Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber sie gemäß § 88 Abs. 3 SGB IX aF nur innerhalb eines Monats nach Zustellung des die Zustimmung enthaltenden Bescheids erklären.

Die in dieser Vorschrift bestimmte Kündigungserklärungsfrist ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Ihr sachlicher Regelungsgehalt besteht in einer zeitlich beschränkten Aufhebung der gesetzlichen Kündigungssperre. Der Arbeitgeber erhält eine befristete Erlaubnis, die beabsichtigte ordentliche Kündigung auszusprechen1.
Maßgeblich für die Wahrung der Vollzugsfrist ist trotz des missverständlichen Wortlauts von § 88 Abs. 3 SGB IX aF der Zugang der Kündigung beim Arbeitnehmer gemäß § 130 BGB. Dieser soll innerhalb der Monatsfrist Kenntnis davon erlangen, ob die Kündigung erfolgt ist oder der Arbeitgeber von ihr Abstand genommen hat2. Wird die Frist nicht gewahrt, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand selbst bei schuldloser Fristversäumnis nicht in Betracht1.
Der Arbeitnehmer kann sich aber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht auf den verspäteten Zugang der Kündigung berufen, wenn er die Überschreitung der Monatsfrist selbst zu vertreten hat. Er muss sich dann so behandeln lassen, als habe der Arbeitgeber diese gewahrt. Ob das der Fall ist, richtet sich nach den für die Zugangsvereitelung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen. Danach muss derjenige, der aufgrund bestehender vertraglicher Beziehungen mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen zu rechnen hat, geeignete Vorkehrungen treffen, dass ihn derartige Erklärungen auch erreichen. Tut er dies nicht, wird darin vielfach ein Verstoß gegen die durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen oder den Abschluss eines Vertrags begründeten Sorgfaltspflichten gegenüber dem anderen Vertragsteil liegen. Selbst bei schweren Sorgfaltsverstößen kann der Adressat nach Treu und Glauben regelmäßig aber nur so behandelt werden, als habe ihn die Willenserklärung erreicht, wenn der Erklärende alles ihm Zumutbare getan hat, damit seine Erklärung zum Adressaten gelangen konnte3. Dazu gehört in der Regel, dass er nach Kenntnis von einem fehlgeschlagenen Zugang unverzüglich einen erneuten Versuch unternimmt, seine Erklärung derart in den Machtbereich des Empfängers zu bringen, dass diesem ohne Weiteres eine Kenntnisnahme ihres Inhalts möglich ist. Dies folgt daraus, dass eine empfangsbedürftige Willenserklärung Rechtsfolgen grundsätzlich erst auslöst, wenn sie zugegangen ist. Welcher Art dieser erneute Versuch des Erklärenden sein muss, hängt von den konkreten Umständen wie den örtlichen Verhältnissen, dem bisherigen Verhalten des Adressaten, den Möglichkeiten des Erklärenden sowie der Bedeutung der abgegebenen Erklärung ab und kann nicht allgemein entschieden werden. Ein wiederholter Zustellversuch ist allerdings nicht mehr sinnvoll und deshalb ausnahmsweise entbehrlich, wenn der Empfänger die Annahme grundlos verweigert oder den Zugang arglistig vereitelt4. Dann greift statt einer bloßen Rechtzeitigkeits- eine Zugangsfiktion5.
Ob der Arbeitgeber nach den konkreten Umständen alles Zumutbare unternommen hat, damit seine Erklärung den Arbeitnehmer erreichen konnte, unterliegt im Revisionsverfahren einer bloß eingeschränkten Nachprüfung. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts regelmäßig nur darauf überprüfen, ob das Gericht die Rechtsbegriffe verkannt hat, ob ihm von der Revision gerügte Verfahrensfehler unterlaufen sind und ob es etwa wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt oder Erfahrungssätze verletzt hat6.
Danach war in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streitfall die Annahme des Hessischen Landesarbeitsgerichts7 revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, die Arbeitgeberin habe die ordentliche Kündigung nicht in der bis einschließlich 9.02.2012 laufenden Frist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF erklärt: Die Kündigung ist dem Arbeitnehmer tatsächlich erst am 20.02.2012, nach Ablauf der Frist, zugegangen. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Zugang könne nicht auf den 10.01.2012 zurück fingiert werden, weil die Arbeitgeberin nach dem gescheiterten Zustellversuch an diesem Tag nicht unverzüglich alles ihr Zumutbare unternommen habe, um dem Arbeitnehmer die Kündigung doch zugehen zu lassen, ist frei von revisiblen Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat alle Umstände des Falls in den Blick genommen und dabei die beiderseitigen Interessen der Parteien angemessen berücksichtigt.
So hätte die Arbeitgeberin die ordentliche Kündigung dem Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers übermitteln können. Dieser hatte im Vorverfahren eine allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO erhoben. Aufgrund der ihm dazu erteilten Vollmacht war er jedenfalls im Zeitraum vom Zugang der Entscheidung des Integrationsamts bis zur Anbringung der vorliegenden Klage durch den Arbeitnehmer persönlich am 27.01.2012 zum Empfang der Kündigung befugt.
Eine Prozessvollmacht ermächtigt gemäß § 81 ZPO zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen. Dies sind nach ständiger Rechtsprechung auch materiell-rechtliche Willenserklärungen, die sich auf den Gegenstand des Rechtsstreits beziehen, weil sie zur Rechtsverfolgung innerhalb des Prozessziels oder zur Rechtsverteidigung dienen. Solche Erklärungen sind von der Prozessvollmacht umfasst, auch wenn sie außerhalb des Prozesses abgegeben werden. Im gleichen Umfang, in dem die Vollmacht zur Vornahme von Prozesshandlungen berechtigt, ist der Bevollmächtigte auch befugt, Prozesshandlungen des Gerichts oder des Gegners entgegenzunehmen. Bei der Abgabe einer Kündigungserklärung, die im Fall ihrer Wirksamkeit die gemäß § 256 Abs. 1 ZPO vom Arbeitnehmer erstrebte Feststellung des Fortbestands eines Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen hinderte und deshalb zur Abwehr seines Feststellungsbegehrens durch den Arbeitgeber dient, handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs um eine solche „Prozesshandlung„8.
Für die danach bestehende Ermächtigung des Arbeitnehmervertreters zur Entgegennahme von weiteren Kündigungen ist es ohne Belang, dass das frühere Verfahren seinerzeit beim Arbeitsgericht anhängig war. Es kann unterstellt werden, dass die Prozessvollmacht im Parteiprozess (§ 11 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) auf die Abgabe von Willenserklärungen beschränkt und deren Empfang ausgeschlossen werden kann (§ 83 Abs. 2 ZPO). Im Zweifel wird die Vollmacht nach §§ 81, 82 ZPO unbeschränkt erteilt9. Es ist weder vom Landesarbeitsgericht festgestellt noch von der Arbeitgeberin behauptet, dass die Prozessvollmacht des Arbeitnehmervertreters im ersten Verfahren anfänglich beschränkt war.
Die weitere Würdigung des Landesarbeitsgerichts, von der Arbeitgeberin habe nach dem erfolglosen Zugangsversuch an der vom Arbeitnehmer angegebenen Postfachadresse eine Zustellung an dessen Prozessbevollmächtigten erwartet werden können, ist nicht zu beanstanden. Die Arbeitgeberin war von einer anderen Kammer des Hessischen Landesarbeitsgerichts mit Urteil vom 24.06.201010 im Zusammenhang mit früheren gescheiterten Zugangsversuchen ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Sie hat sich mit Anwaltsschreiben vom 11.01.2012 an den Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers gewandt und ihn unter Fristsetzung bis zum 12.01.2012 gebeten zu bestätigen, dass er nicht bevollmächtigt sei, an den Arbeitnehmer gerichtete Kündigungen entgegenzunehmen. Eine entsprechende Erklärung hat der Prozessbevollmächtigte des Arbeitnehmers nicht abgegeben. Hierzu musste er sich der Arbeitgeberin gegenüber auch nicht erklären. Diese hätte vielmehr die beabsichtigte ordentliche Kündigung – ausgehend von der vorstehend dargestellten Rechtslage – dem Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers auch ohne Rückfrage zustellen müssen, wenn deren Zugang auf den 10.01.2012 hätte zurückbezogen werden sollen.
Von dieser Obliegenheit war die Arbeitgeberin nicht entbunden, weil sie unmittelbar nach dem gescheiterten Zugangsversuch am 10.01.2012 die öffentliche Zustellung vorbereitet und sie am 26.01.2012 beim Amtsgericht beantragt haben will. Die Voraussetzungen für die ihrerseits eine bloße Fiktion (§ 188 ZPO) begründende öffentliche Zustellung lagen, zumindest zunächst – nicht vor. Sie soll nur erfolgen, wenn ein „echter“ Zugang praktisch unmöglich ist11. Der Antrag darf nach § 132 Abs. 2 BGB lediglich bewilligt werden, wenn der Aufenthalt des Erklärungsempfängers unbekannt ist. Dieses Erfordernis ist so zu verstehen wie in § 185 Abs. 1 Nr. 1 ZPO12. Deshalb war eine öffentliche Zustellung ausgeschlossen, solange – wie im Streitfall wenigstens bis zur Anhängigkeit der vorliegenden Klage am 27.01.2012 – eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten möglich war.
Es kann dahinstehen, ob der Zeitpunkt des Zugangs der streitbefangenen ordentlichen Kündigung aufgrund des Betreibens der öffentlichen Zustellung durch die Arbeitgeberin zwar nicht auf den 10.01.2012, aber auf einen späteren Zeitpunkt vor Ablauf des 9.02.2012 fingiert werden könnte, wenn die Empfangsvollmacht des Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers noch in der Kündigungserklärungsfrist des § 88 Abs. 3 SGB IX aF entfallen und damit die Voraussetzungen von § 185 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eingetreten wären. Dies war nicht der Fall.
Die Anhängigkeit bzw. Rechtshängigkeit der vorliegenden Klage am 27.01.2012 bzw.06.02.2012 hat für sich genommen nicht zu einer Beschränkung der Streitgegenstände aus dem Vorverfahren gemäß § 264 Nr. 2 ZPO und damit der Empfangsvollmacht des Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers geführt. Vielmehr hätte es dafür einer entsprechenden Erklärung im dortigen Rechtsstreit bedurft. Eine solche ist vom Landesarbeitsgericht für die hier allein interessierende Zeit bis zum 9.02.2012 nicht festgestellt worden. Ebenso hat die Arbeitgeberin keinen entsprechenden Vortrag gehalten. Dass der allgemeine Feststellungsantrag im vorangegangenen Verfahren durch die Erhebung der vorliegenden Kündigungsschutzklage – teilweise – unzulässig geworden sein könnte, veränderte seinen Streitgegenstand nicht.
Das Landesarbeitsgericht hat auch nicht festgestellt, dass der Arbeitnehmer den Geschäftsbesorgungsvertrag mit seinem Rechtsanwalt betreffend den Vorprozess gekündigt oder die diesbezügliche Prozessvollmacht isoliert widerrufen und dies zumindest der Arbeitgeberin iSv. § 87 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO angezeigt hätte.
Zwar kann nach § 83 Abs. 2 ZPO eine Prozessvollmacht im Parteiprozess – auch erst in dessen Lauf – beliebig mit Wirkung für das Außenverhältnis beschränkt und deshalb möglicherweise auch auf die Abgabe von materiell-rechtlichen Willenserklärungen begrenzt werden. Voraussetzung wäre allerdings, dass die – nachträgliche – Beschränkung dem Gericht und dem Gegner gegenüber unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird13. Im Streitfall ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass der Arbeitgeberin und dem Gericht des Vorprozesses in der gebotenen Eindeutigkeit mitgeteilt worden wäre, der Prozessbevollmächtigte des Arbeitnehmers sei zum Empfang der – weiter vom allgemeinen Feststellungsantrag erfassten – Kündigung nicht mehr berechtigt. Solches folgt, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, insbes. nicht daraus, dass der Arbeitnehmer mit Schreiben vom 03.02.2012 an das Integrationsamt mitgeteilt hat, sein Anwalt sei für das behördliche Zustimmungs- und Widerspruchsverfahren nicht bevollmächtigt.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 AZR 247/20
- BAG 24.11.2011 – 2 AZR 429/10, Rn. 26, BAGE 140, 47[↩][↩]
- vgl. BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 22 zu § 174 Abs. 5 SGB IX; 19.04.2012 – 2 AZR 118/11, Rn. 17 zu § 91 Abs. 5 SGB IX aF[↩]
- vgl. BAG 22.09.2005 – 2 AZR 366/04, zu II 2 a der Gründe[↩]
- BGH 26.11.1997 – VIII ZR 22/97, zu II 2 a der Gründe, BGHZ 137, 205[↩]
- vgl. BeckOGK/Gomille Stand 1.04.2020 BGB § 130 Rn. 111 ff.[↩]
- vgl. BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 43; BGH 9.06.2009 – Xa ZR 74/08, Rn. 16; 24.01.2008 – VII ZR 17/07, Rn.19 zur Frage der Unverzüglichkeit iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX bzw. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB[↩]
- Hess. LAG 04.03.2020 – 18 Sa 1443/15[↩]
- vgl. BAG 27.10.1988 – 2 AZR 160/88, zu II 1 a der Gründe; 20.05.1988 – 2 AZR 739/87, zu II 7 der Gründe; 21.01.1988 – 2 AZR 581/86, zu B II 2 d der Gründe, BAGE 57, 231; sh. auch BAG 10.08.1977 – 5 AZR 394/76, zu I 1 a aa der Gründe; BGH 18.12.2002 – VIII ZR 72/02, zu II 2 a der Gründe; 18.12.2002 – VIII ZR 141/02, zu II 2 a der Gründe; ebenso bereits RG 20.12.1902 – V 321/02 – RGZ 53, 212; 18.02.1902 – III 424/01 – RGZ 50, 426; 4.06.1901 – II 127/01 – RGZ 48, 218; 22.01.1901 – V 426/01 – RGZ 50, 138[↩]
- Musielak/Voit/Weth ZPO 17. Aufl. § 83 Rn. 3[↩]
- Hess. LAG 24.06.2010 – 11 Sa 119/10[↩]
- Jauernig/Mansel BGB 17. Aufl. § 132 Rn. 3[↩]
- allg. Ansicht, vgl. Staudinger/Singer/Benedict (2017) § 132 Rn. 9 mwN[↩]
- BGH 12.03.2019 – VI ZR 277/18, Rn. 13 f.[↩]