Beitragspflichten zu der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird ein Betrieb vom betrieblichen Geltungsbereich der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe in der jeweils maßgeblichen Fassung (VTV) erfasst, wenn in ihm arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten ausgeführt werden, die unter die Abschnitte I bis V des § 1 Abs. 2 VTV fallen.

Beitragspflichten zu der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft
  • Betriebe, die überwiegend eine oder mehrere der in den Beispielen des § 1 Abs. 2 Abschn. V VTV genannten Tätigkeiten ausführen, fallen unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV, ohne dass die Erfordernisse der allgemeinen Merkmale der Abschnitte I bis III geprüft werden müssen.
  • Nur wenn in dem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend nicht die in den Abschnitten IV und V genannten Beispielstätigkeiten versehen werden, muss darüber hinaus untersucht werden, ob die ausgeführten Tätigkeiten die allgemeinen Merkmale der Abschnitte I bis III erfüllen1.

Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass in einem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend baugewerbliche Tätigkeiten verrichtet werden, obliegt der Sozialkasse. Sein Sachvortrag ist schlüssig, wenn er Tatsachen vorträgt, die den Schluss zulassen, der Betrieb des Arbeitgebers werde vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfasst. Dazu gehört neben der Darlegung von Arbeiten, die sich § 1 Abs. 2 VTV zuordnen lassen, auch der Vortrag, dass diese Arbeiten zeitlich überwiegen. Ist entsprechender Tatsachenvortrag gehalten, hat sich der Arbeitgeber hierzu nach § 138 Abs. 2 ZPO zu erklären. Das substantiierte Bestreiten kann sich auf die Art und/oder den Umfang der verrichteten Arbeiten beziehen. Um feststellen zu können, welche Tätigkeiten in welchem Umfang ausgeübt wurden, muss der Arbeitgeber im Rahmen des substantiierten Bestreitens entsprechende Tatsachen vortragen. Dazu gehört, dass er die zeitlichen Anteile der verschiedenen Tätigkeiten darlegt2.

Nach § 1 Abs. 2 Abschn. II VTV unterfallen Betriebe dem betrieblichen Geltungsbereich, die nach ihrer durch die Art der betrieblichen Tätigkeiten geprägten Zweckbestimmung und nach ihrer betrieblichen Einrichtung gewerblich bauliche Leistungen erbringen, die dazu dienen, Bauwerke zu erstellen, instand zu setzen, zu ändern oder zu beseitigen. Die Vorschrift erfasst alle Arbeiten, die irgendwie – wenn auch nur auf einem kleinen und speziellen Gebiet – der Errichtung und Vollendung von Bauwerken oder auch der Instandsetzung oder Instandhaltung von Bauwerken zu dienen bestimmt sind, sodass diese in vollem Umfang ihre bestimmungsgemäßen Zwecke erfüllen können3. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Arbeiten baulich geprägt sind. Das ist der Fall, wenn sie nach Herkommen und Üblichkeit bzw. nach den verwendeten Werkstoffen, Arbeitsmitteln und Arbeitsmethoden des Baugewerbes ausgeführt werden4.

Es kann auch dann um einen baugewerblichen Betrieb handeln, wenn die für die Änderung eines Bauwerks erforderlichen Tätigkeiten nicht ausschließlich auf der Baustelle selbst, sondern zum überwiegenden Teil in der Werkstatt des Arbeitgebers durchgeführt werden5. Unerheblich ist, ob die einzelnen Arbeitsschritte ihrerseits als bauliche Leistung iSv. § 1 Abs. 2 VTV zu qualifizieren sind. Da für die den Betrieb prägende Zweckbestimmung der Zweck der Gesamtleistung entscheidend ist, ist darauf abzustellen, welchem Zweck die erledigten einzelnen Arbeitsschritte dienen. Ohne Bedeutung ist daher, welchen Anteil die einzelnen Arbeitsschritte an der Gesamtarbeitszeit des Betriebs einnehmen6.

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Beruft sich ein Arbeitgeber auf eine der Ausnahmen des § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV, trägt er insoweit die Darlegungs- und Beweislast. Die Darlegungslast dafür, dass er im Klagezeitraum einen Betrieb des Schreinerhandwerks geführt hat und sein Betrieb deshalb nach § 1 Abs. 2 Abschn. VII Nr. 11 VTV vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV nicht erfasst wurde, oblag damit dem Arbeitgebers. Er musste dazu Tatsachen vortragen, die den Schluss zuließen, dass seine Arbeitnehmer in den jeweiligen Kalenderjahren des Klagezeitraums zu mehr als 50 % ihrer Arbeitszeit Schreinerarbeiten ausführten7.

Das SokaSiG – und die Allgemeinverbindlichkeit der VTV

Der Arbeitgeber war ungeachtet seiner fehlenden Verbandszugehörigkeit nach § 5 Abs. 4 TVG an den VTV 2005 gebunden. Die AVE VTV 2006 ist wirksam. Das hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg am 4.08.2015 in dem Verfahren nach § 98 ArbGG entschieden8. Der rechtskräftige Beschluss wirkt für und gegen jedermann auf den Zeitpunkt des Erlasses der AVE VTV 2006 zurück (§ 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG; BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 37; GK-ArbGG/Ahrendt Stand April 2019 § 98 Rn. 7, 49).

Gegen die Geltungserstreckung der VTV 2007 I, 2007 II und 2009 auf den nicht tarifgebundenen Arbeitgebers durch § 7 Abs. 7 bis Abs. 9 iVm. Anlagen 32 bis 34 SokaSiG bestehen aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts keine verfassungsrechtlichen Bedenken9.

§ 7 SokaSiG ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar10.

GG schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen. Geschützt sind auch alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, darunter insbesondere die Tarifautonomie. Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen. Geschützt ist daher vor allem der Abschluss von Tarifverträgen. Das schließt den Bestand und die Anwendung abgeschlossener Tarifverträge ein11.

Soweit es um die Koalitionsfreiheit der am Abschluss der Verfahrenstarifverträge beteiligten Tarifvertragsparteien und ihrer Mitglieder geht, liegt ein Eingriff in den Schutzbereich fern. Das durch den Antrag der Tarifvertragsparteien auf Allgemeinverbindlicherklärung zum Ausdruck gekommene Ziel, die Geltung der abgeschlossenen Tarifverträge auf Außenseiter zu erstrecken, wird durch das SokaSiG gerade erreicht. § 7 SokaSiG hat die Verfahrenstarifverträge inhaltlich nicht verändert. Er ordnet wie eine Allgemeinverbindlicherklärung die Geltung der Verfahrenstarifverträge für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer an.

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Das SokaSiG greift ferner nicht in die Tarifautonomie der konkurrierenden Tarifvertragsparteien ein, die für die Betriebe zuständig sind, die aufgrund der Großen Einschränkungsklausel von der Geltung des VTV ausgenommen sind. Ihnen sei es nach Auffassung des Arbeitgebers aufgrund der Großen Einschränkungsklausel verwehrt, selbst rechtsetzend tätig zu werden. Das Bundesarbeitsgericht teilt diese Ansicht nicht. Die Große Einschränkungsklausel in der Fassung der Anlage 37 des SokaSiG schränkt die Tarifautonomie konkurrierender Verbände nicht ein. Sie gewährleistet vielmehr, dass die Arbeitgeber der ausgenommenen Betriebe und die sie repräsentierenden Verbände eigene Tarifverträge abschließen können. Damit wird deren Tarifautonomie gesichert.

Ebenso wenig wird durch § 7 SokaSiG die negative Koalitionsfreiheit eingeschränkt. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung des VTV einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmöglichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde12.

Ein Eingriff in die Tarifautonomie ist im Übrigen jedenfalls gerechtfertigt.

Beeinträchtigungen der vorbehaltlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit durch gesetzliche Regelungen können zugunsten der Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden. Sollen sie die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern, verfolgen sie einen legitimen Zweck. Der Gesetzgeber hat die Rechtsinstitute und Normenkomplexe zu setzen, die dem Handeln der Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung verschaffen13. Er darf insbesondere die Ordnungsfunktion der Tarifverträge unterstützen, indem er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder mittelbar zur Anwendung kommen14.

Das Gesetz verfolgt einen legitimen Zweck. Es dient dazu, den Fortbestand der Sozialkassenverfahren des Baugewerbes und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, indem es die Anwendung der seit dem 1.01.2006 geltenden Verfahrenstarifverträge auf Nichtverbandsmitglieder ausdehnt15. Darüber hinaus schafft es Bedingungen für einen fairen Wettbewerb16.

Die Geltungserstreckung auf Außenseiter durch § 7 SokaSiG ist geeignet, diesen Zweck zu erreichen. Verfassungsrechtlich bedarf es nur der Möglichkeit, dass der erstrebte Erfolg so gefördert werden kann, also die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. Die Regelungen dürfen lediglich nicht von vornherein untauglich sein. Der Gesetzgeber hat auch hier einen Einschätzungsspielraum für die Beurteilung der tatsächlichen Grundlagen einer Regelung. Die Grenze liegt dort, wo sich deutlich erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat17. Dahingehende Anhaltspunkte sind nicht gegeben.

Aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts bestehen keine Bedenken gegen die Erforderlichkeit von § 7 SokaSiG.

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Für die Einschätzung, ob ein Gesetz erforderlich ist, verfügt der Gesetzgeber über einen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Daher können Maßnahmen, die er zum Schutz eines wichtigen Ziels für erforderlich hält, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den ihm bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisherigen Erfahrungen feststellbar ist, dass Regelungen, die als Alternativen in Betracht kommen, die gleiche Wirksamkeit versprechen, die Betroffenen indessen weniger belasten. Eine Regelung ist erforderlich, wenn jedenfalls kein eindeutig sachlich gleichwertiges, also zweifelsfrei gleich wirksames, die Grundrechtsberechtigten aber weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung steht, um den mit dem Gesetz verfolgten Zweck zu erreichen. Nicht zu prüfen ist, ob es bessere Lösungen für die hinter einem Gesetz stehenden Probleme gibt18.

Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass aufgrund der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 21.09.201619 nicht nur Rückforderungsansprüche drohten, sondern auch der Einzug noch ausstehender Beiträge erschwert werde. Die ausnahmslose Heranziehung der Arbeitgeber sorge für einen fairen Wettbewerb20. Das Gesetz beende bestehende Unsicherheiten hinsichtlich im Raum stehender Rückforderungsansprüche und stelle den aktuellen Beitragseinzug sicher21.

Aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts hält sich diese Einschätzung in den Grenzen, die dem Gesetzgeber für die Beurteilung der Erforderlichkeit eröffnet sind. Das SokaSiG dient dazu, den Fortbestand der Sozialkassenverfahren des Baugewerbes zu sichern und Bedingungen für einen fairen Wettbewerb zu schaffen. Dieser Zweck kann nur erreicht werden, wenn die Lasten von allen Arbeitgebern gemeinsam und solidarisch getragen werden. Da die Sozialkassen nicht auf Gewinnerzielung angelegt sind, müssen die Beiträge, auch für zurückliegende Zeiträume, gleichmäßig eingezogen werden. Das Gesetz ist zudem erforderlich, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Solche träten ein, wenn Arbeitgeber die ordnungsgemäßen Meldungen unterlassen und nachträglich nicht dazu herangezogen werden könnten, Beiträge zu leisten22.

Schließlich sind die mit § 7 SokaSiG verbundenen Belastungen zumutbar. Die mit § 7 SokaSiG bezweckte Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe sowie die Herstellung von Bedingungen für einen fairen Wettbewerb stehen im allgemeinen Interesse23 und stellen einen gewichtigen Belang im Rahmen der durchzuführenden Abwägung dar. Demgegenüber wird die Tarifautonomie der vom SokaSiG erfassten Arbeitgeber und Verbände nur mit geringer Intensität beeinträchtigt. Der Gesetzgeber ist mit dem SokaSiG nur in einem Teilbereich der von den Tarifvertragsparteien regelbaren Materien rechtsetzend tätig geworden. Im Übrigen hat er die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien unberührt gelassen.

Die gesetzliche Geltungserstreckung auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber ist nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts mit der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit vereinbar24. Argumente, die zu einer anderen Beurteilung führten, hat der Arbeitgeber nicht aufgezeigt.

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§ 7 SokaSiG verstößt aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Das gilt nicht nur mit Blick auf den Ausschluss möglicher Rückforderungsansprüche25, sondern auch hinsichtlich der Beitragspflicht selbst. Ein möglicher Eingriff wäre jedenfalls gerechtfertigt26.

§ 7 SokaSiG verletzt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art.20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden27. Der gegenteiligen Auffassung des Arbeitgebers stimmt das Bundesarbeitsgericht nicht zu.

Der Arbeitgeber musste wie alle Betroffenen mit der nachträglichen – gesetzlichen – Bestätigung der Beitragspflicht aufgrund der Verfahrenstarifverträge rechnen. Unerheblich ist sein Einwand, es sei unklar, auf welchen Fall zulässiger Rückwirkung sich der Gesetzgeber berufen wolle. Ob der Sachverhalt einer der von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen zugeordnet werden kann, ist unerheblich. Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen28.

Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts hat der Gesetzgeber mit dem SokaSiG die in der Entscheidung vom 21.09.201629 festgestellten formellen Mängel geheilt. Sowohl die unterbliebene Beteiligung der Bundesministerin als auch die unzureichende Ermittlung der Schätzgrundlage zur Bestimmung der Großen Zahl stellen Verfahrensfehler dar. Deshalb hat das Bundesarbeitsgericht nicht darüber befunden, ob die Allgemeinverbindlicherklärung selbst dann nicht hätte ergehen dürfen, wenn dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen der ihm obliegenden Prüfung genau zu diesem Zweck aufbereitetes und als Schätzgrundlage verwertbares Datenmaterial vorgelegen hätte30.

Bis zum 20.09.2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV in den Fassungen der Anlagen 32 bis 34 des SokaSiG, auf die § 7 Abs. 7 bis Abs. 9 SokaSiG verweist31. Beitragsklagen wurden nicht „durchgewinkt“. Vielmehr entsprach es der weit überwiegenden Rechtsansicht, dass diese Fassungen des VTV wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden waren. Die bei dem Arbeitgebers und anderen in Anspruch genommenen Arbeitgebern gehegten Zweifel waren keine geeignete Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf der Annahme der fehlenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhenden Dispositionen nicht nachträglich die Grundlage entzogen werden würde32. Das gilt auch, soweit der Arbeitgeber geltend macht, angenommen zu haben, die Einhaltung des Quorums nach § 5 TVG aF sei nicht erfüllbar bzw. nicht nachweisbar.

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Der Arbeitgeber beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung durch eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen33. Ein Vertrauen, nur aufgrund einer wirksamen Allgemeinverbindlicherklärung in Anspruch genommen zu werden, ist daher nicht schutzwürdig.

Aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts entfällt die Beitragspflicht des Arbeitgebers nicht deshalb, weil die Anwendung des SokaSiG auf den konkreten Einzelfall mit Grundrechten unvereinbar wäre.

Der Arbeitgeber beruft sich darauf, die Sozialkasse habe ihn zur Zahlung von Beiträgen herangezogen, während er bei anderen Arbeitgebern trotz vergleichbarer Sachverhalte davon abgesehen habe. Die Sozialkasse habe sein Beurteilungsermessen damit ausgeübt und sei auch ihm gegenüber gebunden.

Dieser Einwand einschließlich der zugrunde liegenden Tatsachen wurde erstmals in der Revisionsbegründung vorgebracht. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts enthält dazu keine ausdrücklichen Feststellungen. In den im Urteil in Bezug genommenen Schriftsätzen des Arbeitgebers sowie in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht findet sich ebenfalls kein dahingehender Vortrag. Damit handelt es sich um neuen Tatsachenvortrag in der Revisionsinstanz, der nach § 72 Abs. 5 ArbGG, § 559 ZPO nicht zu berücksichtigen ist34.

Selbst wenn der Vortrag berücksichtigt würde, folgte daraus kein anderes Ergebnis. Der Arbeitgeber könnte wegen einer unterbliebenen Inanspruchnahme anderer Arbeitgeber nicht für sich reklamieren, ebenfalls nicht zur Beitragszahlung herangezogen zu werden. Dies liegt schon daran, dass er die Vergleichsgruppe und die tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Vergleichbarkeit ergeben soll, nicht hinreichend substantiiert darlegt.

Jedenfalls ist nicht ersichtlich, inwiefern sich der Arbeitgeber auf eine Praxis der Sozialkasse, bestimmte Arbeitgeber nicht zur Zahlung von Beiträgen heranzuziehen, obwohl sie nach dem VTV dazu verpflichtet wären, berufen könnte. Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen „Verwaltungspraxis“. Insoweit gibt es keine „Gleichheit im Unrecht“35.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. Mai 2019 – 10 AZR 559/17

  1. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 18; 19.02.2014 – 10 AZR 428/13, Rn. 10[]
  2. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn.19 mwN[]
  3. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 512/17, Rn. 23; 19.02.2014 – 10 AZR 428/13, Rn. 21[]
  4. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 669/13, Rn. 24[]
  5. vgl. BAG 22.11.1995 – 10 AZR 500/95, zu II 2 a der Gründe[]
  6. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 669/13, Rn. 24; 22.11.1995 – 10 AZR 500/95, zu II 2 b der Gründe[]
  7. vgl. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 512/17, Rn. 25; 20.04.2005 – 10 AZR 282/04, zu II 4 a der Gründe[]
  8. LAG Berlin-Brandenburg 4.08.2015 – 7 BVL 5007/14, 7 BVL 5008/14, zu 2.3 der Gründe[]
  9. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 42 ff.[]
  10. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 45 ff.[]
  11. BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 130 f., BVerfGE 146, 71; BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 46[]
  12. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 52[]
  13. BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 143 ff., BVerfGE 146, 71[]
  14. BVerfG 11.07.2006 – 1 BvL 4/00, Rn. 90, BVerfGE 116, 202; BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 47[]
  15. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 48 ff.; vgl. BT-Drs. 18/10631 S. 1, 647[]
  16. vgl. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 51; BT-Drs. 18/10631 S. 1, 648[]
  17. BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 159 mwN, BVerfGE 146, 71[]
  18. vgl. BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 162, BVerfGE 146, 71; BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 49[]
  19. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, BAGE 156, 213; – 10 ABR 48/15, BAGE 156, 289[]
  20. BT-Drs. 18/10631 S. 1 ff., 647 ff.[]
  21. BT-Drs. 18/10631 S. 649[]
  22. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 51[]
  23. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 59; BT-Drs. 18/10631 S. 1 f.[]
  24. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 53 ff.[]
  25. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 56 ff.[]
  26. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn. 54 ff. mwN[]
  27. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 68 ff.[]
  28. vgl. BVerfG 17.12 2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 64, BVerfGE 135, 1[]
  29. BAG 21.09.2016 – 10 ABR 33/15, BAGE 156, 213[]
  30. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 94 ff.[]
  31. vgl. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 77 ff.[]
  32. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 79 ff.[]
  33. BAG 20.11.2018 – 10 AZR 121/18, Rn. 51[]
  34. BAG 25.09.2013 – 5 AZR 617/13 (F), Rn. 3[]
  35. BVerfG 28.06.1993 – 1 BvR 390/89, Rn. 13[]
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