Nach Ansicht von der Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union verstößt die niederländische Regelung, wonach Finanzmittel für ein Auslandsstudium Studierenden vorbehalten sind, die sich während drei der vorangegangenen sechs Jahre in den Niederlanden aufgehalten haben, gegen EU-Recht über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Die Regelung könnte zwar grundsätzlich durch ihren gesellschaftlichen Zweck gerechtfertigt sein, doch haben die Niederlande nach Auffassung der Generalanwältin nicht nachgewiesen, dass das Wohnsitzerfordernis ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks ist.

Das niederländische Recht über die Finanzierung von Hochschulstudien legt fest, wer Finanzmittel für ein Studium in den Niederlanden und im Ausland erhalten kann. Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen kommen unabhängig von ihrem Wohnsitz für Finanzmittel für ein Studium in den Niederlanden in Betracht. Um Finanzmittel für eine Hochschulausbildung außerhalb der Niederlande – „MNSF“ – zu erhalten, muss sich der Studierende mindestens drei der letzten sechs Jahre vor der Aufnahme des Auslandsstudiums rechtmäßig in den Niederlanden aufgehalten haben. Dieses Erfordernis gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Studierenden.
In einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Niederlande beantragt die Kommission die Feststellung, dass die Niederlande dadurch gegen EU-Recht verstoßen haben, dass sie mit diesem Wohnsitzerfordernis Wanderarbeitnehmer, insbesondere Grenzarbeitnehmer und deren unterhaltsberechtigte Familienangehörige, mittelbar diskriminieren.
Für Generalanwältin Eleanor Sharpston ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern in Bezug auf soziale Vergünstigungen (Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft1) für Angehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, und ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörigen gilt. Zu diesem Personenkreis gehören Grenzarbeitnehmer, die begriffsnotwendig nicht in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem sie arbeiten. Auch für sie und ihre Familien gilt das Recht auf Gleichbehandlung.
Die Generalanwältin widerspricht dem Vorbringen der Niederlande, dass sich Arbeitnehmer, die in den Niederlanden arbeiteten, aber außerhalb der Niederlande wohnten, nicht in einer Situation befänden, die mit der niederländischer Arbeitnehmer und in den Niederlanden wohnhafter Wanderarbeitnehmer vergleichbar sei, und es folglich einen objektiven Unterschied zwischen diesen beiden Personengruppen gebe, der das Wohnsitzerfordernis rechtfertige. Die Niederlande gewähren den Kindern von Wanderarbeitnehmern Finanzmittel für ein Studium in den Niederlanden. Damit haben die Niederlande implizit anerkannt, dass zumindest einige Kinder von Wanderarbeitnehmern geneigt sein könnten, in den Niederlanden zu studieren, und dass sie für diese Studien Finanzmittel erhalten sollten. Wenn dies zutrifft, kann nicht mehr damit argumentiert werden, dass der Wohnort gleichsam automatisch dafür entscheidend ist, an welchem Ort der Wanderarbeitnehmer oder sein Kind studieren wird. Demnach kann der Wohnort nicht als objektives Unterscheidungsmerkmal für eine Ungleichbehandlung herangezogen werden.
Nach Ansicht der Generalanwältin werden Wanderarbeitnehmer durch das Wohnsitzerfordernis mittelbar diskriminiert. Ein Erfordernis, das an einen früheren, derzeitigen oder zukünftigen Wohnsitz anknüpft (insbesondere wenn der Wohnsitz eine bestimmte Zeit lang bestanden haben muss), ist naturgemäß weniger geeignet, Arbeitnehmer, die Angehörige des Mitgliedstaats sind, der dieses Erfordernis erlässt, zu beeinträchtigen als Wanderarbeitnehmer, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Eine solche Bedingung unterscheidet nämlich immer zwischen Arbeitnehmern, die nicht umzuziehen brauchen, um sie zu erfüllen, und Arbeitnehmern, die hierzu umziehen müssen. Bei den erstgenannten Arbeitnehmern wird es sich in der Regel, wenn auch vielleicht nicht in allen Fällen, eher um Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats handeln. Niederländische Arbeitnehmer sind nach Auffassung der Generalanwältin eher in der Lage, die Drei-von-sechs-Jahren-Regel zu erfüllen als in den Niederlanden wohnende Wanderarbeitnehmer, und folglich stellt das Wohnsitzerfordernis eine mittelbare Diskriminierung dar.
Die Niederlande haben versucht, das diskriminierende Wohnsitzerfordernis durch einen wirtschaftlichen und einen gesellschaftlichen Zweck zu rechtfertigen.
Nach Ansicht von Generalanwältin Sharpston können sich die Niederlande zur Rechtfertigung einer diskriminierenden Behandlung von Wanderarbeitnehmern und ihren unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nicht auf finanzielle Bedenken berufen. Sofern die Mitgliedstaaten eine soziale Vergünstigung für ihre eigenen Arbeitnehmer bereitstellen, müssen sie diese Vergünstigung zu gleichen Bedingungen auch Wanderarbeitnehmern gewähren. Beschränkungen, die gegebenenfalls aus finanziellen Gründen bestehen, müssen in gleicher Weise sowohl für inländische Arbeitnehmer als auch für Wanderarbeitnehmer gelten. Die Niederlande können die Drei-von-sechs-Jahren-Regel demnach nicht aus wirtschaftlichen Gründen rechtfertigen.
Die Generalanwältin räumt jedoch ein, dass es ein legitimer gesellschaftlicher Zweck ist, eine erhöhte Mobilität der Studierenden aus den Niederlanden in andere Mitgliedstaaten anzustreben und Studierende anzusprechen, bei denen es wahrscheinlich ist, dass sie mit ihren im Ausland gewonnenen Erfahrungen die niederländische Gesellschaft und (möglicherweise) den niederländischen Arbeitsmarkt bereichern.
Ihres Erachtens ist es den Niederlanden aber nicht gelungen, stichhaltig zu begründen, dass das Wohnsitzerfordernis zur Verwirklichung dieses gesellschaftlichen Zwecks geeignet ist. Der Ort, an dem ein Studierender vor Aufnahme seines Studiums gewohnt hat, mag zwar bei der Wahl des Studienorts eine gewisse Rolle spielen, und das Wohnsitzerfordernis mag verhindern, dass Studierende die MNSF zum Studium an ihrem Wohnort verwenden, da außerhalb der Niederlande wohnende Studierende keinen Antrag auf MNSF stellen können.
Die Generalanwältin erkennt jedoch keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem Wohnort eines Studierenden vor Beginn der Hochschulausbildung und der Wahrscheinlichkeit seiner Rückkehr in die Niederlande nach Abschluss des Auslandsstudiums. Ihrer Ansicht nach haben die Niederlande nicht nachgewiesen, dass das Wohnsitzerfordernis nicht über das hinausgeht, was zur Erhöhung der Mobilität der Studierenden und zur Bestimmung der Zielgruppe erforderlich ist. Daher haben die Niederlande ihrer Ansicht nach nicht dargetan, dass das Wohnsitzerfordernis ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel ist, um die Gruppe von Studierenden zu bestimmen, der sie MNSF gewähren wollen.
Generalanwältin Sharpston kommt folglich zu dem Ergebnis, dass das Wohnsitzerfordernis zwar grundsätzlich durch den gesellschaftlichen Zweck gerechtfertigt sein könnte, die Niederlande jedoch nicht dargetan haben, dass es ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks ist.
Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge der Generalanwältin vom 16. Februar 2012 – C-542/09 [Europäische Kommission / Niederlande]
- ABl. L 257, S. 2[↩]