Aussetzung eines Verfahrens wegen der Verfassungsbeschwerde in einem vorgreiflichen Verfahren

Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Das Gesetz stellt die Aussetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts. Eine Aussetzung muss nur dann erfolgen, wenn sich das Ermessen des Gerichts auf null reduziert hat1. Gegenüber dem vorrangigen Zweck einer Aussetzung – einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern – sind insbesondere die Nachteile einer langen Verfahrensdauer und die dabei entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen2. Dabei ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG ebenso zu berücksichtigen wie die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer (§ 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff. GVG).

Aussetzung eines Verfahrens wegen der Verfassungsbeschwerde in einem vorgreiflichen Verfahren

Im vorliegend entschiedenen Fall konnte es das Bundesarbeitsgericht dahinstehen lassen, ob die Auffassung zutrifft, wonach es wegen der rechtskräftigen Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden über die Kündigung bereits an einem vorgreiflichen Rechtsverhältnis, das Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits ist, fehlt. Denn jedenfalls war die (evtl. vorgreifliche) Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden nach Verwerfung der Berufung der Beklagten als unzulässig (§ 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG iVm. § 522 Abs. 1 ZPO) und (spätestens) nach der Entscheidung über deren Anhörungsrüge (§ 78a ArbGG) rechtskräftig geworden ist. Hieran ändert die erhobene Verfassungsbeschwerde nichts. Bei ihr handelt es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt und die Pflicht des Unterlegenen, das Urteil zu befolgen, nicht beseitigt3. Damit steht (zunächst) rechtskräftig fest, dass die Kündigung vom 23.04.2012 unwirksam war.

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Kommt allerdings das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der erhobenen Verfassungsbeschwerde zu dem Ergebnis, dass das Recht der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt wurde und hebt es die Beschlüsse des Landesarbeitsgerichts gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG auf, stünde die Wirksamkeit der Kündigung erneut im Streit. Deshalb spricht manches dafür, dass trotz des anderen Streitgegenstandes der Verfassungsbeschwerde4 die Annahme des Bestehens eines vorgreiflichen Rechtsstreits und eine entsprechende Anwendung des § 148 ZPO im Einzelfall nicht ausgeschlossen sind5.

Die Vorgreiflichkeit eines Rechtsstreits ist kein Ermessenskriterium, sondern eine Voraussetzung des § 148 ZPO, die erfüllt sein muss, damit das Ermessen des Gerichts überhaupt eröffnet ist6.

Führen Parteien einen Rechtsstreit über Entgeltansprüche, die von der Wirksamkeit einer Kündigung abhängen, über die bereits eine (nicht rechtskräftige) Entscheidung zugunsten des Arbeitnehmers vorliegt, kommt eine Aussetzung dieses Rechtsstreits regelmäßig nicht in Betracht. Dem steht der Umstand entgegen, dass der Arbeitnehmer typischerweise auf seine Vergütung angewiesen ist und sich nicht auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweisen lassen muss, wenn ein Vergütungsanspruch gegen den Arbeitgeber besteht. Der arbeitsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 ArbGG) verbietet in solchen Fällen regelmäßig, eine Aussetzung vorzunehmen7. Für eine ermessensfehlerfreie Aussetzungsentscheidung müssen in einem solchen Fall besondere Gründe des Einzelfalls vorliegen, die das schützenswerte Interesse des Arbeitnehmers an einer auch vorläufigen Existenzsicherung ausnahmsweise überwiegen8. Der Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit, nämlich den Rechtsstreit über die Vergütung ggf. deutlich zu vereinfachen, kann dabei keine Rolle spielen. Diese Erwägungen gelten erst recht, wenn das zunächst vorgreifliche Verfahren über die Wirksamkeit einer Kündigung rechtskräftig abgeschlossen und lediglich ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt ist. Solche besonderen Gründe hat das Arbeitsgericht weder erwogen noch hat die Beklagte diese vorgetragen. Sie hat sich vielmehr ausschließlich auf die Vorgreiflichkeit ihrer Verfassungsbeschwerde berufen. Allein die Gefahr widersprechender Entscheidungen bei einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde und einem Erfolg der Beklagten im dann fortzusetzenden Kündigungsschutzprozess führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Arbeitgeberin bleibt auch im Fall einer Ablehnung der Aussetzung nicht schutzlos. Sollte es nach einem Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde im Ergebnis zur Abweisung der Kündigungsschutzklage kommen, stünde ihr, falls der Vergütungsklage rechtskräftig stattgegeben worden ist, die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO zur Verfügung9. Ob in Fällen, in denen erkennbar eine Überschreitung der 5-Jahres-Frist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO droht, etwas anderes gilt, kann dahinstehen. Dafür gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte.

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Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16. April 2014 – 10 AZB 6/14

  1. BAG 17.06.2003 – 2 AZR 245/02, zu B II 2 a der Gründe, BAGE 106, 293[]
  2. BAG 17.06.2003 – 2 AZR 245/02, zu B II 2 c der Gründe, aaO[]
  3. BVerfG 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, zu C III 2 a aa der Gründe, BVerfGE 107, 395; 18.01.1996 – 1 BvR 2116/94, zu B der Gründe, BVerfGE 93, 381[]
  4. vgl. dazu Zuck Das Recht der Verfassungsbeschwerde 4. Aufl. Rn.19[]
  5. vgl. zu dieser Möglichkeit: BVerfG 11.01.2000 – 1 BvR 1392/99, zu II 2 der Gründe; BAG 28.01.1988 – 2 AZR 296/87, zu II 3 a der Gründe; BGH 17.07.2013 – IV ZR 150/12 – [jeweils zu anhängigen Verfassungsbeschwerden über ein entscheidungserhebliches Gesetz]; BAG 27.01.1998 – 3 AZR 430/96, zu A der Gründe [zu Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen in Parallelfällen][]
  6. BVerfG 22.09.2008 – 1 BvR 1707/08, Rn.19, BVerfGK 14, 270[]
  7. vgl. zB LAG Köln 19.06.2006 – 3 Ta 60/06; LAG Schleswig-Holstein 24.11.2006 – 2 Ta 268/06; Hessisches LAG 3.07.2002 – 12 Ta 213/02; Thüringer LAG 27.06.2001 – 6/9 Ta 160/00; Düwell/Lipke/Kloppenburg ArbGG 3. Aufl. § 55 Rn. 25; GK-ArbGG/Schütz Stand Dezember 2013 § 55 Rn. 48; GMP/Germelmann ArbGG 8. Aufl. § 55 Rn. 29; Schwab/Weth/Korinth ArbGG 3. Aufl. § 55 Rn. 43; vgl. auch BVerfG 22.09.2008 – 1 BvR 1707/08, Rn.20, BVerfGK 14, 270[]
  8. LAG Köln 14.12 1992 – 11 Ta 234/92[]
  9. vgl. BAG 7.11.2002 – 2 AZR 297/01, zu B I 6 der Gründe, BAGE 103, 290; vgl. auch BGH 23.11.2006 – IX ZR 141/04, zu I 2 b der Gründe[]
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