Eine während einer Dienstfahrt begangene Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB (hier: Missachtung der Vorfahrt) kann grundsätzlich geeignet sein, einen wichtigen Grund zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung darzustellen. Dies gilt nicht nur für Kraftfahrer, sondern auch für Arbeitnehmer, die ihre Haupttätigkeit nicht ohne Firmenfahrzeug ausüben können (hier: ambulanter Pflegedienst).

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die rechtliche Überprüfung nach § 626 Abs. 1 BGB erfolgt in zwei Stufen: Zum einen muss ein Grund vorliegen, der – ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles – überhaupt an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Zum anderen muss dieser Grund im Rahmen der Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips, zum Überwiegen der berechtigten Interessen des Kündigenden an der fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen1.
Hieran gemessen war die fristlose Kündigung im hier vom Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein entschiedenen Fall unverhältnismäßig:
Die Arbeitgeberin wirft der Arbeitnehmerin vor, sich während einer dienstlich veranlassten Fahrt zu einem Patienten mit dem Dienstfahrzeug grob verkehrswidrig verhalten zu haben. Sie sei mit überhöhter Geschwindigkeit und ohne zu blinken abgebogen und habe hierdurch einem entgegenkommenden anderen Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt genommen. Hierdurch habe sie sich im Rahmen einer Dienstfahrt einer Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Ziff. 2a)) StGB schuldig gemacht.
Wenn der Arbeitnehmer im Rahmen der Ausübung seiner vertraglich geschuldeten Arbeit mit dem Dienstfahrzeug des Arbeitgebers eine Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Ziff. 2a)) StGB begeht, ist dies im oben genannten Sinne an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung darzustellen. Denn wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos die Vorfahrt nicht beachtet und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, begeht nicht nur eine Ordnungswidrigkeit, sondern macht sich strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, § 315c Abs. 1 Ziff. 2a)) StGB. Bei einem derartigen verkehrswidrigen Verhalten gefährdet der Arbeitnehmer nicht nur Leib und Leben und Eigentum des anderen Verkehrsteilnehmers, sondern auch das Eigentum des Arbeitgebers, das Dienstfahrzeug. Dies gilt nicht nur für Kraftfahrer, deren Hauptleistungspflicht in dem Führen des Kraftfahrzeugs liegt, sondern auch dann, wenn das Führen des Kraftfahrzeugs eine wesentliche Verpflichtung aus dem Arbeitsvertrag darstellt, weil die Haupttätigkeit ohne Firmenfahrzeug nicht ausgeübt werden kann2. Ein Arbeitnehmer, der Dienstfahrten mit einem Dienstfahrzeug verrichtet, muss sich selbstverständlich im Straßenverkehr an die Straßenverkehrsordnung halten. Dies schuldet er nicht nur der Rechtsordnung und Allgemeinheit, sondern – als vertragliche Nebenpflicht – auch dem Arbeitgeber.
Jedenfalls scheitert die außerordentliche Kündigung an der erforderlichen Interessenabwägung.
Die der Arbeitnehmerin zur Last gelegte Pflichtverletzung zählt eindeutig zum Leistungsbereich (schlechte bzw. verkehrswidrige Dienstfahrt) und nicht um eine strafbare Handlung, die sich explizit gegen die Arbeitgeberin als Arbeitgeberin richtet (Diebstahl, Unterschlagung, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Beleidigung). Schlechtleistungen können indessen, sofern sie nicht bereits den Grad einer beharrlichen Arbeitsverweigerung angenommen haben, in aller Regel keinen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen, sondern allenfalls eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen. Die Arbeitgeberin verkennt insoweit, dass die fristlose Kündigung immer nur das letzte Mittel sein kann, um auf Pflichtverletzungen eines Arbeitnehmers zu reagieren. Der Regelfall muss bei Schlechtleistung die ordentliche Kündigung sein. Die Arbeitgeberin hat auch keine Umstände dargetan, warum es ihr ausnahmsweise unzumutbar gewesen sein soll, die Arbeitnehmerin noch gut einen Monat bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist der zuvor von der Arbeitnehmerin ausgesprochenen Eigenkündigung weiter zu beschäftigen.
Zudem verkennt die Arbeitgeberin, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Ausspruch einer fristlosen Kündigung stets das letzte Mittel sein muss, um auf eine Vertragsverletzung zu reagieren. Beruht die Vertragspflichtverletzung zudem auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann3. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 BGB i. V. m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit auch für den Arbeitnehmer erkennbar offensichtlich ausgeschlossen ist4. Auch im Falle einer verhaltensbedingten fristlosen oder ordentlichen Kündigung gilt der im Kündigungsrecht geltende Grundsatz einer negativen Prognose. Eine Kündigung ist nicht Strafe für begangene Vertragsverletzungen, sondern nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber auch künftig mit gleichgearteten Vertragsverletzungen rechnen muss und ihm deshalb nicht zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer fortzusetzen. Dies zugrunde gelegt hätte die Arbeitgeberin vor Ausspruch der Kündigung die Arbeitnehmerin zunächst wegen verkehrswidrigem Verhalten abmahnen müssen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der streitige Vorfall unstreitig folgenlos blieb. Der behauptete Vorfahrtsverstoß führte weder zu einem Verkehrsunfall noch zu einem Ermittlungsverfahren, in welchem die Arbeitgeberin als Fahrzeughalterin involviert gewesen wäre, noch zu einem Fahrverbot oder Führerscheinentzug zulasten der Arbeitnehmerin noch zu einem Sachschaden am Dienstfahrzeug der Arbeitgeberin. Die Arbeitgeberin hat auch nicht dargelegt, dass ihr aufgrund des (bestrittenen) rücksichtslosen Verhaltens der Arbeitnehmerin bereits ein wie auch immer gearteter Imageschaden entstanden ist.
Einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen H. bedurfte es mithin nicht. Vielmehr kann der strittige Vorfall vom 09.01.2014 als wahr unterstellt werden. Die Arbeitgeberin hätte die Arbeitnehmerin wegen dieser (bestrittenen) Verletzung vertraglicher Nebenpflichten, die für die Arbeitgeberin sowohl in finanzieller als auch in personeller Hinsicht folgenlos blieb, bereits grundsätzlich nicht fristlos kündigen können. Zudem hätte die Arbeitgeberin die Arbeitnehmerin vor Ausspruch einer fristlosen oder ordentlichen Kündigung zunächst abmahnen müssen.
Wenn der – als wahr unterstellte – Vorfall vom 09.01.2015 bereits keinen wichtigen Grund zum Ausspruch einer fristlosen Tatkündigung darzustellen vermag, gilt dies erst Recht für den Ausspruch einer dahingehenden Verdachtskündigung.
Dementsprechend endete das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der fristlosen Kündigung der Arbeitgeberin, sondern erst durch die zuvor erklärte ordentliche Eigenkündigung der Arbeitnehmerin.
Landesarbeitsgericht Schleswig -Holstein, Urteil vom 6. Oktober 2015 – 5 Sa 176/15
- LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.07.2014 – 5 Sa 27/14, Rn.20[↩]
- vgl. BAG, Urteil vom 14.02.1991 – 2 AZR 525/90, Rn. 18[↩]
- BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09[↩]
- BAG, Urteil vom 09.06.2011 – 2 AZR 284/10; BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09; LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.06.2013 – 5 Sa 31/13[↩]
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