Arbeitszeit – und die innerbetrieblichen Wegezeiten

Bei Umkleide- und damit verbundenen innerbetrieblichen Wegezeiten kann es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeit handeln. Jedoch kann ein Tarifvertrag (hier: § 28.2 des VW-Manteltarifvertrags) eine gesonderte Vergütungsregelung enthalten, welche die erhobenen Ansprüche ausschließt.

Arbeitszeit – und die innerbetrieblichen Wegezeiten

Bei den Zeiten zum An- und Ablegen der im vorliegenden Fall verpflichtend zu tragenden, Persönlichen Schutzausrüstung (PSA), bestehend aus feuerbeständiger Hose und Jacke, Sicherheitsschuhen, Helm, Schutzbrille und Gehörschutz, im Betrieb und den damit verbundenen innerbetrieblichen Wegezeiten handelt es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeit nach § 611a Abs. 2 BGB1. Der Arbeitnehmer ist im hier entschiedenen Fall nach Ziff. 6 Satz 1 BV Arbeitskleidung zum Tragen der PSA während der Arbeit in der Produktion und beim Aufenthalt in der Produktion verpflichtet. Nach den nicht angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts handelt es sich um besonders auffällige Schutzkleidung. Dabei bedarf es keiner ausdrücklichen Anordnung der Arbeitgeberin zum Umkleiden im Betrieb, denn eine ausschließlich fremdnützige Tätigkeit liegt auch vor, wenn der Arbeitnehmer die vom Arbeitgeber dafür eingerichteten Umkleidemöglichkeiten für das von diesem angewiesene Anlegen seiner besonders auffälligen Dienstkleidung nutzt und sich anschließend zu seinem Arbeitsplatz begibt2.

Bei den mit dem An- und Ablegen der PSA verbundenen Tätigkeiten sowie den erforderlichen innerbetrieblichen Wegezeiten zwischen Spind, Umkleideraum und eigentlichem Arbeitsplatz handelt es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeiten. Diese Zusammenhangstätigkeiten bilden mit dem geschuldeten Arbeitsinhalt eine Einheit. Sie stellen insgesamt die vergütungspflichtige Dienstleistung nach § 611a Abs. 1 BGB dar, denn die Notwendigkeit des An- und Ablegens der PSA und der damit verbundene Zeitaufwand des Arbeitnehmers – auch zum Aufsuchen der Umkleideräume – beruhen auf der Anweisung des Arbeitgebers zum Tragen der PSA während der Arbeitszeit3.

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Durch § 12.01.1 iVm. § 28.2 des zwischen der Volkswagen AG und der IG Metall Bezirksleitung Niedersachsen und Sachsen-Anhalt abgeschlossene Manteltarifvertrags vom 15.12.2008 idF vom 05.03.2018 (MTV-VW)  ist eine gesonderte Vergütung der Umkleide- und Wegezeiten ausgeschlossen.

Mit der Einordnung der Umkleide- und Wegezeiten als Teil der nach § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB zu leistenden Arbeit ist noch nicht geklärt, wie diese Zeiten zu vergüten sind. Durch Arbeits- oder Tarifvertrag kann eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Umkleide- und Wegezeiten getroffen werden4.

Die Vergütungspflicht der Umkleide- und Wegezeiten ist aufgrund der Regelung des § 12.01.1 iVm. § 28.2 MTV-VW ausgeschlossen. Dies ergibt die Auslegung des Tarifvertrags5.

Nach der Entgeltregelung in § 12.01.1 MTV-VW wird geleistete Arbeit und Arbeitsbereitschaft bezahlt, es sei denn, dass durch Tarifverträge andere Regelungen getroffen sind. Was geleistete Arbeit ist, definieren die Tarifvertragsparteien weder dort noch an anderer Stelle des Tarifvertrags. Auch den Regelungen der Arbeitszeit in § 6 MTV-VW lässt sich dies nicht entnehmen, denn sie betreffen lediglich die Arbeitszeitdauer, -gestaltung und -verteilung. Damit ist zwar der Wortlaut des § 12.01.1 MTV-VW hinsichtlich des Anknüpfungspunkts der Vergütung nicht hinreichend eindeutig, doch legt er mit dem Begriff „geleistete Arbeit“ bereits nahe, dass dieser bezogen auf die konkrete Tätigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers – im Streitfall eines Mechanikers in der Gießerei – eingeschränkt zu verstehen ist.

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Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang folgt sodann, dass die Tarifvertragsparteien eine Vergütungspflicht für Zusammenhangstätigkeiten wie Umkleiden und Zurücklegen von innerbetrieblichen Wegen nicht unter den Begriff der geleisteten Arbeit in § 12.01.1 MTV-VW fassen, mithin eine Vergütung hierfür ausschließen wollten. Dies zeigt die Bestimmung des § 28.2 MTV-VW.

Nach § 28.2 MTV-VW erhalten Beschäftigte, die besonders schmutzige Arbeiten verrichten, täglich eine bezahlte Waschzeit bis zu 20 Minuten, die innerhalb der täglichen Arbeitszeit liegt. Daneben wird in Abhängigkeit von der Tätigkeit der in der Regel zu gewährende Umfang der Waschzeit näher definiert. Der für den Anspruch auf bezahlte Waschzeit in Frage kommende Personenkreis wird nach § 28.3 MTV-VW mit dem Betriebsrat festgelegt.

In § 28.2 MTV-VW wird nur eine bestimmte nicht wertschöpfende Arbeit der Vergütungspflicht unterworfen. Das Waschen stellt jedoch für den nach § 28.3 MTV-VW festgelegten Personenkreis gleichermaßen wie das Umkleiden und Zurücklegen von innerbetrieblichen Wegen eine Zusammenhangstätigkeit mit den eigentlichen Arbeitsaufgaben dar. Einer Regelung wie in § 28.2 MTV-VW hätte es daher nicht bedurft, wenn die Zusammenhangstätigkeit Waschen bereits unter den Begriff der geleisteten Arbeit iSd. § 12.01.1 MTV-VW zu fassen wäre. Auch die detaillierte Ausgestaltung des § 28.2 MTV-VW in Bezug auf die Regelbeispiele und die Differenzierung im Umfang der bezahlten Waschzeit zeigt, dass die Tarifvertragsparteien insoweit einen eigenständigen Vergütungsanspruch schaffen wollten. Normiert ein Tarifvertrag in zwei Bestimmungen einen Vergütungsanspruch für geleistete Arbeit und einen Vergütungsanspruch ausdrücklich für eine konkret benannte Zusammenhangstätigkeit, spricht dies mit hinreichender Klarheit6 dafür, dass die Tarifvertragsparteien damit zugleich bestimmt haben, dass ein Vergütungsanspruch nur für die genannte Zusammenhangstätigkeit bestehen soll, nicht jedoch für weitere damit verbundene. Zusammenhangstätigkeiten, die nicht die eigentliche arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit darstellen, sollen nach dem Willen der Tarifvertragsparteien nur in den ausdrücklich geregelten Fällen – hier allein im Fall des Waschens – vergütungspflichtig sein.

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Der tarifvertragliche Vergütungsausschluss ist entgegen der Auffassung der Revision nicht wegen eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 3 ArbSchG unwirksam.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Maßnahmen des Arbeitsschutzes sind gemäß § 2 Abs. 1 ArbSchG Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Gemäß § 3 Abs. 3 ArbSchG darf der Arbeitgeber Kosten für Maßnahmen nach dem ArbSchG nicht den Beschäftigten auferlegen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 ArbSchG liegen im Streitfall nicht vor. Zugunsten des Arbeitnehmers unterstellt, bei dem An- und Ablegen der PSA und den damit verbundenen Wegezeiten handele es sich um Maßnahmen des Arbeitsschutzes, werden den Arbeitnehmern hierdurch keine Kosten auferlegt. Unter dem Begriff der Kosten werden Aufwendungen des Arbeitgebers für Sachmittel verstanden7, nicht hingegen zeitliche Dispositionen des Arbeitnehmers8.

Das Unionsrecht verlangt insoweit kein anderes Verständnis. Durch die Regelung des § 3 Abs. 3 ArbSchG wird Art. 6 Abs. 5 Richtlinie 89/391/EWG umgesetzt, wonach die Kosten ua. für Sicherheitsmaßnahmen auf keinen Fall zu Lasten der Arbeitnehmer gehen dürfen. Dieser Kostenbegriff erfasst nicht die Vergütung von Arbeitszeiten, die erforderlich sind, die entsprechenden Mittel anzuwenden. Dies zeigt der Regelungszusammenhang mit Art. 12 Abs. 4 Sätze 2 und 3 Richtlinie 89/391/EWG (in nationales Recht umgesetzt durch § 12 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG), worin bestimmt ist, dass Unterweisungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz während der Arbeitszeit erfolgen müssen, sowie mit Art. 11 Abs. 5 Richtlinie 89/391/EWG, der Entgeltfortzahlungspflichten gegenüber Arbeitnehmervertretern mit besonderen Funktionen bei der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz vorsieht. Dagegen sind bei allen anderen Handlungspflichten, die nach Art. 13 Richtlinie 89/391/EWG die Arbeitnehmer im Rahmen des Arbeitsschutzes treffen, solche Entgeltzahlungspflichten des Arbeitgebers nicht vorgesehen9. Im Hinblick auf die klaren Regelungen der Richtlinie 89/391/EWG bedarf es keines Vorlageverfahrens an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV10.

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Da ein Vergütungsanspruch bereits durch Tarifvertrag ausgeschlossen ist, kann dahinstehen, ob sich aus den Regelungen im Arbeitsvertrag und den geltenden Betriebsvereinbarungen ebenfalls ein Anspruchsausschluss ergibt.

Auch ein Anspruch auf Zeitgutschrift besteht wegen des Ausschlusses eines Vergütungsanspruchs für Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten nicht.  Das bei der Arbeitgeberin als Flexibilitätskonto bezeichnete Arbeitszeitkonto hält fest, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Hauptleistungspflicht nach § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB erbracht hat oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands nicht erbringen musste. Es drückt damit – in anderer Form – seinen Vergütungsanspruch aus11. Dies kommt hinreichend deutlich in Ziff. 3.1 Abs. 1 Satz 1 GBV Flexibilitätskonto zum Ausdruck, wonach der Aufbau von Zeitsalden ausschließlich durch tatsächlich geleistete Arbeitsstunden erfolgt, die über die ua. durch Schichtpläne gestaltete tarifliche regelmäßige Arbeitszeit hinausgehen. Da die Zusammenhangstätigkeiten des Umkleidens und Zurücklegens innerbetrieblicher Wege keine zu vergütende Arbeitszeit darstellen, besteht auch kein Anspruch auf Gutschrift dieser Zeiten auf dem Arbeitszeitkonto.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. Juli 2021 – 5 AZR 572/20

  1. vgl. zu den Grundsätzen der Bewertung von Umkleidezeit als vergütungspflichtige Arbeitszeit zuletzt BAG 25.04.2018 – 5 AZR 245/17, Rn. 22 bis 24 mwN[]
  2. vgl. BAG 12.12.2018 – 5 AZR 124/18, Rn. 17; 6.09.2017 – 5 AZR 382/16, Rn. 21, BAGE 160, 167[]
  3. vgl. BAG 6.09.2017 – 5 AZR 382/16, Rn. 13, BAGE 160, 167[]
  4. vgl. BAG 12.12.2018 – 5 AZR 124/18, Rn.19; 25.04.2018 – 5 AZR 245/17, Rn. 31 mwN[]
  5. zu den nach st. Rspr. anzuwendenden allgemeinen Auslegungsgrundsätzen vgl. BAG 26.10.2016 – 5 AZR 226/16, Rn. 25 mwN[]
  6. zur Erforderlichkeit dieser vgl. BAG 25.04.2018 – 5 AZR 245/17, Rn. 35[]
  7. vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 13/3540 S. 16[]
  8. vgl. BAG 13.12.2016 – 9 AZR 574/15, Rn. 30; so auch Gaul/Hofelich NZA 2016, 149, 151 f.; aA Pieper ArbSchG 8. Aufl. § 3 Rn. 14d; ebenso Kollmer/Klindt/Schucht/Kothe ArbSchG 4. Aufl. § 3 Rn. 92, allerdings ohne nähere Begründung[]
  9. vgl. Gaul/Hofelich NZA 2016, 149, 152[]
  10. vgl. zu den Vorlagevoraussetzungen EuGH 6.10.1982 – C-283/81 – [C.I.L.F.I.T.][]
  11. vgl. BAG 23.09.2020 – 5 AZR 367/19, Rn. 21 mwN[]
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