§ 6 Abs. 5 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber, soweit eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung nicht besteht, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Soweit eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung nicht besteht, hält das Bundesarbeitsgericht für die Arbeitsstunden, die ein Zeitungszusteller während der gesetzlichen Nachtzeit geleistet hat, ein Zuschlag von insgesamt 30 % auf das Bruttoarbeitsentgelt für angemessen.

In dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall war die Zeitungszustellerin im streitgegenständlichen Zeitraum unstreitig Nachtarbeitnehmerin iSd. Arbeitszeitgesetzes (§ 2 Abs. 3 bis 5 ArbZG). Sie hat, soweit Entgeltdifferenzen gefordert werden, ausschließlich während der gesetzlichen Nachtzeit in dem gesetzlich geforderten Umfang gearbeitet. Die Zeitungsverlegerin hat das ihr im Rahmen von § 6 Abs. 5 ArbZG zustehende Wahlrecht für den streitgegenständlichen Zeitraum dahin ausgeübt, den Ausgleichsanspruch allein durch Zahlung von Geld zu erfüllen1.
Bei dem Merkmal „angemessen“ in § 6 Abs. 5 ArbZG handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Anwendung dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zukommt. Er ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist2. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stand.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt ein Zuschlag in Höhe von 25 % auf das jeweilige Bruttostundenentgelt oder die Gewährung einer entsprechenden Zahl von bezahlten freien Tagen regelmäßig einen angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG dar. Eine Erhöhung des Regelwerts auf 30 % kommt typischerweise bei einer Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit in Betracht. Allerdings handelt es sich bei diesen Werten nicht um starre Grenzen. Demnach kann sowohl ein geringerer als auch ein höherer Zuschlag angemessen sein; es handelt sich weder um Unter- noch um Obergrenzen3. Für die Zeitungszustellung in Dauernachtarbeit hat das Bundesarbeitsgericht in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass ein Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 30 % angemessen iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG ist. Das Bundesarbeitsgericht hat dabei insbesondere umfangreich begründet, dass der Schutz der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in Abwägung mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht dazu führen kann, die Zuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG gegenüber der regelmäßig anfallenden Höhe abzusenken4.
Dem entspricht die Entscheidung des hier in der Vorinstanz tätigen Landesarbeitsgerichts Köln5. Soweit die Zeitungsverlegerin einwendet, es handle sich bei der Zeitungszustellung um eine leichte Tätigkeit, hat das Bundesarbeitsgericht hierzu in der vorgenannten Entscheidung bereits klargestellt, dass dies keine andere Beurteilung rechtfertigt, da der Zuschlag an das geschuldete Bruttoarbeitsentgelt anknüpft6. Im Übrigen geht es um den Ausgleich für die spezifische Belastung durch die Nachtarbeit7, nicht durch die Tätigkeit an sich. Ebenfalls auseinandergesetzt hat sich das Bundesarbeitsgericht mit dem Umstand, dass nur im „Randbereich“ der Nachtzeit bzw. nicht während des gesamten Nachtzeitraums Arbeitsleistungen erbracht wurden. Auch wurde der Einwand behandelt, der Wegfall des sog. Lenkungszwecks müsse zu einer Absenkung des Zuschlags führen8.
Entgegen der Ansicht der Zeitungsverlegerin stellt der Umstand, dass die Zeitungszustellerin wohnortnah arbeitet und deshalb einen kurzen Weg zur Arbeit hat, keinen Aspekt dar, der bei der Beurteilung der Angemessenheit des Nachtarbeitszuschlags positiv oder negativ zu berücksichtigen wäre. Die Wahl des Wohnorts und daraus folgend die Länge des Arbeitswegs zählt regelmäßig – so auch hier – nicht zur Arbeitsleistung, sondern ist Privatsache des Arbeitnehmers9.
Ebenfalls entgegen der Ansicht der Zeitungsverlegerin ergeben sich zur Frage der Angemessenheit der Nachtarbeitszuschläge für Dauernachtarbeit auch keine Aspekte aus dem Unionsrecht, die eine Absenkung des Zuschlags begründen könnten. Soweit die Zeitungsverlegerin auf die Richtlinie 2003/88/EG verweist, strebt diese keine Vollharmonisierung an, sondern enthält Mindestvorgaben, die bei der Umsetzung der Richtlinie einzuhalten sind10. Dementsprechend definiert Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie, dass die Nachtzeit mindestens sieben Stunden zu betragen hat, welche auf jeden Fall die Spanne zwischen 24:00 Uhr und 05:00 Uhr umfasst. Dass der deutsche Gesetzgeber diese Spanne der Nachtzeit auf 23:00 Uhr bis 06:00 Uhr festgelegt hat, hält sich an diese Vorgaben. Maßgeblich ist diese Umsetzung in das deutsche Arbeitszeitrecht, wonach für die genannte Zeitspanne – und nicht lediglich für die in der Richtlinie aufgeführte – ein angemessener Ausgleich zu gewähren ist. Gleiches gilt, soweit die Zeitungsverlegerin einwendet, die Zeitungszustellerin sei iSd. Richtlinie nicht als Nachtarbeiterin zu qualifizieren, weil sie nicht mindestens drei Stunden in der „europarechtlichen Kernnachtarbeitszeit“ tätig gewesen sei (Art. 2 Nr. 3, Nr. 4 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG). Auch insoweit kommt es auf das deutsche Arbeitszeitrecht an, das für einen über 05:00 Uhr morgens hinausgehenden Schutz sorgt. Eine Ausnahme von dem gesetzlichen Nachtzeitraum nach § 2 Abs. 3 Halbs. 1 ArbZG gibt es nur für Bäckereien und Konditoreien in § 2 Abs. 3 Halbs. 2 ArbZG11. Das hat zur Folge, dass für diese Tätigkeiten von 05:00 Uhr bis 06:00 Uhr morgens kein Ausgleich geschuldet ist. Eine entsprechende Regelung fehlt aber für die Zustellung von Zeitungen, obwohl auch diese in den späten Nacht- bzw. frühen Morgenstunden üblich war und ist. Daraus kann gefolgert werden, dass der Gesetzgeber diesen Aspekt gerade nicht zur Rechtfertigung einer diesbezüglichen, sich in einem geringeren Nachtarbeitszuschlag manifestierenden Sonderstellung der Zeitungszusteller genügen lässt12. Schließlich gilt, dass die Richtlinie 2003/88/EG nicht Fragen des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer regelt, da dieser Aspekt nach Art. 153 Abs. 5 AEUV außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt13.
Soweit die Zeitungsverlegerin auch vorliegend geltend macht, die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG garantierte Pressefreiheit stehe einem höheren Nachtarbeitszuschlag entgegen, hat sich das Bundesarbeitsgericht damit bereits ausführlich auseinandergesetzt14. Insbesondere ist berücksichtigt worden, dass die Pressefreiheit für das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen von hoher und wertsetzender Bedeutung ist15.
Gleiches gilt für den Einwand, der Regelung in § 24 Abs. 2 MiLoG könne entnommen werden, dass eine Anhebung des Zuschlags für die in Dauernachtarbeit versehene Zeitungszustellung auf 30 % ausgeschlossen sei16.
Entgegen der Ansicht der Zeitungsverlegerin kommt es schließlich bei der Bewertung der Angemessenheit von Nachtarbeitszuschlägen nicht auf die bestehende Betriebsvereinbarung an. § 6 Abs. 5 ArbZG sieht einen Vorrang tariflicher Bestimmungen vor, enthält aber keine Öffnungsklausel für die Betriebsparteien. Eine betriebliche Regelung, die zum Nachteil der Arbeitnehmer hinter den gesetzlichen Vorgaben für einen angemessenen Ausgleich zurückbleibt, ist nach § 6 Abs. 5 ArbZG iVm. § 134 BGB unwirksam17.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Dezember 2022 – 10 AZR 537/20
- vgl. hierzu BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 16[↩]
- st. Rspr., zuletzt zB BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 23 mwN[↩]
- BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 26 f., 29 mwN[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 41 ff.; zustimmend Freyler Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 22; Kohte jurisPR-ArbR 42/2022 Anm. 3[↩]
- LAG Köln 5.06.2020 – 10 Sa 714/19[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 35[↩]
- vgl. BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 37[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 36, 38 f.[↩]
- vgl. BAG 13.10.2021 – 5 AZR 295/20, Rn. 45 f.[↩]
- vgl. den ersten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2003/88/EG[↩]
- vgl. dazu BT-Drs. 13/4245 S. 7[↩]
- vgl. Freyler Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 22 zu III 3[↩]
- vgl. EuGH 7.07.2022 – C-257/21 und – C-258/21 – [Coca-Cola European Partners Deutschland] Rn. 45 ff.[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 42 ff.[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 45[↩]
- BAG 10.11.2021 – 10 AZR 261/20, Rn. 54 ff.[↩]
- vgl. BAG 25.05.2022 – 10 AZR 230/19, Rn. 22[↩]