Die durch das Integrationsamt erteilte Zustimmung zur Kündigung entfaltet – es sei denn, sie wäre nichtig – für den Kündigungsschutzprozess solange Wirksamkeit, wie sie nicht bestands- oder rechtskräftig aufgehoben worden ist.

Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Das gilt nach § 91 Abs. 1 SGB IX uneingeschränkt auch für die außerordentliche Kündigung. Eine ohne wirksame Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist nach § 134 BGB nichtig1.
Die Gerichte für Arbeitssachen sind bezogen auf die Wirksamkeit der Zustimmung an die Entscheidungen von Verwaltung und Verwaltungsgerichten gebunden. Das Gesetz sieht für den Fall der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen eine Aufspaltung des Rechtswegs vor. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Zustimmungsbescheids sind danach ausschließlich die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Arbeitsgerichte sind nicht befugt, deren Entscheidungen rechtlich zu überprüfen2.
Auch die noch nicht rechtskräftige Aufhebung des Zustimmungsbescheids des Integrationsamts durch ein Verwaltungsgericht entfaltet keine Bindungswirkung im arbeitsgerichtlichen Verfahren.
Gemäß § 88 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung – vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit – so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist3.
Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist4.
Die Regelung des § 88 Abs. 4 SGB IX will verhindern, dass der Arbeitnehmer durch die Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für oft längere Zeit auch in den Fällen erzwingen kann, in denen er ohne Zusammenhang mit der Behinderung einen Grund zur Kündigung gegeben hat5. Nach der Wertung des Gesetzgebers ist es dem Arbeitgeber bei einmal erteilter Zustimmung nicht zumutbar, für die (weitere) Dauer des verwaltungsrechtlichen Widerspruchs- und Anfechtungsverfahrens von einer Kündigung abzusehen. Etwas anderes gilt erst mit der rechtskräftigen Aufhebung des Zustimmungsbescheids. In diesem Fall wird eine aufgrund der zunächst erteilten Zustimmung ausgesprochene Kündigung rückwirkend unwirksam6. Sollte bis dahin die Kündigungsschutzklage bereits rechtskräftig abgewiesen worden sein, ist das Kündigungsschutzverfahren auf Antrag des Arbeitnehmers in entsprechender Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO wieder aufzunehmen7.
Die gegenteilige Auffassung findet in der gesetzlichen Regelung keine Stütze. Zwar schließt § 88 Abs. 4 SGB IX die aufschiebende Wirkung ausdrücklich nur für „Widerspruch und Anfechtungsklage“ aus. Unter der „Anfechtungsklage“ ist jedoch nicht nur der Rechtszug erster Instanz, sondern sind auch die gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittelverfahren zu verstehen8.
Dieses Verständnis folgt schon aus dem Wortsinn. Die „Anfechtungsklage“ ist nicht bereits mit Ende der ersten Instanz erledigt. Auch im ggf. zweiten und dritten Rechtszug ist weiterhin „Anfechtungsklage“ erhoben, solange sie rechtshängig ist. Dies gilt unabhängig davon, wie die jeweilige Vorinstanz über sie entschieden hat. § 80b VwGO bestätigt diese Lesart. Dort heißt es, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ende nach einer bestimmten Frist, wenn „die Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist“. Das impliziert ein Begriffsverständnis, demzufolge ggf. auch im zweiten und dritten Rechtszug noch über „die Anfechtungsklage“ entschieden wird.
Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gebietet ebenfalls ein solches Verständnis. § 18 Abs. 5 SchwbG sah in seiner bis zum 31.07.1986 geltenden Fassung bei der außerordentlichen Kündigung den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von „Rechtsmitteln“ vor. Diese Regelung wurde in § 18 Abs. 4 SchwbG 1986 und später in § 88 Abs. 4 SGB IX mit der Änderung übernommen, dass die aufschiebende Wirkung auch bei einer ordentlichen Kündigung entfallen sollte9. Dafür, dass der Gesetzgeber mit der zugleich erfolgten Ersetzung des Begriffs „Rechtsmittel“ durch die präzisere Formulierung „Widerspruch und Anfechtungsklage“ eine zeitliche Beschränkung des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung auf die Dauer der Anfechtungsklage in erster Instanz beabsichtigt hätte, gibt es keinen Anhaltspunkt.
Die gegenteilige Ansicht widerspricht überdies Sinn und Zweck der Regelung. Ihr zufolge wären die Gerichte für Arbeitssachen nach einem erstinstanzlichen Erfolg der Anfechtungsklage auch bei Vorliegen eines Kündigungsgrundes gehalten, auf die Unwirksamkeit der Kündigung zu erkennen. Der Arbeitnehmer könnte damit entgegen der gesetzlichen Intention die vorläufige Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erzwingen, obwohl die Kündigung behördlich zugelassen worden und das verwaltungsgerichtliche Anfechtungsverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Auch wären die Gerichte für Arbeitssachen gezwungen, innerhalb ihres Instanzenzugs selbst bei übereinstimmend angenommenem Vorliegen eines Kündigungsgrundes unterschiedliche Entscheidungen zu treffen, wenn mittlerweile ein Verwaltungsgericht anders als die Behörde und/oder die gerichtliche Vorinstanz geurteilt hätte, ohne dass dessen Entscheidung in Rechtskraft erwachsen wäre. Dies entspricht nicht dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichtszweige und schon aus Kostengründen nicht den wohlverstandenen Interessen der Parteien. Auch das prozessuale Beschleunigungsgebot verlangt danach, dass die Gerichte für Arbeitssachen bei behördlich erteilter Zustimmung zur Kündigung den Kündigungsrechtsstreit der Parteien ohne Rücksicht auf den Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach Maßgabe der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften entscheiden und – falls es darauf ankommt – erst auf eine rechtskräftige Versagung der Zustimmung Bedacht zu nehmen haben. Dementsprechend ist eine Aussetzung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens für die Dauer des Verwaltungsrechtsstreits in der Regel nicht angezeigt10.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Mai 2013 – 2 AZR 991/11
- BAG 9.06.2011 – 2 AZR 703/09, Rn. 14[↩]
- KR/Etzel/Gallner 10. Aufl. §§ 85-90 SGB IX Rn. 125; GK-SGB IX/Lampe
§ 88 Rn. 103[↩] - LPK-SGB IX/Düwell 3. Aufl. § 88 Rn. 28; Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 85 Rn. 80[↩]
- KR/Etzel/Gallner 10. Aufl. §§ 85-90 SGB IX Rn. 107; Schaub/Koch ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 179 Rn. 45[↩]
- BT-Drucks. 7/656, S. 44[↩]
- BAG 15.05.1986 – 2 AZR 497/85, zu B II 3 b der Gründe[↩]
- BAG 29.09.2011 – 2 AZR 674/10, Rn. 33; KR/Etzel/Gallner 10. Aufl. §§ 85-90 SGB IX Rn. 144; Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 85 Rn. 22; Hauck/Noftz/Griebeling SGB IX § 85 Rn. 39a; Schaub/Koch ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 179 Rn. 49[↩]
- Deinert/Neumann/Braasch SGB IX 2. Aufl. § 19 Rn. 244[↩]
- vgl. BT-Drucks. 10/3138, S. 21[↩]
- BAG 2.03.2006 – 2 AZR 53/05, zu B V der Gründe[↩]