Europäischer Haftbefehl – und die Verfassungsbeschwerde

Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) ist vollständig unionsrechtlich determiniert1. Das gilt auch für fakultative Bewilligungshindernisse, die in Art. 4 RbEuHb abschließend geregelt sind. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich2.

Europäischer Haftbefehl – und die Verfassungsbeschwerde

Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist daher die Kontrolle der Entscheidung eines Fachgerichts daraufhin, ob es bei der ihm obliegenden Anwendung des Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Grundrechtecharta der Europäischen Union Genüge getan hat3.

Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet den Grundrechtsschutz in enger Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Union4, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten5. Die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen am Maßstab der in der Charta gewährleisteten Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Gerichtshof der Europäischen Union deren Auslegung bereits geklärt hat oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze aus sich heraus offenkundig sind – etwa auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die im Einzelfall auch den Inhalt der Charta bestimmt (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), oder unter Heranziehung der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte zu Grundrechten, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und den in der Charta gewährleisteten Grundrechten entsprechen (vgl. Art. 52 Abs. 4 GRCh). Andernfalls müssen Fragen zur Auslegung der Rechte der Charta dem Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgelegt werden6.

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Im europäischen Rechtshilfeverkehr gelten die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und – darauf beruhend – der gegenseitigen Anerkennung. Bei einem Überstellungsersuchen ist jedem ersuchenden Mitgliedstaat deshalb im Hinblick auf die Einhaltung des Unionsrechts7 sowie auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes8 grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen.

Nach Art. 47 Abs. 1 GRCh hat jede Person, deren durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Um die Wahrung dieses Grundrechts in der Union zu gewährleisten, verpflichtet Art.19 Abs. 1 UAbs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist9.

Dieses Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wird bezogen auf das europäische Überstellungsverfahren im Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl bekräftigt, indem der gesuchten Person nach Art. 11 Abs. 2 RbEuHb für das Verfahren ein Anspruch auf einen Rechtsbeistand zugestanden wird und gemäß Art. 15 Abs. 1 RbEuHb die den Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde nach Vernehmung der gesuchten Person über die Überstellung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses zu entscheiden hat. Sind die übermittelten Informationen für diese Zulässigkeitsentscheidung nicht ausreichend, hat die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb die notwendigen zusätzlichen Informationen anzufordern.

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Die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die auch dem System des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegen, beruhen auf der Prämisse, dass der betreffende Europäische Haftbefehl im Einklang mit den Mindesterfordernissen ausgestellt wurde, von denen seine Gültigkeit abhängt10. Wird der gesuchten Person eine in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb abschließend aufgelistete Straftat vorgeworfen, entfällt bei der Zulässigkeitsentscheidung der vollstreckenden Justizbehörde die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. Februar 2023 – 2 BvR 2009/22

  1. vgl. BVerfGE 156, 182 <197 Rn. 35 m.w.N.> – Rumänien II[]
  2. vgl. BVerfGE 152, 216 <233 ff. Rn. 42 ff.> – Recht auf Vergessen II; 156, 182 <197 Rn. 36>[]
  3. vgl. BVerfGE 152, 216 <236 Rn. 50 und 237 Rn. 52> 156, 182 <197 Rn. 36>[]
  4. vgl. BVerfGE 152, 216 <243 f. Rn. 68>[]
  5. vgl. BVerfGE 156, 182 <198 Rn. 38>[]
  6. vgl. BVerfGE 152, 216 <244 Rn. 70> 156, 182 <199 Rn. 39>[]
  7. vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2018, Minister for Justice and Equality <Mängel des Justizsystems>, – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586, Rn. 36; Urteil vom 15.10.2019, Dorobantu, – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857, Rn. 46[]
  8. vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.> 109, 38 <61> 140, 317 <349 Rn. 68>[]
  9. vgl. EuGH, Urteil vom 08.05.2019, Martin Leitner gegen Landespolizeidirektion Tirol, – C-396/17, ECLI:EU:C:2019:375, Rn. 59 f.[]
  10. vgl. EuGH, Urteil vom 01.06.2016, Bob Dogi, – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385, Rn. 53[]
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