Arbeitskampf mittels Gewerkschafts-Flashmob

Eine Gewerkschaft kann im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung auch zu einer „Flashmob-Aktion“ im Einzelhandel aufrufen. Die hierzu erfolgte Auslegung des Arbeitskampfrechts durch die Arbeitsgerichte1 berücksichtigt die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit des betroffenen Arbeitgebers hinreichend.

Arbeitskampf mittels Gewerkschafts-Flashmob

Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde eines Arbeitgeberverbandes, des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg e.V. (HBB) gegen gewerkschaftlich organisierte, streikbegleitende Flashmob-Aktionen im Einzelhandel nicht zur Entscheidung angenommen, der sich gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen wandte, die einen solchen Aufruf im konkreten Fall für zulässig hielten.

Der Ausgangssachverhalt[↑]

Der Arbeitgeberverband organisiert als Arbeitgeberverband Einzelhandelsunternehmen im Raum Berlin-Brandenburg. Die im Ausgangsverfahren beklagte Gewerkschaft führte im Jahre 2007 einen Streik zur Durchsetzung ihrer Forderung nach einem neuen Tarifvertrag für den Einzelhandel. Ihr Landesbezirk Berlin-Brandenburg veröffentlichte während des Streiks ein virtuelles Flugblatt, mit der Frage „Hast Du Lust, Dich an Flashmob-Aktionen zu beteiligen?“, bat Interessierte um die Handy-Nummer, um diese per SMS zu informieren, wenn man gemeinsam „in einer bestreikten Filiale, in der Streikbrecher arbeiten, gezielt einkaufen gehen“ wolle, „z.B. so: Viele Menschen kaufen zur gleichen Zeit einen Pfennig-Artikel und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich. Viele Menschen packen zur gleichen Zeit ihre Einkaufswagen voll (bitte keine Frischware!!!) und lassen sie dann stehen.“ Die Gewerkschaft propagierte dies auch in der Presse und im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung.

Im Dezember 2007 führte die Gewerkschaft in der Filiale eines Mitgliedsunternehmens des Arbeitgeberverbands eine solche Flashmob-Aktion durch. Es beteiligten sich etwa 40 bis 50 Personen, die per SMS von der Gewerkschaft dorthin bestellt worden waren. Zwei oder drei Teilnehmende trugen eine Jacke mit der Aufschrift „ver.di“, zahlreiche andere trugen Sticker der Gewerkschaft. Zunächst betraten etwa drei Personen die Filiale, klebten ein Flugblatt mit einem Streikaufruf an einen Backofen, legten weitere Flugblätter an die Kasse und forderten eine Arbeitnehmerin zur Streikteilnahme auf. Später begaben sich etwa 40 Personen in die Filiale und kauften dort in größerer Zahl sogenannte Pfennig- oder Cent-Artikel, weshalb sich an den Kassen Warteschlangen bildeten. Andere füllten etwa 40 Einkaufswagen mit Waren und ließen diese ohne Begründung oder mit der Angabe, das Geld vergessen zu haben, in den Gängen oder im Kassenbereich stehen. Die Aktion dauerte nach Angaben des Arbeitgeberverbands etwa eine Stunde, nach Angaben der Gewerkschaft 45 Minuten.

Die Entscheidung der Arbeitsgerichte[↑]

Mit seiner arbeitsgerichtlichen Klage verfolgte der Arbeitgeberverband das Ziel, der Gewerkschaft den Aufruf zu weiteren derartigen Flashmobs zu untersagen.

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Das erstinstanzlich hiermit befasste Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab2, das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wies die hiergegen gerichtete Berufung zurück3. Die daraufhin vom Arbeitgeberverband eingelegte Revision wies das Bundesarbeitsgericht zurück, denn die Klage sei unbegründet4. Der Arbeitgeberverband könne von der Gewerkschaft nicht die Unterlassung künftiger Aufrufe zu sogenannten Flashmob-Aktionen verlangen; diese seien nicht generell rechtswidrig. Zwar seien sie regelmäßig ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Doch sei dieser aus Gründen des Arbeitskampfrechts gerechtfertigt. Streikbegleitende Flashmob-Aktionen der Gewerkschaften, mit denen tarifliche Ziele verfolgt würden, unterfielen dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Ob eine Betätigung koalitionsspezifisch sei, richte sich grundsätzlich nicht nach der Art des gewählten Mittels, sondern nach dem verfolgten Zweck. Der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG sei auch nicht versperrt, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich Dritte beteiligten. Doch bedeute dies nicht, dass Flashmob-Aktionen stets zulässig seien. Zentraler Maßstab sei die Verhältnismäßigkeit. Hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Arbeitskampfmaßnahmen komme den Koalitionen ein Beurteilungsspielraum zu. Streikbegleitende Flashmob-Aktionen seien nicht stets offensichtlich ungeeignet oder stets offensichtlich nicht erforderlich zur Durchsetzung von tariflichen Zielen. Sie seien auch nicht generell unverhältnismäßig. Zwar unterschieden sie sich vom herkömmlichen Arbeitskampfmittel des Streiks nicht unbeträchtlich. Es gehe um eine „aktive“ Störung betrieblicher Abläufe, anders als beim Streik fehle eine Selbstschädigung durch den Entfall des Vergütungsanspruches und es bestünde die Gefahr, dass derartige Aktionen durch ein weniger beeinflussbares Verhalten Dritter außer Kontrolle gerieten; daher müssten Flashmob-Aktionen klar als von der Gewerkschaft getragene Arbeitskampfmaßnahmen erkennbar sein. Doch sei die Arbeitgeberseite diesen nicht wehrlos ausgeliefert, sondern habe wirksame Verteidigungsmöglichkeiten. Sie könne ihr Hausrecht nutzen, wo sich strafbar mache, wer einem Verweis nicht Folge leiste, oder einem Flashmob durch eine vorübergehende Betriebsschließung begegnen. Es handele sich nicht um „Betriebsblockaden“, denn Flashmobs seien auf eine relativ kurzfristige, vorübergehende Störung betrieblicher Abläufe gerichtet. Die bloße Möglichkeit, dass es zu „Exzessen“ komme, führe nicht zur generellen Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfmittels.

Die Verfassungsbeschwerde[↑]

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Arbeitgeberverband eine Verletzung der Art. 9 Abs. 3, Art. 12, Art. 14, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit Art.20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG als Grenze richterlicher Rechtsfortbildung. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde jedoch nicht zur Entscheidung an:

Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, befand das Bundesverfassungsgericht.

Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG, denn die Maßstäbe zur Beurteilung von Arbeitskämpfen, die sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben, sind geklärt5. Dies gilt auch für die Frage nach der Kompetenz des Bundesarbeitsgerichts zur Fortentwicklung des Arbeitskampfrechts6.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt, denn die Verfassungsbeschwerde ist ohne Aussicht auf Erfolg.

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Berufsfreiheit und Schutz des Eigentums, Artt. 12, 14 GG[↑]

Soweit der Arbeitgeberverband eine Verletzung der aus Art. 12 beziehungsweise Art. 14 GG abgeleiteten Rechte seiner vom Flashmob betroffenen Mitgliedsunternehmen geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Eine Verletzung wird hier ohnehin nur behauptet, ohne diese näher zu begründen. Der Arbeitgeberverband ist nicht selbst betroffen.

Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG[↑]

Die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen verletzen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbands.

Das Doppelgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur Einzelne in ihrer Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder fernzubleiben oder sie zu verlassen. Geschützt ist auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und in ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Der Schutz ist nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung nicht etwa von vornherein auf den Bereich des Unerlässlichen beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen7. Er ist auch nicht auf die traditionell anerkannten Formen des Streiks und der Aussperrung beschränkt, denn es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass allein diese Arbeitskampfmittel in ihrer historischen Ausprägung vom Verfassungsgeber als Ausdruck eines prästabilen Gleichgewichts angesehen worden wären8. Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung der koalitionsspezifischen Zwecke für geeignet halten, überlässt Art. 9 Abs. 3 GG vielmehr grundsätzlich ihnen selbst. Dies folgt aus der Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 GG als Freiheitsrecht der Koalitionen und aus der Staatsferne der Koalitionsfreiheit9.

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf allerdings der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat10. Beide Tarifvertragsparteien genießen den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG in gleicher Weise, stehen bei seiner Ausübung aber in Gegnerschaft zueinander. Sie sind auch insoweit vor staatlicher Einflussnahme geschützt, als sie zum Austragen ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit einsetzen11.

Bei der Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts besteht ein weiter Handlungsspielraum. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie die gegensätzlichen Grundrechtspositionen im Einzelnen abzugrenzen sind; es verlangt keine Optimierung der Kampfbedingungen12. Umstrittene Arbeitskampfmaßnahmen werden unter dem Gesichtspunkt der Proportionalität überprüft; durch den Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen soll kein einseitiges Übergewicht bei Tarifverhandlungen entstehen13. Die Orientierung des Bundesarbeitsgerichts am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist insofern nicht zu beanstanden14.

Ausgehend von diesen Maßstäben lässt sich eine Verletzung des Arbeitgeberverbands in seiner Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG durch die angegriffenen Urteile nicht feststellen. Gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene sogenannte Flashmob-Aktionen der vorliegend zu beurteilenden Art fallen in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.

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Das Bundesarbeitsgericht geht zutreffend davon aus, dass die Beurteilung, ob eine Betätigung koalitionsspezifisch ist, grundsätzlich nicht nach der Art des von der Koalition gewählten Mittels, sondern nach dem von ihr damit verfolgten Ziel zu erfolgen hat. Es besteht kein Anlass, am koalitionsspezifischen Zweck des Aufrufs zu einem Flashmob der vorliegend zu beurteilenden Art zu zweifeln, der streikbegleitend während der laufenden Tarifauseinandersetzung erkennbar darauf ausgerichtet ist, rechtmäßige Arbeitskampfziele zu unterstützen.

Die Frage, ob strafbare Handlungen von vornherein aus dem Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ausgeschlossen sind, muss vorliegend nicht beantwortet werden. Das Bundesarbeitsgericht, das allein darauf abstellt, dass Flashmob-Aktionen nicht generell unzulässig seien, geht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass es hier um Aufrufe zu streikbegleitenden Flashmob-Aktionen geht, die jedenfalls nicht typischerweise mit Straftaten wie Hausfriedensbruch, Nötigung oder Sachbeschädigung einhergehen. Tatsächlich hatte die Gewerkschaft in ihrem Flugblatt, das für den Arbeitgeberverband Anlass war, die Unterlassung vergleichbarer Aufrufe zu fordern, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass keine Frischware in die Einkaufswagen gelegt werden solle, also Sachbeschädigungen vermieden werden sollten, und sie hat auch nicht zum Hausfriedensbruch aufgefordert. Das Bundesarbeitsgericht hat den Antrag so ausgelegt, dass ein Aufruf dazu, Wagen mit verderblicher Frischware zu beladen oder Waren einscannen zu lassen, sie aber sodann nicht zu bezahlen und den gefüllten Wagen an der Kasse stehen zu lassen, nicht Verfahrensgegenstand war, weshalb es über die Rechtmäßigkeit eines derartigen Aufrufs nicht entschieden hat. Es nimmt für seine Aussagen vielmehr eine Fallkonstellation zum Ausgangspunkt, in der – soweit ersichtlich – Straftaten nicht begangen wurden.

Die vom Bundesarbeitsgericht herangezogenen Kriterien zur Beurteilung von Flashmob-Aktionen sind auch hinsichtlich der Grenzen der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Das Bundesarbeitsgericht berücksichtigt insbesondere, dass sich durch die Teilnahme Dritter an Flashmob-Aktionen die Gefahr erhöhen kann, dass diese außer Kontrolle geraten, weil das Verhalten Dritter weniger beeinflussbar ist. Es setzt der – im Ausgangsfall auch tatsächlich eingeschränkten – Teilnahme Dritter daher auch rechtliche Grenzen. So muss der Flashmob als gewerkschaftlich getragene Arbeitskampfmaßnahme erkennbar sein, also deutlich werden, dass es sich nicht um eine „wilde“, nicht gewerkschaftlich getragene Aktion handelt, was auch für Schadensersatzforderungen der Arbeitgeber bei rechtswidrigen Aktionen von Bedeutung ist. In verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht auch, dass Flashmob-Aktionen – anders als Streiks – kein Element unmittelbarer Selbstschädigung der Teilnehmenden in Form des Verlustes des Arbeitsentgelts innewohnt, das einen (eigen-)verantwortlichen Umgang mit dem Arbeitskampfmittel fördern kann. Der Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG, der sowohl die Gewerkschaft als auch die Arbeitgeberseite schützt, wird jedoch nicht verkannt, wenn das Bundesarbeitsgericht darauf abstellt, dass der Arbeitgeberseite geeignete Verteidigungsmittel gegen die hier in Rede stehenden Aktionen zur Verfügung stünden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, eine eigene Einschätzung zur praktischen Wirksamkeit von Reaktionsmöglichkeiten der Arbeitgeberseite an die Stelle derjenigen der Fachgerichte zu setzen, solange diese nicht einer deutlichen Fehleinschätzung folgen. Eine solche ist hier nicht erkennbar, denn das Bundesarbeitsgericht hat sich mit der Frage nach wirksamen Gegenmaßnahmen der Arbeitgeberseite gegen einen streikbegleitenden Flashmob intensiv auseinandergesetzt. Es berücksichtigt dabei insbesondere auch die Interessen der Arbeitgeberseite. Danach ist ein Hausverbot ein Mittel zur Abwehr der hier streitigen Arbeitskampfmaßnahmen, soweit Teilnehmende äußerlich als solche zu erkennen sind, zum Beispiel aufgrund von Kleidung oder Mitgliedszeichen der Gewerkschaft oder aufgrund eindeutigen Verhaltens; die Befürchtung, dass Teilnehmende der Aufforderung, die Einzelhandelsfiliale zu verlassen, verbreitet keine Folge leisten würden, wird durch die Strafandrohung des § 123 Abs. 1 2. Alt. StGB relativiert. Auch die Annahme, eine suspendierende Betriebsstilllegung sei in Fällen der vorübergehenden Störung des Betriebsablaufes durch einen Flashmob nicht wirkungslos, ist jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig; mit ihr verlören auch die Arbeitswilligen ihren Lohnanspruch, was ein für die Gewerkschaft beachtlicher und die Kampfparität fördernder Effekt ist. Gegen diese fachgerichtliche Einschätzung, das Hausrecht und die vorübergehende Betriebsstilllegung seien als wirksame Verteidigungsmittel anzusehen, ist verfassungsrechtlich daher nichts zu erinnern.

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Das Bundesarbeitsgericht verkennt den Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG auch nicht mit Blick auf die vorübergehende Erschwerung des Zugangs zu den Kassen durch beladene Einkaufswagen und durch den Einkauf von Cent-Artikeln, denn die an sich durchaus gewichtige Beeinträchtigung des Betriebs war nicht umfassend und von vergleichsweise kurzer Dauer. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kassenbereich durch die hier konkret zu beurteilende Aktion nachhaltig blockiert gewesen wäre.

Recht auf Kollektivverhandlungen, Art. 28 EuGRCh[↑]

Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta – EuGRCh) zum Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen einschließlich des Streiks ist hier nicht anwendbar. Nach Art. 51 Abs. 1 EuGRCh bindet die Charta die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Charta findet keine Anwendung, wenn über einen Sachverhalt zu entscheiden ist, für den der Union die Regelungskompetenz fehlt. Das Primärrecht schließt eine Zuständigkeit der Union für das Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht in Art. 153 Abs. 5 AEUV ausdrücklich aus.

Prozessgrundrecht des Gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG: Vorlage an den Großen Bundesverfassungsgericht des Bundesarbeitsgerichts[↑]

Die Rüge des Arbeitgeberverbands zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat keinen Erfolg. Der gesetzliche Richter ist nicht dadurch entzogen worden, dass der Erste Bundesverfassungsgericht des Bundesarbeitsgerichts nicht an den Großen Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat.

Rechtsuchende können dem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass das Gericht der Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht nicht nachkommt15. Auch die unterlassene Vorlage an den Großen Bundesverfassungsgericht eines obersten Bundesgerichts kann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen16. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage liegt allerdings nur vor, wenn die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts nicht nur fehlerhaft, sondern willkürlich ist17.

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Davon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass das Bundesarbeitsgericht die Vorlagepflicht aus § 45 ArbGG willkürlich verkannt hätte. Das gilt sowohl für die Anforderungen an eine Divergenzvorlage als auch für jene an eine Grundsatzvorlage.

Der Große Bundesverfassungsgericht des Bundesarbeitsgerichts hat keinen Rechtssatz zum Arbeitskampfrecht aufgestellt, von dem die angegriffene Entscheidung abwiche. Auch nach der Rechtsprechung des Großen Bundesverfassungsgerichts gibt es eine „Kampffreiheit“ bei der Wahl der Mittel des Arbeitskampfes und es gilt der Grundsatz der Waffengleichheit als Kampfparität18; maßgeblich ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz19, der auch die vorliegende Entscheidung trägt.

Das Bundesarbeitsgericht hat auch eine Grundsatzvorlage nicht willkürlich unterlassen. Es kann dahinstehen, ob § 45 Abs. 4 ArbGG verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass bei grundsätzlicher Bedeutung zwingend vorzulegen ist oder ob ein Ermessen besteht. Jedenfalls ist dies im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur anhand des Willkürmaßstabs zu überprüfen. Für Willkür spricht aber vorliegend nichts. Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht nicht in Frage gestellt, sondern für einen konkreten Sachverhalt weiterentwickelt.

Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung[↑]

Der Arbeitgeberverband kann nicht mit Erfolg geltend machen, er sei in seinen Grundrechten aus Art. 9 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art.20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG verletzt, weil die angegriffenen Urteile die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung missachteten.

Die Gerichte sind nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, die Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit vorzunehmen, weil dies allein Sache des Gesetzgebers wäre. Zwar ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die Koalitionsfreiheit näher auszugestalten. Soweit es um das Verhältnis der Parteien des Arbeitskampfes als gleichgeordnete Grundrechtsträger geht, muss diese Ausformung nicht zwingend durch gesetzliche Regelungen erfolgen20. Die Gerichte sind aufgrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Justizgewährleistungsanspruchs verpflichtet, wirkungsvollen Rechtsschutz zu bieten21. Sie müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den bestehenden Rechtsgrundlagen ableiten, was im Einzelfall gilt22. Entschieden die Gerichte für Arbeitssachen arbeitskampfrechtliche Streitigkeiten mit Hinweis auf fehlende gesetzliche Regelungen nicht, verhielten sie sich ihrerseits verfassungswidrig.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts genügt auch den Anforderungen, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip für die Bestimmtheit des Rechts ergeben. Der Grundsatz der Bestimmtheit verlangt von der Gesetzgebung, Tatbestände so präzise zu formulieren, dass von einer Norm Adressierte ihr Handeln kalkulieren können, weil die Folgen der Regelung für sie voraussehbar und berechenbar sind23. Rechtsnormen brauchen allerdings nur so bestimmt zu sein, wie dies nach der Eigenart der zu regelnden Sachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist23, weshalb auch unbestimmte Rechtsbegriffe oder auslegungsfähige Generalklauseln zulässig sind24. Diese bedürfen dann der Konkretisierung durch die Gerichte. Den Gerichten sind hierbei durch das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere durch die Grundsätze der Bestimmtheit und der Rechtssicherheit, Grenzen gesetzt. Angesichts seiner Weite ist bei der Ableitung konkreter Begrenzungen jedoch behutsam vorzugehen25.

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Danach unterliegt es von Verfassung wegen keinen Bedenken, dass das Bundesarbeitsgericht die Flashmob-Aktionen auf der Grundlage des geltenden Rechts nach Maßgabe näherer Ableitungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht als generell unzulässig beurteilte. Der hierfür vom Bundesarbeitsgericht maßgeblich herangezogene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zwar inhaltlich unbestimmt, aber dogmatisch detailliert durchformt. Das Bundesarbeitsgericht präzisiert so die Anforderungen an einen Flashmob, nachdem die übrigen Voraussetzungen des Schutzes von Art. 9 Abs. 3 GG bejaht worden sind. Die Verhältnismäßigkeit strukturiert die gerichtliche Überprüfung der Grenzen, die einer grundrechtlich geschützten Freiheit gesetzt sind. Dies genügt den Anforderungen, die sich aus der Verfassung für die auf das Recht bezogene Handlungsorientierung der Arbeitskampfparteien stellen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09

  1. zuletzt BAG, Urteil vom 22.09.2009 – 1 AZR 972/08[]
  2. ArbG Berlin, Urteil vom 01.04.2008 – 34 Ca 2402/08[]
  3. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom vom 29.09.2008 – 5 Sa 967/08[]
  4. BAG, Urteil vom 22.09.2009 – 1 AZR 972/08[]
  5. vgl. BVerfGE 84, 212, 224 ff.; 88, 103, 113 ff.; 92, 365, 393 ff.[]
  6. vgl. BVerfGE 84, 212, 226 f.; 88, 103, 115 f.[]
  7. vgl. BVerfGE 93, 352, 358 f.; zudem BVerfGE 94, 268, 283; 100, 271, 282; 103, 293, 304 m.w.N.[]
  8. vgl. BVerfGE 84, 212, 229 f.[]
  9. vgl. BVerfGE 92, 365, 393 m.w.N.[]
  10. vgl. BVerfGE 84, 212, 228; 88, 103, 115; 92, 365, 394[]
  11. vgl. BVerfGE 88, 103, 115; 92, 365, 394[]
  12. vgl. BVerfGE 92, 365, 394 ff.[]
  13. vgl. BVerfGE 84, 212, 229; 92, 365, 395[]
  14. vgl. BVerfGE 84, 212, 229; 92, 365, 395; entsprechend BAG, Großer Senat, Beschluss vom 21.04.1971 – GS 1/68 sowie EGMR, Enerji Yapi-Yol Sen v. Türkei, Urteil vom 21.04.2009, Nr. 68959/01, – NZA 2010, S. 1423, §§ 24, 32[]
  15. vgl. BVerfGE 13, 132, 143; 101, 331, 359[]
  16. vgl. BVerfGE 19, 38, 43; BVerfGK 2, 213, 220[]
  17. grundlegend BVerfGE 3, 359, 364 f.[]
  18. vgl. BAG, Beschluss vom 28.01.1955 – GS 1/54 65[]
  19. vgl. BAG, Beschluss vom 21.04.1971 – GS 1/68 62 ff.[]
  20. vgl. BVerfGE 84, 212, 226 f.; 88, 103, 115 f. m.w.N.[]
  21. vgl. BVerfGE 85, 337, 345; 107, 395, 406 f.[]
  22. vgl. BVerfGE 84, 212, 226 f.[]
  23. vgl. BVerfGE 78, 205, 212; 84, 133, 149[][]
  24. vgl. BVerfGE 31, 255, 264; 110, 33, 56 f.[]
  25. vgl. BVerfGE 111, 54, 82[]