Ist am finanzgerichtlichen Klageverfahren zwischen dem Zessionar und dem Anspruchsgegner der Zedent nicht beteiligt, liegt -auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 406 BGB – mangels Rechtskrafterstreckung keine Ermessensreduzierung auf null dahingehend vor, dass das Finanzgericht das Klageverfahren aussetzen müsste. Das Bestehen der rechtswegfremden Gegenforderung ist dann lediglich eine Vorfrage zur Aufrechnung und von der Entscheidungsbefugnis des Finanzgerichts gemäß § 17 Abs. 2 GVG umfasst.

Das Finanzamt ist derartigen Aufrechnungsfällen zum Erlass eines Abrechnungsbescheids berechtigt und verpflichtet.
Gemäß § 218 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AO ergeht unter anderem dann ein Abrechnungsbescheid, wenn die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) und ihr Erlöschen (§ 47 AO) durch Aufrechnung (§ 226 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB) streitig sind1. Dies gilt auch in sogenannten Bauträger-Fällen2.
Im hier entschiedenen Streitfall liegen diese Voraussetzungen vor; denn es ist zwischen den Beteiligten streitig, ob die unstreitig bestehenden Erstattungsansprüche der Zessionarin wegen Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag 2015 durch Aufrechnung mit zivilrechtlichen Ansprüchen der bauleistenden Unternehmer gegen die Zessionarin auf Nachzahlung von Umsatzsteuer, die diese an das Finanzamt abgetreten haben, erloschen sind. Eine Klärung der Wirksamkeit der Aufrechnung eines Finanzamtes erfolgt im Festsetzungsverfahren nicht3.
Die in ihrer Revisionsbegründungsschrift erhobene Verfahrensrüge der Zessionarin, das erstinstanzlich hiermit befasste Finanzgericht Münster4 habe das Verfahren zu Unrecht nicht nach § 74 FGO ausgesetzt, obwohl eine Ermessensreduzierung auf null vorliege, greift nicht durch. Ist am Klageverfahren zwischen dem Zessionar (hier: das Finanzamt) und dem Anspruchsgegner (hier: die Zessionarin) der Zedent (hier: die bauleistenden Unternehmer) nicht beteiligt, liegt keine Ermessensreduzierung auf null vor, da das Bestehen der rechtswegfremden Gegenforderung dann von der Entscheidungsbefugnis der Finanzgerichtsbarkeit gemäß § 17 Abs. 2 GVG umfasst ist.
Es trifft zwar zu, dass nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ein Finanzgericht in bestimmten Fällen verpflichtet ist, ein bei ihm anhängiges Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen (Ermessensreduzierung auf Null). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn im Falle der Aufrechnung die Gegenforderung -wie im Streitfall- nicht rechtskräftig festgestellt ist; und vom Anspruchsgegner bestritten wird. In einem solchen Fall darf das Gericht über das Bestehen der rechtswegfremden Gegenforderung grundsätzlich nicht entscheiden, sondern muss das Verfahren aussetzen, bis das zuständige Gericht über den Bestand der zur Aufrechnung gestellten; vom Anspruchsgegner bestrittenen zivilrechtlichen Forderung entschieden hat5. Ein Verstoß hiergegen ist ein Verfahrensfehler6.
Zu dieser Ermessensreduzierung auf null kommt es jedoch nicht ausnahmslos. Sie scheidet zum Beispiel in den Fällen aus, in denen ein Zessionar klagt und ihm gegenüber nach § 406 BGB mit einer Forderung gegen den Zedenten aufgerechnet wird. Insoweit kommt es nicht zu der Rechtskraftwirkung nach § 322 Abs. 2 ZPO für den Zedenten, da sich die Rechtskraft eines Urteils nur auf die Beteiligten des Verfahrens und ihre Rechtsnachfolger (§ 110 Abs. 1 FGO, § 325 Abs. 1 ZPO) erstreckt, nicht aber auf am Verfahren nicht beteiligte Dritte wie im Falle der Abtretung der Zedent als Rechtsvorgänger des an dem Prozess beteiligten Zessionars7. Ist danach am Klageverfahren zwischen dem Zessionar und dem Anspruchsgegner -wie hier- der Zedent nicht beteiligt, liegt -auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 406 BGB- mangels Rechtskrafterstreckung keine Ermessensreduzierung auf null vor. Das Bestehen der rechtswegfremden Gegenforderung ist in einem solchen Fall auch dann lediglich eine Vorfrage zur Aufrechnung und von der Entscheidungsbefugnis der Finanzgerichtsbarkeit gemäß § 17 Abs. 2 GVG umfasst8.
Das Finanzgericht hat das ihm zustehende Ermessen, ob es gemäß § 74 FGO aussetzt9, in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend ausgeübt, dass es nicht aussetzt. Die umfangreich vorhandene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu den zivilrechtlichen Fragen des Streitfalls und die bisher höchstrichterlich nicht geklärte umsatzsteuerrechtliche Frage, welche Bedeutung eine Organschaft insoweit hat, sprechen für die vom Finanzgericht präferierte Entscheidung auf dem Finanzrechtsweg.
Der Anspruch der Zessionarin auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art.19 Abs. 4 GG) wird durch die Entscheidung des Finanzgerichts über die rechtswegfremden Vorfragen nicht verfassungswidrig eingeschränkt10; denn gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Dies bedeutet nach allgemeinem Verständnis, dass es auch rechtswegfremde, entscheidungserhebliche Vorfragen prüft und über sie entscheidet11. Das Bestehen der abgetretenen Gegenforderung und die zivilrechtlichen Einwendungen der Zessionarin werden entweder -wie im Streitfall wegen der Nichtaussetzung gemäß § 74 FGO- als Vorfragen in vollem Umfang von den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit oder -im Falle der Aussetzung unter Verweis auf den Zivilrechtsweg (§ 74 FGO)- von den ordentlichen Gerichten geprüft.
Tatsachen, die bei der Zessionarin die Sorge begründen könnten, die zivilrechtlichen Vorfragen wären auf dem Finanzrechtsweg nicht in verfassungsrechtlich hinreichender Weise geprüft worden, sind nicht ersichtlich. Das Gegenteil zeigt sich im Streitfall unter anderem daran, dass umfangreiche Rechtsprechung des BGH zum Bestand und Inhalt der zivilrechtlichen Gegenforderung vorhanden ist, auf die das Finanzgericht zurückgegriffen hat und der es in vollem Umfang gefolgt ist.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 24. Mai 2023 – XI R 45/20
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 19.03.2019 – VII R 27/17, BFHE 263, 483, BStBl II 2020, 31, Rz 14; vom 18.02.2020 – VII R 39/18, BFHE 268, 391, BStBl II 2023, 224, Rz 22[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 22.08.2019 – V R 21/18, BFHE 266, 10, BStBl II 2020, 35, Rz 24[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 23.01.2019 – XI R 21/17, BFHE 264, 60, BStBl II 2019, 354, Rz 26[↩]
- FG Münster, Urteil vom 17.06.2020 – 15 K 3839/17 AO, EFG 2020, 1288[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 09.04.2002 – VII B 73/01, BFHE 198, 55, BStBl II 2002, 509, unter II. 1.; vom 01.12.2004 – VII B 245/04, BFH/NV 2005, 711; vom 19.02.2007 – VII B 253/06, BFH/NV 2007, 968; BFH, Urteil vom 31.05.2005 – VII R 56/04, BFH/NV 2005, 1759[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 09.04.2002 – VII B 73/01, BFHE 198, 55, BStBl II 2002, 509, unter II. 1. und II. 2.[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 06.08.1985 – VII B 3/85, BFHE 144, 207, BStBl II 1985, 672, unter I. 3.d; vom 01.12.1992 – VII B 229/91, BFH/NV 1994, 479, unter II. a.E.; vom 25.11.1997 – VII B 146/97, BFHE 184, 242, BStBl II 1998, 200, unter 2.b; BFH, Urteile vom 23.02.1988 – VII R 52/85, BFHE 152, 317, BStBl II 1988, 500, unter 4.; vom 01.08.2017 – VII R 12/16, BFHE 259, 207, BStBl II 2018, 737, Rz 15: Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 74 FGO Rz 74[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 259, 207, BStBl II 2018, 737, Rz 16[↩]
- vgl. BFH, Beschluss in BFHE 144, 207, BStBl II 1985, 672; BFH, Urteil in BFHE 259, 207, BStBl II 2018, 737, Rz 19[↩]
- vgl. allgemein BVerfrG, Beschluss vom 14.02.2016 – 1 BvR 3514/14, NVwZ-RR 2016, 361, Rz 7[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.07.2010 – 1 BvR 1634/04, NVwZ 2010, 1482, Rz 51[↩]