Ein zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeberin anhängige Zahlungsklage ist nicht aufgrund des zwischen den Tarifvertragsparteien geführten Verbandsklageverfahrens über die Auslegung des einschlägigen Tarifvertrages auszusetzen, wenn bei der erforderlichen Ermessensausübung das Interesse der Arbeitnehmerin an einer zeitnahen Entscheidung das Aussetzungsinteresse der Arbeitgeberin überwiegt.

Eine gesetzliche Verpflichtung zur Aussetzung von Individualklageverfahren sieht § 9 TVG – anders als beispielsweise § 97 Abs. 5 oder § 98 Abs. 6 ArbGG – nicht vor. Eine Aussetzung kann daher nur in Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO erfolgen.
Danach kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinn einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Darüber hinaus stellt das Gesetz die Aussetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts.
Vorgreiflichkeit in diesem Sinn ist gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt. Der Umstand, dass in dem anderen Verfahren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, vermag die Aussetzung der Verhandlung allein nicht zu rechtfertigen. Anderenfalls würde das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor1. Bei der Ermessensausübung sind gegenüber dem vorrangigen Zweck einer Aussetzung – einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern – insbesondere die Nachteile einer langen Verfahrensdauer und die dabei entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen. Dabei ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG ebenso zu berücksichtigen wie die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer wie § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG2.
Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze war das vorliegende Verfahren nicht auszusetzen. Dabei konnte für das Bundesarbeitsgericht dahinstehen, ob die im derzeit vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg anhängigen Verfahren über die Verbandsklage ergehende rechtskräftige Entscheidung für das hiesige Verfahren iSv. § 148 ZPO vorgreiflich ist. In Ausübung des dem Bundesarbeitsgericht bei der Aussetzungsentscheidung zustehenden Ermessens war dem Interesse der Arbeitnehmerin an einer Verfahrensbeschleunigung aufgrund der bisherigen Verfahrensdauer und des Verfahrensstands in dritter Instanz der Vorrang einzuräumen.
Nach § 9 TVG sind rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen, die in Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien aus dem Tarifvertrag oder über das Bestehen oder Nichtbestehen des Tarifvertrags ergangen sind, in Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien sowie zwischen diesen und Dritten für die Gerichte und Schiedsgerichte bindend. § 9 TVG hat vorrangig den Zweck, die normative Wirkung des Tarifvertrags mit einer möglichst einheitlichen rechtlichen Beurteilung von Tarifbestimmungen zu untersetzen und damit der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit zu dienen und zugleich Individualstreitigkeiten zu vermeiden3. Insoweit kommt eine Vorgreiflichkeit des Rechtsstreits über die Verbandsklage iSv. § 9 TVG gegenüber Individualklageverfahren, bei denen die den Gegenstand des Verbandsklageverfahrens bildende Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, in Betracht.
Ob eine Vorgreiflichkeit im engeren Sinn angesichts des weit gefassten Antrags im anhängigen Verbandsklageverfahren vorliegend gegeben ist, bedarf keiner Entscheidung und kann zugunsten der Arbeitgeberin unterstellt werden. Die Vorgreiflichkeit eines anderen Rechtsstreits allein kann die Aussetzung eines Verfahrens aber nicht begründen. Diese stellt lediglich eine Voraussetzung des § 148 ZPO dar, die erfüllt sein muss, damit das gebotene Ermessen des Gerichts nach dieser Vorschrift überhaupt eröffnet ist4.
In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung nach § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen5. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf6.
Streitgegenständlich sind vorliegend Ansprüche der Arbeitnehmerin auf höhere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum von November 2018 bis Mai 2019. Die der Arbeitgeberin am 9.08.2019 zugestellte Klage ist seit über dreieinhalb Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH gemäß Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des EuGH vom 07.07.20227 entfallen. Eine weitere Aussetzung bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem derzeit vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg geführten Verfahren würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Berufungsverfahrens und eines etwaigen sich anschließenden Revisionsverfahrens, dessen Abschluss in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten wäre, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen.
Vor diesem Hintergrund war dem Interesse der Arbeitnehmerin an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor dem Aussetzungsinteresse der Arbeitgeberin der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit in den Hintergrund.
Die Leistungsklage betrifft den Teil der Vergütung, welcher dem Ausgleich einer besonderen Belastung der in der Nachtschicht tätigen Arbeitnehmerin dient und grundsätzlich zeitnah zu gewähren ist. Die streitige Rechtsfrage ist den vorliegend tarifvertragsschließenden Verbänden und ihren Mitgliedern spätestens bekannt, seit sich ua. die hiesige Arbeitnehmerin mit der vorliegenden Klage auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.20188 berufen hat. Gleichwohl hat der für seine Mitglieder handelnde und die Arbeitgeberin in diesem Verfahren vertretende Arbeitgeberverband die Feststellungsklage als sog. Verbandsklage iSv. § 9 TVG erst während des laufenden Revisionsverfahrens eingereicht und damit zum Ausdruck gebracht, dass zuvor kein Bedürfnis für eine einheitliche Klärung der Auslegung der Tarifbestimmungen im Weg der Verbandsklage bestanden hat. Gleichzeitig konnten alle Argumente, die in jenem Verfahren vorgebracht werden, auch im vorliegenden Rechtsstreit dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden, da die Arbeitgeberin vom tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband vertreten wird. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die höchstrichterliche Entscheidung einer Rechtsfrage im Rahmen einer Individualklage aufgrund ihrer Ausstrahlungswirkung auf weitere Verfahren Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schaffen kann. Die Gefahr sich widersprechender rechtskräftiger Entscheidungen ist vor diesem Hintergrund hinzunehmen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. März 2023 – 10 AZR 499/20
- BAG 28.07.2021 – 10 AZR 397/20 (A), Rn. 16 f. mwN, BAGE 175, 296[↩]
- BAG 16.04.2014 – 10 AZB 6/14, Rn. 5 mwN[↩]
- BAG 15.06.2016 – 4 AZR 805/14, Rn. 15, BAGE 155, 280[↩]
- BAG 16.04.2014 – 10 AZB 6/14, Rn. 10; BVerfG 22.09.2008 – 1 BvR 1707/08, Rn.19[↩]
- vgl. BAG 16.04.2014 – 10 AZB 6/14, Rn. 5[↩]
- vgl. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 136/19 (A), Rn. 45 mwN, BAGE 172, 175[↩]
- EuGH 07.07.2022 – C-257/21 und – C-258/21 – [Coca-Cola European Partners Deutschland][↩]
- BAG 21.03.2018 – 10 AZR 34/17, BAGE 162, 230[↩]