Arbeitnehmer, die auf Gasbohrplattformen beschäftigt sind, die sich im Meer auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel befinden, unterliegen grundsätzlich dem Unionsrecht. Eine auf Bohrplattformen im Rahmen der Erforschung und/oder der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verrichtete Arbeit ist nämlich für die Anwendung des Unionsrechts als eine im Hoheitsgebiet dieses Staates verrichtete Arbeit anzusehen.

Anlass für dieses jetzt verkündete Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union war ein Fall aus den Niederlanden: Herr Salemink, ein niederländischer Staatsangehöriger, hat seit 1996 für das Unternehmen Nederlandse Aardolie Maatschapijj als Krankenpfleger und Röntgenassistent auf einer Gasbohrplattform gearbeitet. Diese Plattform befindet sich außerhalb der niederländischen Hoheitsgewässer auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel in einer Entfernung von ungefähr 80 km von der niederländischen Küste.
Am 10. September 2004 verlegte Herr Salemink seinen Wohnsitz von den Niederlanden nach Spanien. Vor seinem Umzug nach Spanien war Herr Salemink nach den niederländischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit pflichtversichert, wonach nicht als Arbeitnehmer gilt, wer außerhalb der Niederlande einer Beschäftigung nachgeht, es sei denn, er wohnt in den Niederlanden und sein Arbeitgeber wohnt ebenfalls oder ist dort niedergelassen. Wegen seines Umzugs nach Spanien erfüllte Herr Salemink diese Wohnsitzvoraussetzung nicht mehr und war daher von der Pflichtversicherung insbesondere für den Fall der Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen. Nachdem sich Herr Salemink am 24. Oktober 2006 krankgemeldet hatte, beantragte er am 11. September 2007 eine Leistung wegen Arbeitsunfähigkeit nach dem niederländischen Gesetz über Arbeit und Einkommen nach Arbeitsfähigkeit, und zwar ab 24. Oktober 2008.
Das Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Institut für Arbeitnehmerversicherungen) lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass Herr Salemink seit seinem Umzug nach Spanien (ab dem 10. September 2004) nicht mehr pflichtversichert gewesen sei und keine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit beanspruchen könne.
Unter diesen Umständen fragt die Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht Amsterdam, Niederlande) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens den Gerichtshof der Europäischen Union, ob es mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, dass ein Arbeitnehmer, der auf einer festen Einrichtung auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel beruflich tätig ist, in diesem Mitgliedstaat nur deshalb nicht nach den nationalen Sozialversicherungsvorschriften pflichtversichert ist, weil er nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Im vorliegenden Fall prüft der Gerichtshof der Europäischen Union zunächst, ob das Unionsrecht auf die Situation von Herrn Salemink anwendbar ist. Zu diesem Zweck verweist er darauf, dass nach dem internationalen Seerecht1 der Küstenstaat über den Festlandsockel souveräne Rechte zum Zweck seiner Erforschung und der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen ausübt. Diese Rechte sind insoweit ausschließlich, als niemand ohne ausdrückliche Zustimmung des Küstenstaats den Festlandsockel erforschen oder seine natürlichen Ressourcen ausbeuten darf, selbst wenn der Küstenstaat diese Tätigkeiten unterlässt. In Bezug auf künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke auf dem Festlandsockel hat der Küstenstaat das ausschließliche Recht zur Errichtung sowie zur Genehmigung und Regelung der Errichtung, des Betriebs und der Nutzung. Der Küstenstaat hat somit über diese künstlichen Inseln, Anlagen und Bauwerke ausschließliche Hoheitsbefugnisse.
Da der an einen Mitgliedstaat angrenzende Festlandsockel dessen Hoheitsgewalt, wenn auch funktionell und beschränkt, unterliegt, ist eine von einem Arbeitnehmer auf festen oder schwimmenden Einrichtungen auf oder über dem an einen Vertragsstaat angrenzenden Festlandsockel im Rahmen der Erforschung und/oder Ausbeutung seiner natürlichen Reichtümer verrichtete Arbeit für die Anwendung des Unionsrechts als eine im Hoheitsgebiet dieses Staates verrichtete Arbeit anzusehen.
Da feststeht, dass das Unionsrecht anwendbar ist, prüft der Europäische Gerichtshof, ob es dieses Recht untersagt, eine Person in der Lage von Herrn Salemink nach der Verlegung ihrer Wohnung nach Spanien vom System der Pflichtversicherung auszuschließen.
Hierzu führt der Gerichtshof der Europäischen Union aus, dass es Sache jedes Mitgliedstaats ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muss. Auch wenn die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, müssen sie dabei aber gleichwohl das Unionsrecht beachten. Zum einen dürfen diese Voraussetzungen nicht bewirken, dass Personen, auf die nach dem Unionsrecht die nationale Regelung anwendbar ist, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen werden. Zum anderen müssen die Systeme der Pflichtversicherung mit den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar sein.
Das Unionsrecht2 bestimmt ausdrücklich, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, „und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt“. Diese Bestimmung würde nicht beachtet, wenn den Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats arbeiten, aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die Wohnsitzvoraussetzung entgegengehalten werden könnte, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die betreffende Person im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, für die Aufnahme in das System der Pflichtversicherung vorgesehen ist. Für diese Personen bewirkt das Unionsrecht, dass an die Stelle der Wohnsitzvoraussetzung die Voraussetzung tritt, dass im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wird.
Daher verstößt eine nationale Regelung, wonach sich anhand des Wohnsitzkriteriums entscheidet, ob ein Arbeitnehmer, der auf einer Gasbohrplattform beschäftigt ist, die sich wie die im Ausgangsverfahren fragliche auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel befindet, in diesem Staat pflichtversichert werden kann oder nicht, gegen das Unionsrecht.
Ferner versetzt eine solche Regelung die gebietsfremden Arbeitnehmer wie Herrn Salemink in Bezug auf ihre soziale Sicherung in den Niederlanden in eine ungünstigere Lage als die gebietsansässigen Arbeitnehmer und verletzt dadurch das Unionsrecht.
Daher antwortet der Gerichtshof der Europäischen Union auf die Vorlagefrage des Amsterdamer Gerichts, dass es mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, dass ein Arbeitnehmer, der auf einer festen Einrichtung auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel beruflich tätig ist, in diesem Mitgliedstaat nur deshalb nicht nach den nationalen Sozialversicherungsvorschriften pflichtversichert ist, weil er nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 17. Januar 2011 – C‑347/10 [A. Salemink /Raad van Bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen]
- Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, unterzeichnet in Montego Bay (Jamaika) am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1984, vom Königreich der Niederlande am 28. Juni 1996 ratifiziert und mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.[↩]
- Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 209, S. 1), Art. 13 Abs. 2 Buchst. a.[↩]