Außerordentliche Verdachtskündigung

Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektive Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.

Außerordentliche Verdachtskündigung

Der Verdacht muss auf konkrete; vom Kündigenden darzulegende und ggf. zu beweisende Tatsachen gestützt sein.

Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft.

Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus1.

Eine Verdachtskündigung kann nicht allein auf Erkenntnisse oder Maßnahmen der Staatsanwaltschaft und/oder Entscheidungen eines Ermittlungsrichters wie eine Anklageerhebung oder den Erlass eines Haftbefehls gestützt werden, selbst wenn sie auf der Annahme eines dringenden Tatverdachts beruhen oder ihn voraussetzen. Solche Umstände können für sich genommen allenfalls die Annahme des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer habe die Taten mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen, verstärken und damit für die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB Bedeutung gewinnen2. Sie bilden als solche aber keine objektive Tatsache, die den dringenden Verdacht eines bestimmten strafbaren Verhaltens begründen könnte.

Entscheidungen im Strafverfahren binden die über die Wirksamkeit einer (Verdachts-)Kündigung befindenden Gerichte für Arbeitssachen nicht. Diese haben vielmehr alle relevanten Umstände selbst zu würdigen3. Gleichwohl kann ein Freispruch im Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt einer Entlastung des Arbeitnehmers für die arbeitsgerichtliche Prüfung im Rahmen einer Verdachtskündigung Bedeutung gewinnen4. Das gilt nicht nur, wenn der Verdacht gegen den Arbeitnehmer im Strafverfahren vollständig ausgeräumt worden ist. Es reicht vielmehr aus, wenn Tatsachen festgestellt worden sind, die den Verdacht zumindest wesentlich abschwächen5.

Die mangelnde Bindung an das Strafurteil hindert die Gerichte für Arbeitssachen nicht, in der Entscheidung enthaltene Feststellungen im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen. Diese sind, wenn sich eine Partei auf das Strafurteil zu Beweiszwecken beruft, im Wege des Urkundenbeweises gemäß §§ 415, 417 ZPO zu verwerten6. Dabei dürfen die Gerichte für Arbeitssachen die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen aber nicht unbesehen übernehmen. Sie haben die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Überprüfung zu unterziehen und den Beweiswert einer ggf. lediglich urkundlich in den Worten des Strafrichters belegten Aussage sorgfältig zu prüfen7. Die beantragte Vernehmung von Zeugen darf nicht unter Hinweis auf die strafgerichtlichen Feststellungen abgelehnt werden. Außerdem müssen sich die Mitglieder des Spruchkörpers grundsätzlich einen persönlichen Eindruck von einem Zeugen verschaffen, wenn das Gericht auf dessen (Un-)Glaubwürdigkeit abstellen will. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die für die Würdigung maßgeblichen Umstände in den Akten festgehalten worden sind und die Parteien Gelegenheit hatten, sich dazu zu erklären8.

Diesen Maßstäben wird die hier angefochtene Entscheidung des Landesarbeitsgericht Düsseldorf9 nicht gerecht. Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass das Landesarbeitsgericht eine Wirksamkeit der Kündigung trotz des den Arbeitnehmer freisprechenden Urteils in Erwägung gezogen hat. Seine Entscheidung beruht aber auf unzureichenden Feststellungen zum Kündigungssachverhalt. Soweit das Landesarbeitsgericht eine Beweiswürdigung vorgenommen hat, lässt diese nicht erkennen, dass die Voraussetzungen und Grenzen von § 286 Abs. 1 ZPO eingehalten sind. In beidem liegt ein sachlich-rechtlicher Mangel, der im Rahmen einer – wie hier, zulässigen Revision ohne Bindung an die erhobenen Rügen zu berücksichtigen ist10.

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Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Arbeitnehmer sei „zum Zeitpunkt der Kündigung“ dringend verdächtig gewesen, Schülerinnen in der Schule sexuell belästigt zu haben. Die Arbeitgeberin habe sich auf die Beschwerde der Eltern der Schülerinnen G und O, deren Strafanzeigen und die Aussagen dieser und weiterer Schülerinnen im Ermittlungsverfahren, auf die Anklageschrift vom 18.05.2010 und insbesondere die darin enthaltenen Vorwürfe, Schülerinnen unterhalb der Kleidung angefasst bzw. gestreichelt zu haben, sowie die vorgerichtliche Einlassung des Arbeitnehmers berufen, er habe die Schülerin G in den Arm genommen und ihr dabei an das Gesäß gefasst. „Damit“ habe sie konkrete Tatsachen vorgetragen, die den dringenden Verdacht begründeten, der Arbeitnehmer habe die behaupteten Berührungen während des Unterrichts vorgenommen. Die Verdachtsmomente bestünden weiterhin. Alle Zeuginnen hätten in ihren Anhörungen bzw. Vernehmungen im Ermittlungsverfahren, vor dem Amtsgericht und dem Landgericht „Anlastungen“ gegen den Arbeitnehmer vorgebracht. Die im Rahmen der gerichtlichen Vernehmung erhobenen Vorwürfe seien, wie im Urteil der Strafkammer des Landgerichts ausgeführt, alle ähnlicher Natur und ähnlichen Inhalts gewesen. Eine kollektive Falschbelastung aufgrund einer Kollektivbefragung oder eines Komplotts habe sicher ausgeschlossen werden können. Die Schülerinnen hätten sich zum Zeitpunkt der Vornahme der behaupteten Handlungen entweder nur vom Sehen oder überhaupt nicht gekannt und ihre „Anlastungen“ teils in großem zeitlichen Abstand vorgebracht. Selbst das Landgericht habe festgestellt, dass sich der Arbeitnehmer – in einem Fall – gegenüber der Schülerin O in einer für einen Lehrer unangemessenen und jedenfalls moralisch zu verurteilenden Weise übergriffig verhalten habe, indem er sich auf einen Stuhl neben sie gesetzt und begonnen habe, mit seiner Hand den Schulterbereich und den Rücken der Schülerin bis hinab zum Hosenbund über deren Kleidung zu streicheln. Auf die Strafbarkeit des Verhaltens komme es nicht an. Aufgrund der Gesamtumstände verbleibe zumindest der dringende Verdacht, der Arbeitnehmer habe mehrere Schülerinnen während des Unterrichts in nicht zu akzeptierender Weise berührt. Die Interessenabwägung gehe zum Nachteil des Arbeitnehmers aus. Mit dem dringenden Verdacht des sexuellen Missbrauchs habe der Arbeitnehmer das zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauensverhältnis zerstört.

Diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsfehlern.

Es ist bereits unklar, welchen konkreten Verhaltens das Landesarbeitsgericht den Arbeitnehmer als dringend verdächtig angesehen hat. Seine Annahme, der Verdacht beziehe sich auf „nicht zu akzeptierende“ Berührungen, ist – abgesehen von dem als „übergriffig“ eingestuften Verhalten gegenüber der Schülerin O – ungenau und einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht zugänglich. Die Würdigung lässt nicht erkennen, hinsichtlich welcher konkreten Handlungen nach Art und Intensität es letztlich davon ausgegangen ist, es bestehe eine große Wahrscheinlichkeit, dass der Arbeitnehmer sie tatsächlich vorgenommen habe. Entsprechend ungenau bleibt die rechtliche Beurteilung, soweit das Landesarbeitsgericht bei seiner Prüfung der ersten Stufe des wichtigen Grundes angenommen hat, der Tatverdacht beziehe sich auf eine sexuelle Belästigung von Schülerinnen, während es im Rahmen der Interessenabwägung auf einen „sexuellen Missbrauch“ abgestellt hat. Es ist unklar, ob das Landesarbeitsgericht mit der Verwendung dieses Begriffs eine besondere Schwere der Belästigung angenommen und auf welche Tatsachen es ggf. eine solche Annahme gestützt hat.

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Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts greift außerdem zu kurz, soweit es in den elterlichen Beschwerden, Strafanzeigen und den „Anlastungen“ der Schülerinnen im Rahmen ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren, auf denen die Anklageschrift aufbaut, deshalb hinreichende verdachtsbegründende Umstände hinsichtlich einer sexuellen Belästigung erblickt hat, weil es an Anhaltspunkten für eine kollektive Falschbelastung fehle. Zwar kann sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein vom Arbeitnehmer gezeigtes strafbares Verhalten oder eine sonstige erhebliche Pflichtwidrigkeit auch daraus ergeben, dass ein oder mehrere Zeugen übereinstimmend ein bestimmtes Verhalten ähnlicher Natur oder ähnlichen Inhalts schildern. In diesem Sinne können auch Aussagen Betroffener oder mittelbarer Zeugen eine „objektive“ Tatsache für einen bestimmten Geschehensablauf darstellen, die eine Verdachtskündigung rechtfertigen kann. Dies erfordert aber eine sorgfältige, mögliche Fehlerquellen umfassend berücksichtigende Auseinandersetzung mit der Glaubhaftigkeit der jeweiligen Aussage und der Glaubwürdigkeit der Auskunftsperson(en). Dabei sind auch nach dem Kündigungszeitpunkt eingetretene Umstände zu berücksichtigen, insbesondere etwaige Änderungen von oder Widersprüchlichkeiten in den Aussagen von Belastungszeugen11. Der anzufechtenden Entscheidung ist nicht zu entnehmen, dass das Landesarbeitsgericht eine dahingehende Prüfung vorgenommen hat. Diese war umso mehr veranlasst als das Landgericht im Rahmen seines Strafurteils – auch auf der Grundlage eines eingeholten aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens – eine äußerst geringe (Detail-)Qualität der Aussagen der vernommenen Schülerinnen bei zum Teil fehlenden Realkennzeichen, zum Teil fehlender Schilderung eigenpsychologischen Erlebens, zum Teil gravierende Inkonstanzen und darüber hinaus bestehende Aggravationen in den Bekundungen der von der Strafkammer vernommen Schülerinnen festgestellt hat.

Schließlich verkennt das Landesarbeitsgericht – wohl – nicht, dass die rechtlichen Beurteilungen der Strafkammer für die Entscheidung über die Kündigung nicht bindend sind. Vor diesem Hintergrund ist es aber zumindest ungenau, wenn das Landesarbeitsgericht teilweise Würdigungen aus dem Strafurteil übernimmt. Nicht diese sind im vorliegenden Rechtsstreit maßgeblicher Streitstoff, sondern der von der Arbeitgeberin vorgetragene, im Rahmen von § 286 ZPO frei zu würdigende Sachverhalt ist es.

Die Sache war an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Die angefochtene Entscheidung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).

Das Bundesarbeitsgericht kann nicht abschließend beurteilen, ob ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorliegt.

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Allerdings ist nach dem bisherigen Sach- und Streitstand davon auszugehen, dass zwei Vorfälle unstreitig bzw. als unstreitig anzusehen sind. Zum einen hat der Arbeitnehmer vorgerichtlich erklärt, die Schülerin G (jedenfalls) in den Arm genommen und ihr dabei an das Gesäß gefasst hat. Von dieser Einlassung hat er sich später nicht distanziert. Sein „einfaches“ prozessuales Bestreiten sollte sich erkennbar auf ihm angelastete weitergehende Handlungen gegenüber der Schülerin beziehen. Zum anderen ist anzunehmen, dass der Arbeitnehmer sich im Herbst 2006 anlässlich eines Nachhilfeunterrichts auf einen Stuhl neben seine damalige Schülerin O setzte und – vorgebend, sich für ihre schriftlichen Ausarbeitungen zu interessieren – begann, für eine unbestimmte Zeit mit seiner Hand den Schulterbereich und den Rücken der Schülerin bis hinab zum Hosenbund oberhalb der Kleidung zu streicheln, und dass er, nachdem die Schülerin mit ihrem Stuhl ein wenig von ihm abgerückt war, ihr nachrückte und sein Verhalten fortsetzte bzw. wiederholte. Die Arbeitgeberin hat sich die dahingehenden, im Urteil des Landgerichts als „gesichert“ angesehenen Feststellungen jedenfalls konkludent zu eigen gemacht. Ihr betreffendes Vorbringen ist gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen. Zwar hat der Arbeitnehmer den Vortrag „einfach bestritten“. Nach den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast genügt ein solches Bestreiten des Arbeitnehmers als Gegner des primär darlegungspflichtigen Arbeitgebers aber nicht, wenn es ihm zuzumuten ist, dem Arbeitgeber die Darlegung durch nähere Angaben über die zu seinem Wahrnehmungsbereich gehörenden Verhältnisse zu ermöglichen, weil er, anders als der außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs stehende darlegungsbelastete Arbeitgeber, die wesentlichen Tatsachen kennt12. So liegt es hier. Der Arbeitnehmer hat dem detailreichen Vorbringen der Arbeitgeberin keinen abweichenden Geschehensablauf entgegen gesetzt, obwohl er in nahem zeitlichem Zusammenhang mit dem Vorfall anlässlich der Nachhilfestunde konfrontiert worden war und deshalb davon ausgegangen werden kann, dass ihm der Sachverhalt in Erinnerung geblieben ist. Soweit er im Rahmen seiner früheren Befragung angegeben hatte, die Schülerin sei durch eine andere Lehrerin zu den Vorwürfen „angestiftet“ worden, ist dieser Einwand – unterstellt, der Arbeitnehmer habe an seiner Behauptung festhalten wollen – unsubstantiiert und nicht geeignet, der ihn treffenden sekundären Darlegungslast zu genügen.

Das Landesarbeitsgericht wird zu prüfen und zu bewerten haben, ob die Kündigung bereits unter den vorgenannten Gesichtspunkten – insoweit aufgrund nachgewiesener Pflichtverletzung im Sinne einer „Tat“ – gerechtfertigt ist. Dabei wird es im Ergebnis nicht entscheidend darauf ankommen, ob das Verhalten als sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG zu werten ist. Auch unabhängig davon liegt in den Berührungen eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung. Der Behandlung als Tatkündigung steht nicht entgegen, dass die Arbeitgeberin die Kündigung als Verdachtskündigung erklärt hat13.

Eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG stellt – unabhängig von ihrer Strafbarkeit – nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar, die „an sich“ als wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Sie liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu insbesondere sexuell bestimmte körperliche Berührungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein etwa von Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen14. Sexuell bestimmt ist eine körperliche Berührung ohne Weiteres dann, wenn ihre Sexualbezogenheit auf Grund des äußeren Erscheinungsbilds nach allgemeinem Verständnis erkennbar ist, etwa beim – auch kurzen – unmittelbaren Berühren der primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale, und zwar unabhängig davon, ob die Körperteile bekleidet oder unbekleidet sind15. Daneben können aber auch ambivalente Handlungen, dh. Verhaltensweisen, die das Geschlechtliche im Menschen nicht unmittelbar zum Gegenstand haben, wie bspw. Umarmungen, sexuell bestimmt sein. Ob eine Sexualbezogenheit vorliegt, ist insoweit nach dem Eindruck eines objektiven Betrachters, der alle Umstände kennt, zu beurteilen16. Bei solchen (ambivalenten) Handlungen kann auch zu berücksichtigen sein, ob der Handelnde von sexuellen Absichten geleitet war17.

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Die Umarmung der Schülerin G bei gleichzeitiger Berührung ihres Gesäßes und das wiederholte Streicheln der Schülerin O über den gesamten Rücken bis hinab zum Hosenbund aus der Position des Nebeneinandersitzens heraus können im vorliegenden Handlungsrahmen unerwünschte, sexuell bestimmte Verhaltensweisen darstellen. „Pädagogische Gründe“ – etwa dergestalt, dass die Handlungen dazu bestimmt waren, die Schülerinnen zu trösten – sind nicht ansatzweise erkennbar; und vom Arbeitnehmer auch nicht angeführt worden. Deren Fehlen kann ein Indiz für die sexuelle Konnotation der Berührung bilden, wobei allerdings die beweisrechtliche Würdigung dem Landesarbeitsgericht vorbehalten ist. Das in Rede stehende Verhalten, insbesondere das wiederholte Streicheln über den gesamten Rücken eines Grundschulkindes ohne äußere Veranlassung, ist in dem von persönlicher Abhängigkeit gekennzeichneten Lehrer-Schüler-Verhältnis geeignet, ein Umfeld zu schaffen, das zu Schamgefühlen und Einschüchterungen führen kann. Darauf, ob die betroffenen Schülerinnen eine ablehnende Haltung verdeutlicht haben, kommt es, zumal ihnen aufgrund ihres damaligen kindlichen Alters die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung fehlte – nicht an. Im Übrigen ist nach dem bisherigen Streitverhältnis davon auszugehen, dass jedenfalls die Schülerin O durch ihr „Wegrücken“ ihre ablehnende Haltung zum Ausdruck brachte.

Unabhängig von einem sexuellen Bezug der Handlungen hat der Arbeitnehmer mit den Berührungen gegen seine Pflicht verstoßen, außerhalb pädagogisch nachvollziehbarer Anlässe strikt körperliche Distanz zu Schülern zu wahren. Gemäß dem umfassenden Bildungsauftrag der Schule (§ 2 SchulG NRW) hat ein Lehrer gegenüber Schülern nicht nur die Pflicht zum Unterricht, sondern auch zur Achtung des Erziehungsrechts der Eltern (§ 2 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW). Deswegen bedarf er in besonderem Maße des uneingeschränkten Vertrauens sowohl seines Arbeitgebers als auch der Eltern, die ihre der Schulpflicht unterliegenden Kinder in die Obhut der Schule geben. Eltern und Öffentlichkeit müssen darauf vertrauen können, dass ein Lehrer seine minderjährigen Schüler nicht in verfängliche Situationen bringt, die es als fraglich erscheinen lassen, dass er die psychische und physische Integrität, die Intimsphäre sowie die sexuelle Selbstbestimmung der Schüler ausnahmslos in der gebotenen Weise respektiert18. Bereits um den Schulbetrieb potentiell beeinträchtigende Sorgen der Eltern zu vermeiden, ist daher jedes Verhalten zu unterlassen, das den berechtigten Verdacht entsprechender Grenzüberschreitungen begründet19. Für das Arbeitsverhältnis einer deutschem Recht unterliegenden Lehrkraft an einer ausländischen Schule in Deutschland, die der Schulpflicht unterliegende, in Deutschland lebende Kinder besuchen, kann – unabhängig von der staatlichen Anerkennung der Schule – nichts anderes gelten. Die elementare Pflicht zur ausnahmslosen Wahrung der Intimsphäre der Schüler ist auch Ausdruck der die Lehrkraft treffenden Rücksichtnahmepflicht auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers aus § 241 Abs. 2 BGB.

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Ob angesichts des unstreitigen Verhaltens des Arbeitnehmers eine Abmahnung ausgereicht hätte, das Risiko künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden, kann nicht abschließend beurteilt werden. Dem Landesarbeitsgericht kommt bei dieser Prüfung ein tatrichterlicher Beurteilungsspielraum zu. Entsprechendes gilt für die Prüfung, ob der Beklagen jedenfalls die Einhaltung der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht20. Dabei wird zum einen auf die Intensität der körperlichen Berührungen abzustellen sein. Zum anderen wird mit Blick auf das Erfordernis einer Abmahnung zu prüfen sein, ob den Umständen nach bereits ex ante erkennbar war, dass eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers auch nach entsprechender Warnung nicht zu erwarten stand21. Für die Entbehrlichkeit einer Abmahnung könnte jedenfalls sprechen, dass der Arbeitnehmer sein Verhalten gegenüber der Schülerin O auch dann noch fortgesetzt hat, nachdem sie die Unerwünschtheit des Streichelns über den Rücken zum Ausdruck gebracht hatte. Auch hat der Arbeitnehmer gemäß den – soweit ersichtlich nicht bestrittenen – Behauptungen der Arbeitgeberin auf den Vorhalt, er habe die Schülerin G in übergriffiger Weise am Gesäß berührt, mit ironischen Bemerkungen reagiert. Dies kann auf einen Unwillen des Arbeitnehmers hindeuten, die objektive Unerwünschtheit seines Verhaltens anzuerkennen, und – in Verbindung mit dem Verhalten gegenüber der Schülerin O – ein Anhaltspunkt für seine Bereitschaft sein, ständig über das hinauszugehen, was im Verhältnis zu ihm als Lehrkraft anvertrauten Kindern sozial adäquat ist.

Sollte das Landesarbeitsgericht zu der Einschätzung gelangen, wegen der unstrittigen Vorfälle sei zumindest eine (Tat-)Kündigung mit sofortiger Wirkung nicht berechtigt gewesen, wird es zu bewerten haben, ob ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB deshalb vorliegt, weil der Arbeitnehmer – bezogen auf den Kündigungszeitpunkt – dringend verdächtig ist, weitergehende sexuell bestimmte Handlungen an Schülerinnen vorgenommen zu haben, insbesondere Schülerinnen – teils während sie bei ihm auf dem Schoß saßen – unterhalb der Kleidung am Bauch, am Rücken und/oder im Bereich des nackten Gesäßes oder – wie im Fall der Schülerin G behauptet – „vorn an der nackten Scheide“ gestreichelt bzw. berührt zu haben. Hinsichtlich der in diesem Zusammenhang zu treffenden Feststellungen – auch bezüglich der Dringlichkeit des Verdachts – wird sich das Landesarbeitsgericht mit der Glaubhaftigkeit der Angaben der jeweiligen Schülerinnen auseinanderzusetzen haben, wobei nach dem bisherigen Sach- und Streitstand unter Berücksichtigung entsprechender Anträge der Arbeitgeberin im Schriftsatz vom 24.06.2014 eine Verwertung der in polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungsprotokollen sowie den im Strafurteil festgehaltenen Aussagen in Betracht kommt. Der Arbeitnehmer, der sich zu seiner Entlastung selbst auf das Strafurteil berufen hat, hat eine unmittelbare Vernehmung der Schülerinnen bisher nicht beantragt. Die Arbeitgeberin hat insoweit lediglich einen nachrangigen Beweisantrag gestellt. Sollte das Landesarbeitsgericht im Rahmen einer eigenständigen Würdigung der urkundlich belegten Aussagen der Schülerinnen – etwa aufgrund mangelnder Kohärenz und/oder Erlebnisfundiertheit – keine hinreichende Überzeugung von der Dringlichkeit des in Rede stehenden Verdachts gewinnen können, wird es erwägen müssen, die benannten Schülerinnen selbst zu vernehmen. Ob die Arbeitgeberin sich zusätzlich auf das Zeugnis der Eltern der Schülerinnen G und O als mittelbare Auskunftspersonen hat berufen wollen, ist bisher nicht eindeutig. Jedenfalls ist ein konkreter Beweisantritt insoweit nicht aktenkundig, worauf die Arbeitgeberin ggf. hinzuweisen sein wird. Am Ergebnis der Beweiswürdigung wird sich schließlich die vom Landesarbeitsgericht erneut vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung und Interessenabwägung zu orientieren haben.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 2. März 2017 – 2 AZR 698/15

  1. BAG 17.03.2016 – 2 AZR 110/15, Rn. 39[]
  2. BAG 25.10.2012 – 2 AZR 700/11, Rn. 16, BAGE 143, 244[]
  3. BAG 22.01.1998 – 2 AZR 455/97, zu II 2 e aa der Gründe[]
  4. vgl. BAG 18.06.2015 – 2 AZR 256/14, Rn. 46[]
  5. so bereits BAG 24.04.1975 – 2 AZR 118/74, zu II 5 b der Gründe, BAGE 27, 113[]
  6. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 26, BAGE 149, 355[]
  7. vgl. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 28, aaO; BGH 13.06.1995 – VI ZR 233/94, zu II 2 a der Gründe[]
  8. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 29 f., aaO[]
  9. LAG Düsseldorf, Urteil vom 27.08.2015 – 3 Sa 140/15[]
  10. hinsichtlich der Beweiswürdigung vgl. BAG 11.12 2014 – 6 AZR 562/13, Rn. 17[]
  11. BAG 14.09.1994 – 2 AZR 164/94, zu II 3 d der Gründe, BAGE 78, 18[]
  12. BAG 16.07.2015 – 2 AZR 85/15, Rn. 41[]
  13. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 21, BAGE 149, 355[]
  14. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn. 16, 17, BAGE 150, 109[]
  15. vgl. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn. 18, aaO[]
  16. ErfK/Schlachter 17. Aufl. § 3 AGG Rn. 21; MünchKommBGB/Thüsing § 3 AGG Rn. 66[]
  17. vgl. BGH 21.09.2016 – 2 StR 558/15, Rn. 12; Schrader/Schubert in Däubler/Bertzbach AGG 3. Aufl. § 3 Rn. 77a; HaKo-BAGchR/Zimmermann 5. Aufl. § 1 KSchG Rn. 450[]
  18. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 40, BAGE 149, 355[]
  19. vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen Disziplinarsenat 30.03.2017 – 3d A 1512/13.O, Rn. 104[]
  20. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn. 24, BAGE 150, 109[]
  21. BAG 23.10.2014 – 2 AZR 865/13, Rn. 47, BAGE 149, 355[]