Ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften liegt ua. vor, wenn bei der Wahl der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff verkannt wurde1. Betriebsratsfähige Organisationseinheiten liegen vor, wenn es sich bei den Einrichtungen um Betriebe iSv. § 1 Abs. 1 BetrVG, um selbständige Betriebsteile nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG oder um betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten iSv. § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG handelt.

Im Falle einer tarifvertraglich gewillkürten Vertretungsstruktur liegt ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften vor, wenn eine Betriebsratswahl unter Anwendung eines unwirksamen Tarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG durchgeführt wurde2 oder der Wahlvorstand bei der Anwendung eines wirksamen Tarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG die danach maßgebliche betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit verkannt hat3. Ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften liegt ebenfalls vor, wenn der Wahlvorstand eine tarifvertraglich gewillkürte Vertretungsstruktur zugrunde legt, die bei dem Arbeitgeber aus anderen Gründen nicht gilt und es sich bei der zugrunde gelegten Einheit nicht um einen Betrieb iSv. § 1 Abs. 1 BetrVG bzw. einen selbständigen Betriebsteil nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG handelt.
Betrieb oder Betriebsteil?
Für die Abgrenzung von Betrieb und Betriebsteil ist der Grad der Verselbständigung entscheidend, der im Umfang der Leitungsmacht zum Ausdruck kommt. Erstreckt sich die in der organisatorischen Einheit ausgeübte Leitungsmacht auf alle wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten, handelt es sich um einen eigenständigen Betrieb iSv. § 1 BetrVG. Für das Vorliegen eines Betriebsteils iSv. § 4 Abs. 1 BetrVG genügt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb. Dazu reicht es aus, dass in der organisatorischen Einheit überhaupt eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert ist, die Weisungsrechte des Arbeitgebers ausübt. Zu einer eigenen betriebsverfassungsrechtlichen Einheit wird ein derartiger Betriebsteil jedoch erst unter den zusätzlichen Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG (räumlich weite Entfernung vom Hauptbetrieb) oder Nr. 2 (Eigenständigkeit durch Aufgabenbereich und Organisation)4.
Der Begriff des als selbständig geltenden Betriebs iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Bei der Beurteilung, ob es sich bei einer Organisationseinheit um einen Betrieb iSd. § 1 BetrVG oder um einen selbständigen oder unselbständigen Betriebsteil handelt, steht dem Gericht der Tatsacheninstanz ein Beurteilungsspielraum zu. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts ist in der Rechtsbeschwerde nur daraufhin überprüfbar, ob es den Rechtsbegriff selbst verkannt, gegen Denkgesetze, anerkannte Auslegungs- und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände außer Acht gelassen hat5. Entsprechendes gilt für das Tatbestandsmerkmal der „räumlich weiten Entfernung“ iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG6.
Betriebsteile können nach § 4 Abs. 1 BetrVG nur bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BetrVG als Betriebe gelten, also wenn in ihnen mindestens fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer, von denen drei wählbar sind, beschäftigt sind. Zudem erfordert die Einordnung als Betriebsteil iSv. § 4 Abs. 1 BetrVG Feststellungen, die die Annahme rechtfertigen, in einer bestimmten organisatorischen Einheit sei mit einem Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert.
Anpassungen durch einen Zuordnungs-Tarifvertrag
Gilt für die Arbeitgeberin im Wahlzeitpunkt (noch) die in einem Zuordnungs-Tarifvertrag festgelegte Vertretungsstruktur, wäre die Betriebsratswahl für eine anderweitige Organisationseinheit unter Verkennung des Betriebsbegriffs erfolgt und anfechtbar. Ein Rückgriff auf die gesetzlichen Vertretungsstrukturen käme dann nicht in Betracht. Denn für die Zeit der zwingenden Wirkung eines Tarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG wird das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsrecht vom Tarifvertrag verdrängt7.
Durch Strukturveränderungen kann jedoch das Substrat für die durch einen Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG errichtete betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit mit der Folge entfallen, dass die tarifliche Regelung ihre Wirksamkeit verliert8. Die tarifvertraglich gebildete Einheit kann ihre Identität verlieren9. So kann beispielsweise die Grundlage für Spartenbetriebsräte iSv. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG verloren gehen, wenn der Arbeitgeber die Spartenorganisation aufgibt. Auch im Rahmen der gesetzlichen Betriebsverfassung ist es dem Arbeitgeber unbenommen, durch organisatorische Veränderungen Betriebe im Sinne des BetrVG zu bilden, zusammenzulegen, zu spalten oder zu zerschlagen. Das ist im Rahmen der tariflich gewillkürten Betriebsverfassungsstrukturen nicht anders10. Die Arbeitgeberin ist daher nicht gehindert, ihr Unternehmen umzustrukturieren. Jedenfalls dann, wenn ein Umstrukturierungsverbot nicht klar im Tarifvertrag geregelt ist, verpflichtet dieser den Arbeitgeber weder schuldrechtlich noch normativ, Entscheidungen über die Organisation seines Unternehmens und dessen Betrieb zu unterlassen oder solche Entscheidungen umzusetzen11.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 21. Juni 2023 – 7 ABR 19/22
- vgl. BAG 23.11.2016 – 7 ABR 3/15, Rn. 30; 19.11.2003 – 7 ABR 25/03, zu C I 1 der Gründe mwN[↩]
- vgl. hierzu BAG 29.07.2009 – 7 ABR 27/08, Rn. 11, BAGE 131, 277[↩]
- BAG 13.03.2013 – 7 ABR 70/11, Rn. 26, BAGE 144, 290; 21.09.2011 – 7 ABR 54/10, Rn. 29, BAGE 139, 197[↩]
- BAG 26.05.2021 – 7 ABR 17/20, Rn. 33 mwN, BAGE 175, 104[↩]
- st. Rspr., vgl. BAG 28.04.2021 – 7 ABR 10/20, Rn. 27 mwN, BAGE 175, 1[↩]
- BAG 17.05.2017 – 7 ABR 21/15, Rn. 21; ebenso zu dem in § 24 Abs. 3 WO BetrVG verwendeten wortlautidentischen Begriff BAG 16.03.2022 – 7 ABR 29/20, Rn. 34[↩]
- Richardi/Richardi/Maschmann BetrVG 17. Aufl. § 3 Rn. 70[↩]
- BAG 21.09.2011 – 7 ABR 54/10, Rn. 47 f., BAGE 139, 197[↩]
- vgl. auch Fitting 31. Aufl. § 3 Rn. 86a[↩]
- BAG 21.09.2011 – 7 ABR 54/10, Rn. 48, aaO[↩]
- Fitting 31. Aufl. § 3 Rn. 86; Meyer SAE 2013, 49, 50 f.; aA DKW/Trümner 18. Aufl. § 3 Rn.198a f.[↩]