Bindung an übereinstimmende Erledigungserklärungen

Die das Prozessrechtsverhältnis gestaltenden übereinstimmenden Erledigungserklärungen iSv. § 91a ZPO können von den Parteien nicht einvernehmlich beseitigt werden.

Bindung an übereinstimmende Erledigungserklärungen

Bei Prozesshandlungen wie den Erledigungserklärungen iSv. § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO handelt es sich um sogenannte Bewirkungshandlungen. Sie beeinflussen die Prozesslage unmittelbar, da die Rechtshängigkeit der Hauptsache allein durch die korrespondierenden Erklärungen der Parteien und nicht erst durch Richterspruch entfällt1. Solche Bewirkungshandlungen sind, nachdem sie bei Gericht eingegangen sind, grundsätzlich nicht mehr widerruflich2. Etwas anderes gilt ausnahmsweise, wenn ein Restitutionsgrund iSv. § 580 ZPO vorliegt oder der Widerruf durch ein Gesetz ausdrücklich gestattet ist3. Beides trifft vorliegend nicht zu.

Umstände, die das Einräumen eines Widerrufsrechts unter teleologischen oder systematischen Erwägungen gebieten würden4 und an die wegen der Gefahr einer Verzögerung des Verfahrensablaufs bzw. des Eintritts der Rechtssicherheit unter dem Gesichtspunkt der Kostengerechtigkeit5 und der bezweckten Prozessökonomie iSv. § 91a ZPO6 strenge Voraussetzungen zu knüpfen wären, liegen im Streitfall nicht vor.

Die Parteien haben die Erledigung des Rechtsstreits auch nicht durch ihre späteren dahingehenden Erklärungen übereinstimmend beseitigt.

Vom Widerruf der einzelnen Erklärung ist die Beseitigung der (teilweisen) Erledigung des Rechtsstreits durch entsprechende übereinstimmende Erklärungen der Parteien zu unterscheiden. Einem solchen konsensualen „actus contrarius“ steht bereits der Wegfall der Rechtshängigkeit durch die übereinstimmende Erledigungserklärung entgegen7.

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Unabhängig davon wäre im Streitfall die in Teilen des Schrifttums vor dem Hintergrund der Prozessökonomie und der Dispositionsfreiheit der Parteien8 grundsätzlich als zulässig erachtete übereinstimmende Beseitigung der Erledigungserklärungen bis zur Entscheidung über die Kosten nach § 91a ZPO ausgeschlossen. Ließe man den Widerruf der Erledigungserklärungen zu, würden die Parteien damit nämlich mehr als bei einer erneuten Klageerhebung, an der der Kläger durch eine übereinstimmende Erledigungserklärung nicht gehindert ist9, erreichen. Eine solche Klage hätte nämlich wegen des Wegfalls des Feststellungsinteresses für die Klageanträge infolge der unstreitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.09.2020 keinen Erfolg. Demgegenüber müsste das Bundesarbeitsgericht im vorliegenden Fall bei Entfall der übereinstimmenden Erledigungserklärungen wegen der erneuten, einseitig gebliebenen Erledigungserklärung des Klägers aus dem Schriftsatz vom 02.03.2021 nach § 91a ZPO darüber entscheiden, ob die für erledigt erklärten Anträge ursprünglich zulässig und begründet gewesen sind, im Ergebnis also ein Rechtsgutachten erstatten, das den Gerichten verwehrt ist10.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 8. November 2022 – 6 AZR 133/20

  1. BGH 12.04.2011 – VI ZB 44/10, Rn. 5; 8.02.1989 – IVa ZR 98/87, zu IV der Gründe, BGHZ 106, 359; LG Köln 14.05.2021 – 14 O 99/20, zu II 1 a der Gründe mwN; BVerwG 30.11.1999 – 5 B 214.99 4; MünchKomm-ZPO/Schulz 6. Aufl. § 91a Rn. 23; Hk-ZPO/Gierl 9. Aufl. § 91a Rn. 17[]
  2. vgl. BAG 5.06.2020 – 10 AZN 53/20, Rn. 47, BAGE 171, 28; 10.01.2017 – 10 AZN 938/16 (A), Rn. 13 mwN, BAGE 158, 1; BGH 23.10.2015 – V ZR 76/14, Rn. 18 mwN; 14.05.2013 – II ZR 262/08, Rn. 7[]
  3. BGH 14.05.2013 – II ZR 262/08, Rn. 7 mwN; 31.10.2001 – XII ZR 292/99, zu B I der Gründe[]
  4. sh. BGH 23.10.2015 – V ZR 76/14, Rn. 18; 31.10.2001 – XII ZR 292/99, zu B I der Gründe[]
  5. dazu BAG 2.01.2018 – 6 AZR 235/17, Rn.19, BAGE 161, 257[]
  6. OLG Stuttgart 8.05.2007 – 6 W 35/07, Rn. 28; MünchKomm-ZPO/Schulz 6. Aufl. § 91a Rn. 1; Musielak/Voit/Flockenhaus ZPO 19. Aufl. § 91a Rn. 1 mwN[]
  7. MünchKomm-ZPO/Schulz 6. Aufl. § 91a Rn. 35; Musielak/Voit/Flockenhaus ZPO 19. Aufl. § 91a Rn. 16; Hk-ZPO/Gierl 9. Aufl. § 91a Rn. 25[]
  8. so MünchKomm-ZPO/Lindacher 4. Aufl. § 91a Rn. 38 mwN; BeckOK ZPO/Jaspersen Stand 1.09.2022 § 91a Rn. 17.1[]
  9. vgl. BGH 28.05.1991 – IX ZR 181/90, zu B I 4 der Gründe; MünchKomm-ZPO/Schulz 6. Aufl. § 91a Rn. 39 mwN; Anders/Gehle/Gehle ZPO 80. Aufl. § 91a Rn. 110[]
  10. vgl. zB BAG 8.03.2022 – 1 ABR 19/21, Rn. 52[]
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