Auslegung eines Sanierungstarifvertrages – und das Redaktionsversehen

Bei der Auslegung von Tarifverträgen besteht eine Bindung an den möglichen Wortsinn dann nicht, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Tarifnormen das Vorliegen eines Redaktionsversehens ergibt.

Auslegung eines Sanierungstarifvertrages – und das Redaktionsversehen

Von einem solchen geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus, wenn die Tarifvertragsparteien lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten1.

Hinzu kam im vorliegenden Fall nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts noch ein weiteres Argument: Für einen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklungsmöglichkeit und damit ein Redaktionsversehen sprechen entscheidend Sinn und Zweck der tariflichen Regelungen des Sanierungstarifvertrags. Die Dauer der Beschäftigungssicherung richtet sich nach dem Zeitraum für die Sanierungsbeiträge (Einsparmaßnahmen). Erfolgen solche in den Jahren 2018 und 2019, sind betriebsbedingte Kündigungen in den Jahren 2018 bis 2021 ausgeschlossen; sind die Maßnahmen auf das Jahr 2018 beschränkt, wird die Beschäftigungssicherung von vier auf zwei Jahre verkürzt. Die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer und die von den Arbeitgebern zu gewährende Beschäftigungssicherung stehen erkennbar in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Dabei dauert die Beschäftigungssicherung doppelt so lange wie die Einsparmaßnahmen. In diesem Zusammenhang treten die Arbeitnehmer mit ihren Sanierungsbeiträgen in den Jahren 2018 und 2019 für eine Beschäftigungssicherung bis zum 31.12.2021 „in Vorleistung“. Bei einem Verkauf oder einer Insolvenz des Arbeitgebers werden die Sanierungsbeiträge „rückabgewickelt“ (§ 7 (1) Satz 1, (2) Zukunfts-TV)); im Gegenzug entfällt die Beschäftigungssicherung (§ 7 (1) Satz 5, (2) Zukunfts-TV)). Damit soll verhindert werden, dass sich die zugesagte Beschäftigungssicherung als Gegenleistung für bereits erbrachte Sanierungsbeiträge als „wertlos“ erweisen könnte, etwa weil ein Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach § 113 InsO kündigen oder es nach einem Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zu einer Weiterbeschäftigung zu (schlechteren) Bedingungen eines anderen Tarifvertrags kommen kann. Eine solche Störung des Gegenseitigkeitsverhältnisses von Sanierungsbeiträgen und Beschäftigungssicherung kann bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung eintreten. Sinn und Zweck der Regelung gebieten einen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklung. Dieser würde aufgelöst, wenn man abweichend von der Regelung in § 7 (1) und (2) Zukunfts-TV – „bis zum Auslaufen der Beschäftigungssicherung“ – davon ausginge, durch § 8 Satz 1 Zukunfts-TV werde das Verhältnis von Sanierungsbeiträgen und Beschäftigungssicherung trotz der anderslautenden Regelung in § 7 (1) Zukunfts-TV abgeändert. Die Beklagten machen ohne Erfolg geltend, Bestimmungen über die Rückabwicklung tariflicher Sanierungsbestimmungen seien grundsätzlich restriktiv auszulegen. Ein solcher Auslegungsgrundsatz besteht nicht. Die allgemeinen Grundsätze zur Tarifvertragsauslegung gelten in vollem Umfang auch für die Auslegung von Sanierungstarifverträgen. Gründe für die Anwendung anderer Maßstäbe sind nicht ersichtlich2. Diese ergeben – wie dargelegt, dass die Tarifvertragsparteien einen zeitlichen Gleichlauf von Beschäftigungssicherung und Rückabwicklung beabsichtigt haben.

Weiterlesen:
Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einschlägige Tarifverträge

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Mai 2022 – 4 AZR 454/21

  1. st. Rspr., zu den Anforderungen BAG 11.11.2020 – 4 AZR 210/20, Rn. 36; 19.06.2018 – 9 AZR 564/17, Rn. 32; 5.07.2017 – 4 AZR 831/16, Rn. 31; 13.12.1995 – 4 AZR 615/95, zu II 4 der Gründe, BAGE 82, 1; 31.10.1990 – 4 AZR 114/90, BAGE 66, 177[]
  2. vgl. zu Anerkennungstarifverträgen BAG 11.11.2020 – 4 AZR 210/20, Rn.20[]