Das unterbliebene betriebliche Eingliederungsmanagement – und die Kündigungszustimmung des Integrationsamts

Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung begründet nicht die Vermutung, dass ein (unterbliebenes) betriebliches Eingliederungsmanagement die Kündigung nicht hätte verhindern können.

Das unterbliebene betriebliche Eingliederungsmanagement – und die Kündigungszustimmung des Integrationsamts

Eine auf krankheitsbedingte Fehlzeiten gestützte Kündigung ist nicht iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe in der Person des Arbeitnehmers „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, die im Rahmen eines bEM als zielführend erkannten Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern1.

Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung eines bEM ist zwar nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe eines bEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Kündigung durch mildere Mittel hätte voraussichtlich vermieden werden können, ist der Zeitpunkt ihres Zugangs.

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Hat der Arbeitgeber nicht gänzlich davon abgesehen, ein bEM anzubieten, sind ihm dabei oder bei der weiteren Durchführung aber Fehler unterlaufen, ist für den Umfang seiner Darlegungslast von Bedeutung, ob der Fehler Einfluss auf die Möglichkeit hatte oder hätte haben können, Maßnahmen zu identifizieren, die zu einer relevanten Reduktion der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Arbeitnehmers hätten führen können. Das kann der Fall sein, wenn dieser gerade aufgrund der verfahrensfehlerhaften Behandlung durch den Arbeitgeber einer (weiteren) Durchführung des bEM nicht zugestimmt hat, was regelmäßig einer darauf bezogenen tatrichterlichen Würdigung bedarf. Anderenfalls spricht der Umstand, dass ein Arbeitnehmer nicht zu seiner (weiteren) Durchführung bereit ist, grundsätzlich dagegen, dass durch ein bEM mildere Mittel als die Kündigung hätten identifiziert werden können3. Angesichts der unterschiedlichen sozial- und kündigungsrechtlichen Bedeutung des bEM haben jedenfalls nicht alle Verfahrensfehler bei seiner Durchführung Bedeutung für eine später ausgesprochene Kündigung.

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein von der Arbeitgeberin durchzuführendes bEM dazu hätte beitragen können, neuerliche Krankheitszeiten der Arbeitnehmerin bezogen auf den maßgeblichen Prognosezeitpunkt des Kündigungszugangs zumindest zu vermindern und so das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Möglich ist, dass auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall darf dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen hat. Will sich der Arbeitgeber hierauf berufen, hat er die objektive Nutzlosigkeit des bEM darzulegen und ggf. zu beweisen. Dazu muss er umfassend und detailliert vortragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen Anpassung oder Veränderung entsprechend dem Leistungsvermögen des Arbeitnehmers möglich gewesen sei und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten4. Darüber hinaus muss er dartun, dass künftige Fehlzeiten auch nicht durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können5. Es ist nicht erforderlich, dass sich der Arbeitnehmer im Verfahren auf eine bestimmte Umgestaltungsmaßnahme, Beschäftigungsalternative oder Hilfe bzw. Leistung des Rehabilitationsträgers beruft. Da der Arbeitgeber die primäre Darlegungslast für die Nutzlosigkeit eines bEM trägt, muss vielmehr er von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. Allerdings gilt dies nur im Rahmen des ihm Möglichen und des nach den Umständen des Streitfalls Veranlassten. Das heißt, der Arbeitgeber hat von sich aus alle vernünftigerweise in Betracht kommenden; und vom Arbeitnehmer ggf. bereits außergerichtlich genannten Alternativen, zu würdigen und, soweit ihm aufgrund seines Kenntnisstands möglich, im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes an dem Arbeitnehmer zuträgliche Arbeitsbedingungen noch die Beschäftigung auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz noch eine Maßnahme des Rehabilitationsträgers in Betracht kommt. Dabei ist eine Abstufung seiner Darlegungslast vorzunehmen, falls ihm die Krankheitsursachen unbekannt sind6.

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Ist es dagegen denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau der Fehlzeiten also Erfolg gehabt hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe „vorschnell“ gekündigt7.

Die Frage, ob auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können, ist eine im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegende Frage, deren tatrichterliche Beantwortung nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle daraufhin unterliegt, ob die Würdigung des Berufungsgerichts möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt8

Hat der Arbeitgeber ein bEM unterlassen, kann er gegenüber seiner Verpflichtung, auf bestehende Therapiemöglichkeiten Bedacht zu nehmen, nicht einwenden, ihm seien im Kündigungszeitpunkt – etwa schon mangels Kenntnis der Krankheitsursachen – entsprechende Möglichkeiten weder bekannt gewesen noch hätten sie ihm bekannt sein können9

Der Zustimmungsbescheid des Integrationsamts begründet keine Vermutung dafür, dass ein bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.

Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit angenommen, dass nach einer Zustimmung des Integrationsamts zu einer verhaltensbedingten Kündigung nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden könne, dass ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX aF (jetzt: § 167 Abs. 1 SGB IX) die Kündigung hätte verhindern können10.

Unbeschadet der Frage, ob an dieser vereinzelt gebliebenen BAG-Entscheidung festzuhalten ist11, kann der vorstehende Rechtssatz auf das Verhältnis zwischen einem bEM und dem Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt nicht übertragen werden. Eine vom Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 07.12.200612 angenommene Vermutungswirkung der Zustimmungsentscheidung des Integrationsamts findet bereits im Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX keine Stütze. Das bEM und das Verfahren nach den §§ 168 ff. SGB IX haben zudem unterschiedliche Ziele, prozedurale Abläufe und Beteiligte. Das bEM ist ein verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll13. Hieran kann eine Vielzahl von Personen – insbesondere aus dem Betrieb – beteiligt werden (vgl. § 167 Abs. 2 SGB IX), die nach sachgerechten Lösungen zur Verbesserung des Arbeitsumfelds suchen. Damit soll im Ergebnis gerade der Ausspruch einer Kündigung vermieden werden. Demgegenüber überprüft das Integrationsamt einen vom Arbeitgeber bereits gefassten Kündigungsentschluss (vgl. §§ 168 ff. SGB IX) und trifft eine Ermessensentscheidung, bei welcher das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen ist14. Bei dieser Entscheidung unterliegt das Integrationsamt zum Teil Einschränkungen, wonach es in einer Reihe von Fallgestaltungen eine Zustimmung erteilen „soll“ (vgl. § 172 SGB IX). Der stattgebenden Entscheidung des Integrationsamts kann schließlich deshalb keine Bedeutung für die erweiterte Darlegungslast des Arbeitgebers zukommen, da sich die Wirksamkeit einer nachfolgend erklärten Kündigung nach arbeitsrechtlichen Normen aufgrund des von den Parteien im Kündigungsschutzverfahren gehaltenen Sachvortrags beurteilt und allein den Gerichten für Arbeitssachen obliegt15.

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Zustimmungsersetzungsantrag des Arbeitgebers - und das Rechtsschutzbedürfnis

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15. Dezember 2022 – 2 AZR 162/22

  1. vgl. BAG 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, Rn. 12; 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 24, BAGE 150, 117[]
  2. BAG 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, Rn. 13; zu § 84 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung [aF]: BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 38, BAGE 150, 117[]
  3. BAG 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, Rn. 16[]
  4. vgl. zu § 84 Abs. 2 SGB IX aF: BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 39, BAGE 150, 117[]
  5. vgl. zu § 84 Abs. 2 SGB IX aF: BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 48 ff., aaO[]
  6. vgl. BAG 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, Rn. 42[]
  7. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 40, BAGE 150, 117[]
  8. vgl. BAG 20.05.2020 – 7 AZR 100/19, Rn. 38[]
  9. vgl. zu § 84 Abs. 2 SGB IX aF: BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, Rn. 49, BAGE 150, 117[]
  10. vgl. BAG 7.12.2006 – 2 AZR 182/06, Rn. 28, BAGE 120, 293[]
  11. zweifelnd bereits BAG 20.11.2014 – 2 AZR 664/13, Rn. 41[]
  12. BAG 07.12.2006 – 2 AZR 182/06, BAGE 120, 293[]
  13. vgl. BAG 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, Rn. 28[]
  14. vgl. BVerwG 22.05.2013 – 5 B 24.13, Rn. 12[]
  15. vgl. BAG 22.07.2021 – 2 AZR 193/21, Rn. 15[]
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Die Kündigung des Insolvenzverwalters während der Elternzeit