Auflösungsantrag des Arbeitnehmers bei Depressionen wegen der ungerechtfertigten Kündigung

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG hat das Gericht das durch eine sozialwidrige Kündigung nicht beendete Arbeitsverhältnis durch Urteil aufzulösen, wenn dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist. Dafür muss kein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorliegen, der dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar machen würde. Es reicht aus, dass ihm die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auf unbestimmte Dauer unzumutbar ist1.

Auflösungsantrag des Arbeitnehmers bei Depressionen wegen der ungerechtfertigten Kündigung

Dafür wiederum genügt nicht allein die Sozialwidrigkeit der Kündigung. Es bedarf vielmehr zusätzlicher, vom Arbeitnehmer darzulegender Umstände. Diese müssen im Zusammenhang mit der Kündigung oder doch dem Kündigungsschutzprozess stehen2. Auflösungsgründe können sich demnach aus den Modalitäten der Kündigung als solcher und aus weiteren Handlungen des Arbeitgebers ergeben, die mit der Kündigung einhergehen3.

Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist auf die Verhältnisse im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung am 21.12.2011 abzustellen. Dabei hat es mit Recht auch solche Umstände berücksichtigt, die sich – wie die am 18.08.2011 erklärte Kündigung – erst im Verlauf des Prozesses ergeben haben4.

Das Arbeitsgericht ist auch wegen einer zwischenzeitig erneut erklärten Kündigung nicht gehindert, über den Auflösungsantrag zu entscheiden. Zwar kann der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis alsbald nach einem möglichen Auflösungszeitpunkt ohnehin enden würde, von Bedeutung für die anzustellende Zumutbarkeitsprüfung sein. Ein solcher Umstand macht eine Entscheidung über den Auflösungsantrag aber nicht obsolet, sondern beeinflusst unter Umständen ihr Ergebnis: Ob dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zuzumuten ist, richtet sich u.a. nach der voraussichtlichen Dauer einer Weiterbeschäftigung. Ist der Eintritt einer anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nur möglich, steht er aber nicht mit Gewissheit fest, muss das zur Entscheidung über einen Auflösungsantrag berufene Gericht ggf. eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit eines solchen Eintritts treffen5.

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Ein die Unzumutbarkeit iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG begründender Umstand kann darin liegen, dass ein Kündigungsschutzverfahren über eine offensichtlich sozialwidrige Kündigung seitens des Arbeitgebers mit einer solchen Schärfe geführt worden ist, dass der Arbeitnehmer mit einem schikanösen Verhalten des Arbeitgebers und anderer Mitarbeiter rechnen muss, wenn er in den Betrieb zurückkehrt6. Das Arbeitsverhältnis kann ferner aufzulösen sein, wenn feststeht, dass sich der Arbeitgeber ungeachtet der im Kündigungsschutzprozess vertretenen Rechtsauffassung des Gerichts auf jeden Fall von ihm trennen will und offensichtlich beabsichtigt, mit derselben oder einer beliebigen anderen Begründung solange Kündigungen auszusprechen, bis er sein Ziel erreicht hat7.

Dass der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer inzwischen drei Kündigungen erklärt hat, spricht nicht für einen Trennungswillen „um jeden Preis“, wenn diese Kündigungen – wie im hier entschiedenen Fall – nicht auf demselben Lebenssachverhalt beruhen und auch sonst in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen.

Die Möglichkeit, im Rahmen des durch das Kündigungsschutzgesetz gewährleisteten Bestandsschutzes das Arbeitsverhältnis durch gerichtliche Entscheidung aufzulösen, beruht – neben anderen Motiven – auf der Erwägung des Gesetzgebers, das Vertrauensverhältnis der Arbeitsvertragsparteien könne entweder durch die zur Rechtfertigung der Kündigung angeführten Gründe selbst oder durch das Kündigungsschutzverfahren ohne ein Verschulden des Arbeitnehmers zerrüttet worden sein8. Dem trägt die Anforderung Rechnung, zwischen Kündigung und/oder Kündigungsschutzprozess einerseits und dem geltend gemachten Auflösungsgrund müsse ein Zusammenhang bestehen. Sie stellt sicher, dass nicht jeder Streit der Parteien über den Inhalt ihrer Vertragspflichten zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führen kann. Dies wäre mit der gesetzgeberischen Intention, bei sozialwidriger Kündigung vorrangig den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu gewährleisten, nicht in Einklang zu bringen.

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Die Beurteilung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 KSchG erfordert eine Abwägung, die der Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes als eines Bestandsschutz gewährenden Gesetzes und dem Ausnahmecharakter der Regelung ausreichend Rechnung trägt9. Der im Interesse des Arbeitnehmers geschaffene Bestandsschutz soll zwar, wie schon die Regelungen des § 7 und des § 12 KSchG belegen, nicht gegen dessen Willen durchsetzbar sein. Grundsätzlich geht das Gesetz aber bei sozial ungerechtfertigter Kündigung von der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses aus. Die Auflösung ist an Umstände gebunden, die messbar über die bloße Rechtsunwirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG hinausgehen.

Für eine Auflösung auf Antrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG müssen die Gründe, die einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien entgegenstehen, nicht notwendig im Verhalten, insbesondere nicht in einem schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen10. Ob dies gleichermaßen für den Auflösungsantrag des Arbeitnehmers gilt und dieser eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses auch dann verlangen kann, wenn der Arbeitgeber die zur Unzumutbarkeit führenden Umstände nicht durch eigenes Tun zu verantworten hat, bedarf im Streitfall keiner abschließenden Beurteilung11. Ein Auflösungsgrund iSd. § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn die einer Weiterarbeit entgegenstehenden Tatsachen im Einfluss- oder Risikobereich des Arbeitnehmers liegen. Davon ist auszugehen, wenn der Arbeitnehmer infolge einer sozialwidrigen Kündigung erkrankt oder durch sie eine schon bestehende Erkrankung sich verschlimmert, aber der Arbeitgeber die Krankheit weder zielgerichtet herbeigeführt, noch mit einer offensichtlich unbegründeten Kündigung oder etwa ehrverletzenden Äußerungen die Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers als möglich angesehen und bewusst in Kauf genommen hat.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. Juli 2013 – 2 AZR 241/12

  1. BAG 27.03.2003 – 2 AZR 9/02, zu II 2 der Gründe; 26.11.1981 – 2 AZR 509/79, zu II 2 der Gründe, BAGE 37, 135[]
  2. BAG 24.09.1992 – 8 AZR 557/91, zu I 3 der Gründe, BAGE 71, 221; 18.01.1962 – 2 AZR 179/59, zu II der Gründe, BAGE 12, 174[]
  3. BAG 24.09.1992 – 8 AZR 557/91 – aaO: gänzlich ungerechtfertigte Suspendierung[]
  4. vgl. dazu BAG 23.02.2010 – 2 AZR 554/08, Rn. 22, 23 mwN[]
  5. BAG 27.04.2006 – 2 AZR 360/05, Rn. 29, BAGE 118, 95[]
  6. BAG 27.03.2003 – 2 AZR 9/02, zu II 2 a der Gründe[]
  7. vgl. BAG 27.03.2003 – 2 AZR 9/02, zu II 3 b der Gründe; 29.01.1981 – 2 AZR 1055/78, zu III 2 b der Gründe, BAGE 35, 30[]
  8. vgl. den Abdruck der Gesetzesbegründung in RdA 1951, 64[]
  9. BAG 23.10.2008 – 2 AZR 483/07, Rn. 72[]
  10. vgl. BAG 9.09.2010 – 2 AZR 482/09, Rn. 11; 10.06.2010 – 2 AZR 297/09, Rn. 13, jeweils mwN[]
  11. zur Problematik vgl. KR/Spilger 10. Aufl. § 9 KSchG Rn. 41; APS/Biebl 4. Aufl. § 9 KSchG Rn. 44[]