Außerordentliche Kündigungen in der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie

§ 17 Nr. 6.2 des Manteltarifvertrags für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden der Eisen- und Stahlindustrie Ost (MTV Stahl Ost) vom 25.03.1991 schließt das Recht zur außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist aus betrieblichen Gründen weder komplett aus, noch bindet er es an das Vorliegen eines Sozialplans oder an die Zustimmung der Tarifvertragsparteien.

Außerordentliche Kündigungen in der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie

Beides folgt für das Bundesarbeitsgericht aus § 17 Nr. 8 MTV Stahl Ost. Gemäß Satz 1 der Vorschrift gelten „im Übrigen“ für ordentliche Kündigungen die gesetzlichen Bestimmungen. Nach ihrem Satz 2 bleiben die gesetzlichen Bestimmungen über „fristlose“ Kündigungen „unberührt“. Die Gegenüberstellung beider Sätze zeigt, dass die Tarifvertragsparteien den Ausdruck „fristlos“ nicht als Pendant zu „fristgerecht“, sondern als Pendant zu „ordentlich“ und damit als „außerordentlich“ iSv. § 626 Abs. 1 BGB verstanden haben. Der Ausdruck erfasst auch eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist. Das folgt daraus, dass auch eine nach § 17 Nr. 6.2 MTV Stahl Ost ausdrücklich mögliche personenbedingte außerordentliche Kündigung kaum jemals als fristlose in Betracht kommen dürfte1. Da die gesetzlichen Bestimmungen über außerordentliche Kündigungen – anders als die für ordentliche Kündigungen – nicht nur „im Übrigen“ gelten, sondern „unberührt“ bleiben, ist zugleich klargestellt, dass außerordentliche betriebsbedingte Kündigungen nicht an einschränkende Voraussetzungen – etwa das Vorliegen eines Sozialplans oder die Zustimmung beider Tarifvertragsparteien – gebunden sein sollen. § 17 Nr. 6.2 MTV Stahl Ost erwähnt die Kündigung aus betriebsbedingtem wichtigen Grund ersichtlich allein deshalb nicht, weil eine ordentliche Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen – anders als verhaltens- und personenbedingte ordentliche Kündigungen – nicht komplett ausgeschlossen, sondern „lediglich“ an die benannten Voraussetzungen gebunden ist.

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In Anbetracht der Regelungen des § 17 Nr. 8 MTV Stahl Ost kann dahinstehen, ob der vollständige Ausschluss des Rechts zur außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung verfassungsrechtlich bedenklich wäre2. Ebenso kann offenbleiben, ob im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG nicht besondere Anhaltspunkte für den Willen der Tarifvertragsparteien zu einer auch nur erheblichen Einschränkung dieses Rechts erforderlich wären. Diese fehlen regelmäßig, wenn eine solche Einschränkung – wie hier – „lediglich“ an die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter des Arbeitnehmers anknüpft, und es sich nicht um eine – zeitlich begrenzte – Gegenleistung des Arbeitgebers für einen Verzicht der Arbeitnehmer auf bestimmte Rechtsansprüche handelt3.

Schließlich muss der Arbeitgeber unter Geltung des § 17 Nr. 6.2 MTV Stahl Ost auch nicht einer ordentlichen Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen den Vorzug vor einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit Auslauffrist geben. Er muss deshalb nicht zunächst versuchen, einen Sozialplan abzuschließen oder die Zustimmung der Tarifvertragsparteien einzuholen. Beide Kündigungsformen stehen nach ihrer Ausgestaltung im MTV Stahl Ost vielmehr alternativ nebeneinander. Die beiden nicht ausgeschlossenen Möglichkeiten der ordentlichen Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen stellen nach den tariflichen Vorgaben nicht gleich wirksame Gestaltungsmittel dar. Für die Erteilung der Zustimmung der Tarifvertragsparteien sind keine abstrakten Maßstäbe festgelegt. Es ist auch kein zeitlicher Rahmen vorgesehen, innerhalb dessen diese über ein an sie herangetragenes Gesuch zu befinden hätten4. Einen Sozialplan kann der Arbeitgeber nach §§ 111 ff. BetrVG nur unter bestimmten – hier nicht erfüllten – Voraussetzungen und dann auch lediglich über den langwierigen Weg eines Einigungsstellenverfahrens (§ 112 Abs. 4 BetrVG) erzwingen. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass die Beklagte bereits vor Ausspruch der Kündigungen vom 27.02.2013 ohnehin erfolglos versucht hatte, sowohl mit dem Betriebsrat einen Sozialplan auszuhandeln als auch die Zustimmung der zuständigen Gewerkschaft zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin einzuholen.

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Eine auf betriebliche Gründe gestützte außerordentliche Kündigung kommt in Betracht, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung ausgeschlossen oder – wie hier – tariflich in einer Weise eingeschränkt ist, die ihren Vorrang aufhebt, und dies dazu führt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer andernfalls trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für Jahre vergüten müsste, ohne dass dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüberstünde. Allerdings ist der Arbeitgeber in diesem Fall in besonderem Maß verpflichtet zu versuchen, die Kündigung durch geeignete andere Maßnahmen zu vermeiden. Besteht irgendeine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzuführen, wird er den Arbeitnehmer in der Regel entsprechend einzusetzen haben. Erst wenn sämtliche denkbaren Alternativen ausscheiden, kann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vorliegen5.

Den hohen materiell-rechtlichen Anforderungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB entsprechen die prozessualen Anforderungen an den Umfang der Darlegungen des Arbeitgebers. Dieser hat von sich aus darzutun, dass keinerlei Möglichkeit besteht, das Arbeitsverhältnis – ggf. zu geänderten Bedingungen und nach entsprechender Umschulung – sinnvoll fortzusetzen. Das Fehlen jeglicher Beschäftigungsmöglichkeit zählt bei der außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung zum „wichtigen Grund“6.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Juni 2015 – 2 AZR 480/14

  1. vgl. BAG 20.03.2014 – 2 AZR 288/13, Rn. 26[]
  2. vgl. insofern schon BAG 5.02.1998 – 2 AZR 227/97, zu II 2 b der Gründe, BAGE 88, 10[]
  3. vgl. BAG 20.06.2013 – 2 AZR 379/12, Rn. 21, BAGE 145, 265 für den Ausschluss des Rechts zur außerordentlichen Kündigung und den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit aufgrund innerbetrieblicher Maßnahmen des Arbeitgebers[]
  4. vgl. BAG 20.03.2014 – 2 AZR 288/13, Rn. 32[]
  5. vgl. BAG 23.01.2014 – 2 AZR 372/13, Rn. 17; 20.06.2013 – 2 AZR 379/12, Rn. 15, BAGE 145, 265 jeweils mwN[]
  6. BAG 20.06.2013 – 2 AZR 379/12, Rn. 36, BAGE 145, 265; 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, Rn. 41[]
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