Das Strafurteil im Kündigungsschutzprozess

Ein Zivilgericht darf sich, um eine eigene Überzeugung davon zu gewinnen, ob sich ein bestimmtes Geschehen zugetragen hat, auf ein dazu ergangenes Strafurteil stützen.

Das Strafurteil im Kündigungsschutzprozess

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, zumutbar ist1.

Das dem Kläger, einem im Landesdienst angestellten Lehrer, vorgeworfene Verhalten stellt einen sexuellen Missbrauch eines Kindes im dienstlichen Bereich dar und ist „an sich“ als wichtiger Grund für eine außerordentliche fristlose Tatkündigung geeignet2. Der Behandlung als Tatkündigung steht nicht entgegen, dass das beklagte Land eine Verdachtskündigung erklärt haben könnte. Das gälte selbst dann, wenn der Personalrat lediglich zu einer solchen angehört worden wäre3. Der Vortrag des beklagten Landes ist nicht nach § 288 Abs. 1 ZPO als unstreitig zugrunde zu legen. Der Kläger hat in erster Instanz kein Geständnis erklärt4. Die betroffenen Schülerinnen mussten gleichwohl nicht vernommen werden. Das Gericht durfte sich seine Überzeugung anhand der Feststellungen des Landgerichts bilden, die dieses auf die Aussagen der drei „Belastungszeugen“ im Strafverfahren gestützt hat.

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Ein Zivilgericht darf sich, um sich eine eigene Überzeugung davon zu bilden, ob sich ein bestimmtes Geschehen zugetragen hat, auf ein dazu ergangenes Strafurteil stützen. Zwar sind die in einem strafrichterlichen Urteil enthaltenen Feststellungen für die zu derselben Frage Zivilgerichte grundsätzlich nicht bindend. Sie können aber im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Zivilrichters iSv. § 286 Abs. 1 ZPO Berücksichtigung finden. Das Strafurteil ist, wenn eine Partei sich zu Beweiszwecken darauf beruft, im Wege des Urkundenbeweises gemäß §§ 415, 417 ZPO zu verwerten5. Entgegen der Auffassung des Klägers erschöpft sich die Möglichkeit, die Akten eines anderen Rechtsstreits als Beweisurkunde heranzuziehen, nicht in der Verwertung von schriftlichen Aussagen und Protokollen über die Aussagen von Zeugen6.

Mit der Verwertung von Feststellungen eines Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises wird schon deshalb keine „Erkenntnisquelle dritten Rangs“ zur Entscheidungsgrundlage erhoben7, weil die Strafprozessordnung ein Wortlautprotokoll grundsätzlich nicht vorsieht. Soweit in Verfahren vor dem Strafrichter oder dem Schöffengericht nach § 273 Abs. 2 StPO das wesentliche Vernehmungsergebnis zu protokollieren und damit ein knappes Inhaltsprotokoll zu fertigen ist, erstreckt sich die Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO nicht auf den Inhalt der protokollierten Aussage. Vielmehr sind grundsätzlich die Urteilsgründe maßgeblich8. Eine vollständige Niederschreibung von Aussagen erfolgt lediglich unter den engen Voraussetzungen des § 273 Abs. 3 StPO.

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Es kommt hinzu, dass der Zivilrichter die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen nicht unbesehen übernehmen darf. Er hat die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Überprüfung zu unterziehen9 und den Beweiswert der früheren, lediglich urkundlich in den Worten des Strafrichters belegten Aussage sorgfältig zu prüfen10.

Außerdem darf die Vernehmung von Zeugen nicht unter Hinweis auf die strafgerichtlichen Feststellungen abgelehnt werden11. Eine Verwertung der früheren, im Strafurteil wiedergegebenen Aussagen im Wege des Urkundenbeweises anstelle der beantragten Anhörung ist unzulässig, wenn eine Partei zum Zwecke des unmittelbaren Beweises die Vernehmung des Zeugen verlangt12.

Schließlich muss sich das Zivilgericht grundsätzlich einen persönlichen Eindruck von einem Zeugen verschaffen, wenn es auf dessen (Un-)Glaubwürdigkeit abstellen möchte. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die für die Würdigung maßgeblichen Umstände in den Akten festgehalten worden sind und die Parteien Gelegenheit hatten, sich dazu zu erklären13.

Diesen Anforderungen werden das Beweisverfahren und die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts gerecht. Die hiergegen erhobenen Rügen des Klägers sind, soweit zulässig, unbegründet.

Aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergibt sich, dass das Landesarbeitsgericht das rechtskräftige Strafurteil des Landgerichts im Wege des Urkundenbeweises (§§ 415 ff. ZPO) herangezogen und verwertet hat.

Der Kläger hat nicht auf einer Vernehmung der drei „Belastungszeugen“ durch das Landesarbeitsgericht bestanden. Seine Erklärung im ersten Termin zur Berufungsverhandlung war dahin zu verstehen, dass er sich mit einer Verwertung des Strafurteils hinsichtlich der Aussagen aller im Strafverfahren vernommenen Zeugen einverstanden erkläre. Jedenfalls konnte ihm angesichts des auf eine Vernehmung des damaligen Personalratsvorsitzenden beschränkten Beweisbeschlusses des Landesarbeitsgerichts nicht entgangen sein, dass dieses zu dem Kündigungsvorwurf keine Zeugen zu vernehmen gedachte. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger die Vernehmung bestimmter Personen verlangt und Widerspruch oder doch Bedenken gegen die offenbar beabsichtigte umfassende Verwertung des Strafurteils geäußert hätte. Bei dieser Sachlage ist die Rüge, das Landesarbeitsgericht habe gegen Verfahrensrecht verstoßen, indem es von einer eigenen Vernehmung der fraglichen Zeugen abgesehen habe, nicht ausreichend begründet iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO14.

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Aufgrund der Darlegungen des Landgerichts in seinen Urteilsgründen durfte das Landesarbeitsgericht davon ausgehen, dass dort die Ergebnisse der Hauptverhandlung richtig festgehalten worden sind. Der Kläger hat auch nicht geltend gemacht, dass das Strafurteil insoweit Fehler enthalte, als es das Geschehen in der Hauptverhandlung unzutreffend wiedergebe.

Die Rüge des Klägers, das Landesarbeitsgericht habe die vom Landgericht getroffenen Feststellungen ungeprüft übernommen, ist nicht berechtigt. Das angefochtene Urteil enthält eine ins Einzelne gehende eigene Sachverhaltswürdigung.

Die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand.

Eine vom Berufungsgericht nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgenommene Beweiswürdigung unterliegt nur einer eingeschränkten Kontrolle. Es ist lediglich zu prüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen und Grenzen des § 286 ZPO beachtet hat. Seine Würdigung muss in sich widerspruchsfrei, ohne Verletzung von Denkgesetzen sowie allgemeinen Erfahrungssätzen erfolgt und rechtlich möglich sein15.

Dem wird die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts gerecht. Es hat in sich schlüssig und widerspruchsfrei dargelegt, warum es für erwiesen hält, dass der Kläger die Schülerin B in der ihm vorgeworfenen Weise unsittlich berührt hat. Hierzu hat es den gesamten Prozessstoff verwertet und insbesondere aufgezeigt, warum es deren Aussagen im Strafverfahren folgt.

Das Landesarbeitsgericht hat die dortigen Bekundungen der Schülerin sorgfältig nachvollzogen und berücksichtigt, aus welchen Gründen diese bewusst oder unbewusst eine falsche Aussage gemacht haben könnte. Es hat die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben unter Orientierung an den Kriterien für die Erstellung von Glaubhaftigkeitsgutachten16 umfassend analysiert. Rechtsfehlerfrei hat es aus ihnen den Schluss gezogen, dass die belastenden Angaben auf ein tatsächlich erlebtes Geschehen zurückgehen. Soweit es auf das Aussageverhalten der Schülerin in der Strafverhandlung abgestellt hat, sind die maßgeblichen Tatsachen in den Akten festgehalten und hatte der Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme. Seinem Einwand, die Zeugin könne dadurch zu einer Falschbelastung motiviert worden sein, dass er sie – absprachegemäß – bereits nach einer Unterrichtsstunde nach Hause geschickt habe, ist das Landesarbeitsgericht zu Recht nicht gefolgt. Es hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eine derartige Abrede keinen Sinn gemacht hätte. Die Zeugin und ihre vom Kläger – für eine Doppelstunde – unterrichtete Freundin I wollten gerade gemeinsam den Heimweg antreten. Die Freundin habe zudem bekundet, dass die Zeugin ihr vor Verlassen des Informatikraums fast unter Tränen mitgeteilt habe, der Kläger habe sie geküsst.

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Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass die Bekundungen der beiden Zeuginnen durch die Äußerungen des Schülers K gegenüber dem Klassenlehrer gestützt würden. Dies durfte es auch ohne einen persönlichen Eindruck von dem Schüler tun. Dessen Glaubwürdigkeit spielte keine Rolle. Das Landesarbeitsgericht hat seine Äußerungen, die er als Zeuge in der Strafverhandlung als gelogen bezeichnet hat, für glaubhaft erachtet, weil er sie bereits spontan im Informatikraum gegenüber Mitschülern und noch am Abend des 16.09.2009 gegenüber seiner Mutter gemacht habe.

Schließlich hat das Landesarbeitsgericht eine „Verschwörung“ gegen den Kläger als fernliegend verworfen. Dazu hat es ohne Rechtsfehler darauf abgestellt, dass weder ein autonomes Motiv für eine Absprache der Schülerin B und des Schülers K ersichtlich sei, noch der Kläger nachvollziehbar dargetan habe, Klassenlehrer und Schulleiter hätten ihn schon vor Bekanntwerden des Kündigungsvorwurfs „loswerden“ wollen und könnten zu diesem Zwecke die beiden Schüler in der geschehenen Weise als „Werkzeuge“ eingesetzt haben.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 2 AZR 865/13

  1. BAG 10.04.2014 – 2 AZR 684/13, Rn. 39; 21.11.2013 – 2 AZR 797/11, Rn. 15, BAGE 146, 303[]
  2. vgl. BAG 25.10.2012 – 2 AZR 700/11, Rn. 18, BAGE 143, 244; 9.06.2011 – 2 AZR 323/10, Rn. 16[]
  3. vgl. BAG 23.06.2009 – 2 AZR 474/07, Rn. 55 ff., BAGE 131, 155[]
  4. zu den Anforderungen vgl. BVerfG 6.02.2001 – 1 BvR 1030/00, zu II 2 b der Gründe; BGH 7.07.1994 – IX ZR 115/93, zu I 2 a der Gründe[]
  5. OLG Hamm 7.09.2012 – 9 W 4/12, zu II der Gründe; OLG Zweibrücken 1.07.2010 – 4 U 7/10, zu II 2 der Gründe[]
  6. vgl. dazu BAG 12.07.2007 – 2 AZR 666/05, Rn.20; BGH 13.06.1995 – VI ZR 233/94, zu II 2 a der Gründe[]
  7. vgl. BGH 2.03.1973 – V ZR 57/71, zu 1 a der Gründe[]
  8. vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt StPO 57. Aufl. § 273 Rn. 13 ff. und § 274 Rn. 10[]
  9. BGH 2.03.1973 – V ZR 57/71, zu 1 a der Gründe[]
  10. BGH 13.06.1995 – VI ZR 233/94, zu II 2 a der Gründe[]
  11. BGH 14.02.1967 – VI ZR 139/65; OLG Köln 11.01.1991 – 19 U 105/90[]
  12. BAG 12.07.2007 – 2 AZR 666/05, Rn.20; BGH 13.06.1995 – VI ZR 233/94, zu II 2 a der Gründe[]
  13. BGH 13.06.1995 – VI ZR 233/94, zu II 2 b der Gründe[]
  14. vgl. BAG 12.07.2007 – 2 AZR 666/05, Rn. 21[]
  15. BAG 8.05.2014 – 2 AZR 1005/12, Rn. 21; 21.06.2012 – 2 AZR 694/11, Rn. 28, BAGE 142, 188[]
  16. vgl. BGH 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – BGHSt 45, 164[]
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