Der nicht verkündete Beschluss des Arbeitsgerichts

Nach § 84 Satz 3 iVm. § 60 ArbGG sind arbeitsgerichtliche Beschlüsse zu verkünden. Dies gilt auch dann, wenn nach § 83 Abs. 4 Satz 3 ArbGG ohne mündliche Anhörung der Beteiligten entschieden worden ist1.

Der nicht verkündete Beschluss des Arbeitsgerichts

§ 83 Abs. 4 Satz 3 ArbGG lässt lediglich eine Ausnahme von der mündlichen Anhörung, nicht jedoch von der Verkündung zu. Soll ohne mündliche Anhörung entschieden werden, ist ein Beratungstermin zu bestimmen und die Entscheidung im Anschluss an diesen zu verkünden2.

Die Verkündung eines instanzbeendenden Beschlusses hat immer in öffentlicher Sitzung zu erfolgen, § 84 Satz 3 iVm. § 60 ArbGG, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG. Ein instanzbeendender Beschluss wird erst durch diese förmliche Verlautbarung mit allen prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkungen existent. Solange die Entscheidung noch nicht verkündet wurde, liegt rechtlich nur ein – allenfalls den Rechtsschein einer Endentscheidung erzeugender – Entscheidungsentwurf vor3.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, ob der erstinstanzliche „Beschluss“ verkündet oder auf andere Weise verlautbart worden ist, ist im Rahmen der Rechtsbeschwerde vollumfänglich überprüfbar. Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ArbGG findet die Rechtsbeschwerde gegen den das Verfahren beendenden Beschluss des Landesarbeitsgerichts statt; die Beschwerde findet gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG gegen das Verfahren beendende Beschlüsse der Arbeitsgerichte statt. Die Zulässigkeit der Beschwerde ist Prozessvoraussetzung für das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Beschwerde und deshalb vom Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen4. Nicht nur die fehlende Verkündung ist von Amts wegen zu beachten5, sondern auch die Frage, ob eine das Verfahren beendende Entscheidung vorliegt. Das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen muss grundsätzlich in der Revisions- bzw. Rechtsbeschwerdeinstanz geprüft und ermittelt werden6.

So auch in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall:

Der „Beschluss“ des Arbeitsgerichts ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf7 nicht verkündet worden. Es ist lediglich ein Beratungstermin und kein Termin zur Verkündung der Entscheidung anberaumt worden. Ein Protokoll über eine Verkündung liegt nicht vor. Den Akten sind auch sonst keine Anhaltspunkte für eine etwaige Verkündung zu entnehmen.

Weiterlesen:
Rechtsmittelfristen bei nicht ordnungsgemäßen Zustellungen

Der „Beschluss“ des Arbeitsgerichts wurde auch nicht auf andere Art und Weise wirksam verlautbart.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs stehen Verkündungsmängel dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde, so dass von einer Verlautbarung im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann. Sind deren Mindestanforderungen hingegen gewahrt, hindern auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht8.

Zu den Mindestanforderungen gehört, dass die Verlautbarung von dem Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien von Erlass und Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet wurden9. An sich mit dem Wesen der Verlautbarung vereinbar ist eine Bekanntgabe des Urteils durch Zustellung statt durch Verkündung in öffentlicher Sitzung, da dies eine gesetzlich vorgesehene – wenn auch den in § 310 Abs. 3 ZPO aufgeführten Urteilen vorbehaltene – Verlautbarungsform erfüllt. Wird ein unter § 310 Abs. 1 ZPO fallendes Urteil den Parteien an Verkündungs statt förmlich zugestellt, liegt deshalb kein Verstoß gegen unverzichtbare Formerfordernisse vor, sondern ein auf die Wahl der Verlautbarungsart beschränkter Verfahrensfehler10.

Danach steht vorliegend der Verkündungsmangel dem wirksamen Erlass des „Beschlusses“ entgegen. Es ist nicht ersichtlich, dass seine Verlautbarung durch Zustellung vom Gericht beabsichtigt war. Der „Beschluss“ wurde nicht dadurch wirksam verlautbart, dass der Vorsitzende der Kammer dessen Übersendung an die Parteien selbst verfügt hat, so dass sein Wille, die Entscheidung zu erlassen, außer Frage stünde11. Eine solche richterliche Verfügung befindet sich nicht in den Akten.

Weiterlesen:
Verjährungshemmung - und die Klagezustellung "demnächst"

Der „Laufzettel“ und damit die Schlussverfügung der Geschäftsstelle können die richterliche Verfügung nicht ersetzen, weil diese nicht den Willen des Richters dokumentieren, die Entscheidung der Kammer nach außen kundzutun12. Im Übrigen befindet sich in der Akte zwar ein Laufzettel zum Verfahren, ausweislich dessen der „Beschluss“ am 25.06.2020 zur Geschäftsstelle gelangt, an diesem Tag zur Kanzlei gegeben worden, geschrieben und formatiert sowie dem Vorsitzenden zur Unterschrift vorgelegt worden ist. Die weiteren im Laufzettel aufgeführten Punkte sind aber nicht ausgefüllt. Das gilt insbesondere auch für die Zeile, in der einzutragen ist, wann ein Beschluss unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt ist. Auf dem Laufzettel befindet sich im unteren Bereich lediglich die Verfügung der Bediensteten der Geschäftsstelle vom 25.06.2020 zur Zustellung des Beschlusses an die Beteiligten zu 1. bis 5. sowie der von ihr am 1.07.2020 abgezeichnete Vermerk, dass die Zustellung ausgeführt worden sei.

Die Zustellung des „Beschlusses“ durfte von den Beteiligten auch nicht derart verstanden werden, dass die Verlautbarung auf diesem Wege anstelle einer Verkündung in öffentlicher Sitzung von dem Gericht beabsichtigt war. Zwar wurden die Beteiligten durch die Zustellung des „Beschlusses“ über diesen förmlich unterrichtet. Die Vorgehensweise des Gerichts konnte von den Parteien aber nicht derart verstanden werden, dass die Entscheidung mit Wissen und Wollen der Kammer verlautbart worden ist. Dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.

Das Landesarbeitsgericht führt an, dass der Vorsitzende offenkundig gemeint habe, dass die Entscheidung im schriftlichen Verfahren keiner Verkündung bedürfe und er deshalb weder einen Anhörungs- noch einen Verkündungstermin bestimmt habe. Im Tenor des Beschlusses heiße es ausdrücklich „ohne Anhörung der Beteiligten“. Für die Beteiligten sei deshalb klar ersichtlich gewesen, dass das Gericht nach der Beratung keinen weiteren Verkündungstermin für erforderlich gehalten habe, sondern den Beschluss durch Zustellung verlautbaren wollte.

Weiterlesen:
Bewerbung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst

Die bloße Nichtanberaumung eines Anhörungstermins sagt jedoch nichts darüber aus, ob ein Gericht meint, es bedürfe keiner Verkündung, wenn im schriftlichen Verfahren entschieden werden soll. Etwas anderes gilt auch nicht im Hinblick auf die Mitteilung des Beratungstermins. Eines solchen Hinweises bedarf es zwar nicht ohne Weiteres, wenn ohnehin noch ein Verkündungstermin anberaumt werden soll. Der Hinweis auf den Beratungstermin kann aber auch den Zweck verfolgen, die Beteiligten darüber zu informieren, bis zu welchem Zeitpunkt die Kammer bei ihrer Entscheidung noch weiteren Vortrag wird berücksichtigen können. Beratungs- und Entscheidungstermin müssen nicht zwingend zusammenfallen. Auch wenn eine Anhörung stattfindet, kann es dazu kommen, dass eine Entscheidung nicht im Anschluss, also am Ende der Sitzung verkündet, sondern ein gesonderter Verkündungstermin anberaumt wird.

Ebenso wenig konnten die Beteiligten allein aus der Ausführung im „Beschluss“, wonach die Kammer nicht auf eine mündliche Anhörung, sondern ohne Anhörung am 25.06.2020 ihre Entscheidung getroffen hat, entnehmen, der zugestellte Beschluss sei nicht nur ein Entwurf, sondern die mit Wissen und Wollen des Gerichts verlautbarte Entscheidung. Die Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne Anberaumung eines Anhörungstermins besagt nicht, dass die zu treffende Entscheidung nach der Beratung der Kammer nicht verkündet wird. Das Gesetz sieht gerade vor, dass die Entscheidung ohne Anhörungstermin getroffen werden kann und gleichwohl verkündet werden muss.

Die mangelnde Verkündung ist auch nicht durch den durch die Beteiligten im Beschwerdeverfahren erklärten Verzicht auf eine entsprechende Rüge geheilt worden. Der fehlende Wille der Beteiligten, den Mangel der Verkündung zu rügen, ist unerheblich13. Eine Heilung kann nicht durch den übereinstimmenden Willen der Parteien, den Mangel in der Rechtsmittelinstanz nicht zu rügen, eintreten. Auf Verfahrensrügen kann nur verzichtet werden, wenn die Parteien bzw. die Beteiligten auf die Befolgung der maßgeblichen Vorschrift wirksam verzichten können (§ 295 Abs. 2 ZPO). Bei einer fehlenden Verkündung ist dies nicht der Fall. Die Parteien bzw. die Beteiligten können durch einen Rügeverzicht einen Urteilsentwurf nicht zum Urteil bzw. einen Beschlussentwurf nicht zu einem Beschluss machen und der Rechtsmittelinstanz eine Grundlage zur Tätigkeit in der Sache verschaffen14. Die fehlende Verkündung ist von Amts wegen zu beachten und kann nicht durch unterlassene Rüge geheilt werden15.

Weiterlesen:
Entlohnungsgrundsätze - und die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung

Das Verfahren war unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen. Eine solche Zurückverweisung durch das Bundesarbeitsgericht ist – ausnahmsweise, zulässig, wenn schon das Landesarbeitsgericht die Sache an das Arbeitsgericht hätte zurückverweisen müssen16. Eine nach § 87 Abs. 2 Satz 1, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 528 ZPO der Überprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegende erstinstanzliche Entscheidung war nicht ergangen.

Da der „Beschluss“ des Arbeitsgerichts nicht wirksam verkündet worden ist, kann er keine rechtliche Wirkung erzeugen, gleichwohl aber zur Beseitigung des mit ihm verbundenen Rechtsscheins mit der Beschwerde angefochten werden17. Das Landesarbeitsgericht hätte auf die danach statthafte Beschwerde der Beteiligten zu 2. bis 4. den arbeitsgerichtlichen „Beschluss“ aufheben und den Rechtsstreit ausnahmsweise an das Arbeitsgericht zurückverweisen müssen. Eine eigene Sachentscheidung war dem Landesarbeitsgericht grundsätzlich verwehrt18. Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht wegen eines Mangels im Verfahren steht § 68 ArbGG nicht entgegen, weil ein Verfahrensfehler vorliegt, der in der Beschwerdeinstanz nicht korrigiert werden kann. Das Landesarbeitsgericht konnte die im ersten Rechtszug unterbliebene Entscheidungsverkündung nicht selbst vornehmen19.

Der Rechtsstreit ist unter Aufhebung der beiden vorinstanzlichen Entscheidungen und auch unter Aufhebung des Verfahrens (§ 92 Abs. 2 Satz 1, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 562 Abs. 2 ZPO) ab dem Zeitpunkt, als die Beteiligten mit Beschluss vom 18.03.2020 aufgefordert worden waren mitzuteilen, ob sie mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden sind, zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen. Es bedarf grundsätzlich auch der Durchführung einer Anhörung vor dem Arbeitsgericht. Aufgrund der bisher unterbliebenen Verkündung des „Beschlusses“ sind die Beteiligten zwischenzeitlich an ihr nach § 83 Abs. 4 Satz 3 ArbGG erteiltes Einverständnis nicht mehr gebunden. Das Arbeitsgericht hat im Beschluss vom 18.03.2020 ausdrücklich auf die Gesundheitsrisiken im Sitzungsbetrieb hingewiesen, welche heute ggf. nicht mehr in gleicher Weise bestehen. Im Übrigen muss bei der Entscheidung im schriftlichen Verfahren – auch wenn § 83 Abs. 4 Satz 3 ArbGG anders als § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO keine feste Frist für die Verkündung der Entscheidung vorsieht – die Entscheidung alsbald nach der Zustimmung der Beteiligten verkündet werden20.

Weiterlesen:
Der Streikaufruf im betrieblichen Intranet

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 17. August 2022 – 7 ABR 3/21

  1. GMP/Spinner 10. Aufl. § 84 Rn. 16; Helml/Pessinger/Helml ArbGG 5. Aufl. § 84 Rn. 5; BeckOK ArbR/Poeche Stand 1.03.2022 ArbGG § 84 Rn. 10; vgl. auch LAG Berlin-Brandenburg 10.06.2020 – 4 TaBV 739/20, zu II 1 der Gründe[]
  2. GMP/Spinner 10. Aufl. § 84 Rn. 16; GK-ArbGG/Ahrendt Stand Juni 2022 § 84 Rn. 16; Helml/Pessinger/Helml ArbGG 5. Aufl. § 84 Rn. 5[]
  3. vgl. zur Urteilsverkündung: BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn.20; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 9 mwN, BAGE 172, 372[]
  4. vgl. BAG 24.03.2021 – 7 ABR 16/20, Rn.19 mwN[]
  5. vgl. zum Urteilsverfahren BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 28[]
  6. vgl. zum Urteilsverfahren BAG 6.06.2007 – 4 AZR 411/06, Rn. 21, BAGE 123, 46[]
  7. LAG Düsseldorf 25.06.2020 – 10 BV 26/20[]
  8. BAG 8.03.2022 – 3 AZR 361/21, Rn. 13; 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 26; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 13, BAGE 172, 372; BGH 11.02.2022 – V ZR 15/21, Rn. 11; 27.10.2016 – V ZB 50/16, Rn. 5[]
  9. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 26; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 13, BAGE 172, 372; BGH 11.02.2022 – V ZR 15/21, Rn. 11; 27.10.2016 – V ZB 50/16, Rn. 5; 12.03.2004 – V ZR 37/03, zu II 1 b der Gründe[]
  10. BGH 12.09.2019 – IX ZR 262/18, Rn. 15; 27.10.2016 – V ZB 50/16, Rn. 5; 12.03.2004 – V ZR 37/03, zu II 1 b der Gründe; vgl. BAG 2.09.1965 – 5 AZR 24/65, zu I 3 der Gründe, BAGE 17, 286[]
  11. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 14, BAGE 172, 372; BGH 12.03.2004 – V ZR 37/03, zu II 1 b der Gründe[]
  12. vgl. BAG 8.03.2022 – 3 AZR 361/21, Rn. 14; 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 27; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 14, BAGE 172, 372[]
  13. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 28[]
  14. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 28; zust. BeckOK ZPO/Elzer Stand 1.07.2022 ZPO § 310 Rn. 68; im Ergebnis auch Stein/Jonas/Althammer 23. Aufl. § 310 Rn. 4[]
  15. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 28; GMP/Schleusener 10. Aufl. § 60 Rn. 27[]
  16. st. Rspr., vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 33 mwN[]
  17. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 29 f.; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 15 mwN, BAGE 172, 372[]
  18. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 30; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 16, aaO[]
  19. vgl. BAG 23.03.2021 – 3 AZR 224/20, Rn. 31; 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 17, aaO; 20.02.2014 – 2 AZR 248/13, Rn. 28 f. mwN, BAGE 147, 227[]
  20. vgl. GMP/Spinner 10. Aufl. § 83 Rn. 116[]
Weiterlesen:
Weiterbeschäftigungsantrag - und seine hinreichende Bestimmtheit