sinne eines „erst-recht-Schlusses“ – durch das Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess vom 05.12 2012 bestätigt. Danach (§ 232 ZPO n. F.) hat eine Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber einer nicht anwaltlich vertretenen Partei zu erfolgen, dies ungeachtet des Umstands, dass diese vom Gesetzgeber nun besonders geschützte Naturalpartei – anders als vorliegend der Kläger – aufgrund der bereits durchgeführten Instanz allen Anlass hätte, sich über den Bestand von Fristen zu erkundigen. Einen vergleichbaren Anlass hatte der Kläger nicht.

Auf frühere „Verzögerungsrügen“ kann es ohnehin nicht ankommen8.

Das Urteil des OLG Bremen vom 04.07.20139 steht der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht entgegen. Nach Ansicht des OLG Bremen ist jedenfalls eine sieben Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erhobene Verzögerungsrüge nicht mehr als unverzüglich anzusehen. Das Urteil betrifft einen Sachverhalt, der in einem entscheidenden Punkt von dem hier zur Beurteilung anstehenden abweicht; die dortige Klägerin war, wie das OLG Bremen auch herausstellt10 im Ausgangsverfahren anwaltlich vertreten.

Nichts anderes gilt für das Urteil des OLG Bremen vom 20.02.201311.

Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 20. November 2013 – 23 SchH 3/13

  1. Abgrenzung zu OLG Bremen, Urteil vom 04.07.2013, NJW 2013, 3109; und vom 20.02.2013, NJW 2013, 2209[]
  2. BGBl. I S. 2302[]
  3. so letztlich auch BT-Drs. 17/3802, S. 31 re. Sp.[]
  4. s. a. Palandt-Ellenberger, BGB, 72. Aufl., Rdnr. 3 zu § 121[]
  5. vgl. BVerfG, NJW 1995, 3173[]
  6. BVerfG, NJW 1993, 1635[]
  7. vgl. EGMR, NVwZ 2013, 47, Rdnr. 39 bei juris[]
  8. s. BVerfG, NJW 2008, 503, wonach eine gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht genügt und eine Partei daher nicht gehalten ist, gegen die Untätigkeit des Gerichts zuvor mit einer Untätigkeitsbeschwerde vorzugehen; s. außerdem OLG Bremen, NJW 2013, 2209, zur Notwendigkeit, eine Rüge nach Inkrafttreten des Gesetzes zu erheben[]
  9. OLG Bremen, NJW 2013, 3109[]
  10. OLG Bremen, a. a. O., Rdnr. 21[]
  11. OLG Bremen, NJW 2013, 2209[]
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