Die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung – und der Schwellenwert

Das Amt der Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die für ihre Wahl notwendige Mindestanzahl von fünf nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb oder in der Dienststelle während der Amtszeit unterschritten wird.

Die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung – und der Schwellenwert

Nach § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX werden in Betrieben und Dienststellen, in denen wenigstens fünf schwerbehinderte Menschen, zu denen ihnen Gleichgestellte zählen (vgl. § 151 Abs. 3 SGB IX; § 1 Abs. 2 SchwbVWO) – nicht nur vorübergehend beschäftigt sind, eine Vertrauensperson und wenigstens ein stellvertretendes Mitglied gewählt, das die Vertrauensperson im Falle der Verhinderung vertritt. Die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung beträgt nach § 177 Abs. 7 Satz 1 SGB IX vier Jahre. Nach § 177 Abs. 7 Satz 3 SGB IX erlischt das Amt vorzeitig, wenn die Vertrauensperson es niederlegt, aus dem Arbeits- bzw. Dienstverhältnis ausscheidet oder die Wählbarkeit verliert.

Sinkt die Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter die erforderliche Mindestzahl des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, endet das Mandat der gewählten Schwerbehindertenvertretung nicht vorzeitig1. Eine solche ausdrückliche Annahme stellt das Gesetz nicht auf; gegen sie sprechen vor allem normsystematische Erwägungen. Sie ist außerdem weder aus teleologischen Gründen geboten noch von der vom Landesarbeitsgericht angenommenen Parallelwertung betriebsverfassungs- und schwerbehindertenvertretungsrechtlicher Maßgaben getragen.

Im Wortlaut von § 177 Abs. 1 Satz 1, Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 SGB IX ist nicht angelegt, dass ein Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter „wenigstens fünf“ während der Amtszeit einer gewählten Schwerbehindertenvertretung zu deren Erlöschen führt. § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bindet die Wahl einer Vertrauensperson (und wenigstens eines stellvertretenden Mitglieds) an eine bestimmte Organisationseinheit (Betrieb und Dienststellen), in der eine bestimmte Anzahl (wenigstens fünf) schwerbehinderter Menschen nicht nur vorübergehend beschäftigt ist. Weder in dieser Vorschrift noch in denen zur Amtszeit (§ 177 Abs. 7 Satz 1 SGB IX) und zu den Tatbeständen eines vorzeitigen Erlöschens des Amts der Vertrauensperson (§ 177 Abs. 7 Satz 3 SGB IX) finden sich Anhaltspunkte dafür, dass der Schwellenwert von „wenigstens fünf schwerbehinderten Menschen“ die gesamte Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung erreicht sein muss. Allerdings verböte sich eine solche Interpretation angesichts des offenen Gesetzeswortlauts auch nicht von vornherein.

Systematische Erwägungen sprechen gegen die Annahme, dass das Absinken der Beschäftigtenzahl iSv. § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX unter den dort geregelten Schwellenwert den Wegfall einer errichteten Schwerbehindertenvertretung bewirkt.

Der Schwellenwert des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX knüpft – anders als die auf die regelmäßige Zahl von Wahlberechtigten rekurrierende Betriebsratsfähigkeit eines Betriebs (vgl. § 1 Abs. 1 BetrVG) und Personalratsfähigkeit einer Dienststelle (vgl. im Anwendungsbereich des Bundespersonalvertretungsrechts: § 13 Abs. 1 BPersVG) – nicht an die „in der Regel“ in der Organisationseinheit beschäftigte Anzahl schwerbehinderter Menschen an. Maßgeblich ist damit nicht die den Betrieb oder die Dienststelle allgemein kennzeichnende Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter; entsprechend sind keine rückblickende Betrachtung und prognostische Einschätzung veranlasst2. Eine Prognose der Zahl nicht nur vorübergehend beschäftigter schwerbehinderter Menschen (und ihnen Gleichgestellter) ließe sich auch nur bedingt und unzuverlässig erstellen, denn diese hängt weder allein von betrieblichen Planungen ab noch ist sie aufgrund sonstiger objektiver Anhaltspunkte mit einiger Sicherheit vorhersehbar3. Insoweit zeigt aber das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung über ein (vorzeitiges) Amtsende der Schwerbehindertenvertretung im Falle der amtszeitigen Schwellenwertunterschreitung, dass deren Mandat gerade nicht von einer solchen Entwicklung abhängen soll.

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Für dieses Ergebnis streitet darüber hinaus der Normtextvergleich von § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX mit § 178 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Bei letztgenannter Vorschrift ist die Möglichkeit der Heranziehung des mit der höchsten Stimmenzahl gewählten stellvertretenden Mitglieds zu bestimmten Aufgaben (nur) in Betrieben und Dienststellen „mit in der Regel mehr als 100 beschäftigten schwerbehinderten Menschen“ eröffnet. Die sprachlich modifizierte Fassung des Schwellenwerts legt den Schluss nahe, dass es bei § 178 Abs. 1 Satz 4 SGB IX – insoweit aber gerade anders als bei der auf das Mandat „an sich“ bezogenen Vorschrift des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX – auf einen Bestimmungszeitraum unter Berücksichtigung vergangener und künftiger Entwicklungen ankommen soll.

Die Einbettung der Vorschriften zur Wahl und Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung in das Regelungsgefüge des SGB IX „Teil 3. Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht)“ legt es darüber hinaus nahe, § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX im Kontext mit der grundsätzlichen Verpflichtung privater oder öffentlicher Arbeitgeber zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nach §§ 154 ff. SGB IX zu interpretieren. Das deutet auf eine dem Schwellenwert inhärente Grundannahme, dass allein die im Zeitpunkt der Wahl bestehende (Mindest-)Zahl der in dem Betrieb oder in der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen ausschlaggebend ist, weil diese typischerweise schon wegen der Befolgung der Beschäftigungspflicht während der Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung nicht unterschritten wird4.

Die Annahme einer Beendigung des Schwerbehindertenvertretungsmandats bei einem amtszeitigen Unterschreiten der Mindestzahl schwerbehinderter Beschäftigter iSd. § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist nicht aus teleologischen Gründen geboten. Die Argumentation des Landesarbeitsgerichts, der Schwellenwert verhindere die Zersplitterung der Vertretungsorgane und stelle eine Bagatellgrenze dar – weshalb er nicht nur als Voraussetzung für die Wahl, sondern auch für den Bestand der Schwerbehindertenvertretung anzusehen sei, verfängt nicht. Sie verkennt die Regelungskonzeption der Mindestzahlbestimmung (auch unter Berücksichtigung deren Normhistorie) sowie deren Sinn und Zweck. Auch die gesetzliche Ausgestaltung des Aufgabenkatalogs der Schwerbehindertenvertretung spricht nicht für eine solche Annahme.

§ 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX hebt beim Schwellenwert nicht auf die Zahl der im Betrieb (oder der Dienststelle) beschäftigten Arbeitnehmer ab, sondern auf die der dort nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Menschen. Für die Errichtungsfähigkeit einer Schwerbehindertenvertretung ist demnach, anders als das Landesarbeitsgericht meint, nicht die – durch eine Zahl beschäftigter Arbeitnehmer ausgedrückte – Größe der Organisationseinheit „an sich“ entscheidend, sondern die Größe einer Beschäftigtengruppe. Bereits der historische Gesetzgeber hat den Schwellenwert bewusst von der Betriebsgröße entkoppelt. Während § 11 Abs. 2 des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 06.04.19205 eine besondere Vertretung der Interessen schwerbehinderter Menschen noch „in Betrieben, die wenigstens 100 Arbeitnehmer beschäftigen“ vorsah, war diese bereits mit § 12 Satz 2 des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter in der vom 01.01.1923 ab gültigen Fassung6 ausschließlich an eine (Mindest-)Zahl schwerbehinderter Beschäftigter gebunden („Sofern in einem Betriebe wenigstens fünf schwerbeschädigte Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend beschäftigt sind …“)7.

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Der so gefasste – beschäftigtengruppenbezogene – Schwellenwert bezweckt nicht die Privilegierung kleinster Organisationseinheiten. Mit ihm ist vielmehr sichergestellt, dass bei einer hinreichenden Zahl derjenigen Beschäftigten, deren spezifischen Interessen und Belangen die Bildung der Schwerbehindertenvertretung dient, eine solche gebildet werden kann. Darüber hinaus zeigt eine Zusammenschau mit den Regelungen zur Wahlberechtigung nach § 177 Abs. 2 SGB IX („… alle in dem Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen“) und zur nicht auf schwerbehinderte Menschen beschränkten Wählbarkeit nach § 177 Abs. 3 SGB IX, dass die Mindestzahl des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX neben der Funktionsfähigkeit einer organisatorisch separaten Vertretung der schwerbehinderten Beschäftigten8 der Sicherstellung deren Legitimation durch eine hinreichend große Personengruppe der Wahlberechtigten dient. Diese Funktion spiegelt ebenso § 177 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, wonach abweichend vom betriebs- und personalvertretungsrechtlichen Organisationsrecht eine (gemeinsame) Schwerbehindertenvertretung für mehrere örtlich nahe liegende Betriebe oder Dienststellen gewählt werden kann, wenn sonst die nötige Mindestzahl des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht erreicht wird.

Dieser wahlzeitpunktbezogene Normzweck gebietet keine Annahme, das Amt der Schwerbehindertenvertretung sei mit dem Wegfall ihrer Errichtungsvoraussetzungen vorzeitig beendet. Deren ua. in § 178 SGB IX näher ausgestalteten Aufgaben setzen auch keine bestimmte Größe der Beschäftigtengruppe schwerbehinderter Menschen voraus und greifen zT selbst dann, wenn im Betrieb oder in der Dienststelle gar keine schwerbehinderten Menschen (mehr) beschäftigt sein sollten. Das belegen vor allem die Regelungen des § 178 Abs. 1 Satz 3 SGB IX – wonach die Schwerbehindertenvertretung Beschäftigte bei Anträgen auf Feststellung einer Behinderung, ihres Grades und einer Schwerbehinderung an die nach § 152 Abs. 1 SGB IX zuständigen Behörden sowie auf Gleichstellung an die Agentur für Arbeit unterstützt – sowie zu den Unterrichtungs, Beteiligungs, Anhörungs- und Einsichtsrechten der Schwerbehindertenvertretung im Stellenbesetzungsverfahren nach § 164 Abs. 1 Satz 4, Satz 6, Satz 7 und Satz 9 SGB IX sowie § 178 Abs. 2 Satz 4 SGB IX. Insofern soll die Schwerbehindertenvertretung gerade auch – und stärker als Betriebs- und Personalrat – die Eingliederung derer fördern, die noch nicht zur Belegschaft gehören9. Zudem ist die Vertrauensperson Verbindungsperson zur Bundesagentur für Arbeit und zu dem Integrationsamt, vgl. § 182 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Auch die nach § 178 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ausdrücklich neben die Vertretung der Interessen schwerbehinderter Menschen in dem Betrieb oder der Dienststelle tretende Aufgabe, schwerbehinderten Menschen beratend und helfend zur Seite zu stehen, entfällt nicht bei einem Unterschreiten der für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung maßgeblichen Mindestzahl. Sie spricht im Übrigen deutlich dafür, den Schwellenwert des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht ausschließlich vor dem Hintergrund einer größenabhängigen (Selbst-)Repräsentanz der schwerbehinderten Menschen im Betrieb und in der Dienststelle zu interpretieren.

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Der vom Landesarbeitsgericht Köln10 für die gegenläufige Rechtsansicht angeführten Vermeidung einer Zersplitterung der Vertretungsorgane im Betrieb (bzw. in der Dienststelle) dient nicht der Schwellenwert des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, sondern die Ausgestaltung der Funktion und Struktur der Schwerbehindertenvertretung. Diese ist in Bezug auf die im Betrieb (in der Dienststelle) beschäftigten schwerbehinderten Menschen gesetzliches Organ der Verfassung des Betriebs (bzw. der Dienststelle)11. Ihr kommt jedoch weder eine Befugnis zu, für die Gruppe der schwerbehinderten Menschen verbindliche kollektive Regelungen zu vereinbaren, noch hat sie erzwingbare Mitbestimmungsrechte. Diese nimmt vielmehr der Betriebsrat (oder der Personalrat) wahr, welcher die Interessen aller Arbeitnehmer des Betriebs (oder der Dienststelle) einschließlich der schwerbehinderten Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber vertritt. Das trägt der Vermeidung einer Zersplitterung der Belegschaftsvertretung hinreichend Rechnung12.

Die Argumentation des Landesarbeitsgerichts Köln, der für den Betriebsrat geltende Grundsatz, dass dessen Amt bei einem Unterschreiten des Schwellenwerts von § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ende, sei auf die Schwerbehindertenvertretung wegen des Gebots eines Gleichlaufs der beiden Institutionen zu übertragen, verkennt den Wesensgehalt der schwerbehindertenvertretungsrechtlichen Bestimmungen.

Das Postulat eines Gleichlaufs trägt schon deshalb nicht, weil die Schwerbehindertenvertretung eine autarke Interessenvertretung der schwerbehinderten Beschäftigten ist. Sie kann auch dann gebildet werden, wenn kein Betriebs- oder Personalrat besteht13, wenngleich Betriebs- und Personalrat nach § 176 Satz 2 Halbs. 2 SGB IX auf ihre Wahl hinwirken. Es konterkariert zudem die gesetzliche Konzeption eines eigenständig-einheitlichen Regelungsrahmens für Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben und Dienststellen und dessen Einbindung in die besonderen Bestimmungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen.

Geht man dessen ungeachtet mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 07.04.200414 und der nahezu einhelligen Auffassung im Schrifttum15 davon aus, dass die Amtszeit des Betriebsrats endet, wenn die Zahl der ständig beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb nicht nur vorübergehend unter fünf sinkt – und damit als Mindestzahl nicht nur Voraussetzung für die Wahl, sondern auch für den Bestand des Betriebsrats ist16 – begründen die verschiedenen Regelungskonzepte des BetrVG und des Teil 3. Kapitel 5 SGB IX gerade keine Übertragung dieser Rechtsfolge auf die Schwerbehindertenvertretung.

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Das belegen bereits die Unterschiede von § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG und § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Während § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bei der Errichtung des Betriebsrats an die Betriebsgröße anknüpft, stellt § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bei der Wahl einer Schwerbehindertenvertretung auf die Zahl schwerbehinderter Beschäftigter ab. § 1 Abs. 1 BetrVG hebt auf den Arbeitnehmerbegriff nach § 5 BetrVG ab, § 177 Abs. 1 SGB IX demgegenüber auf den Begriff der nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Menschen17. Die Wahlen von Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat finden zudem nach § 177 Abs. 5 Satz 1 SGB IX und § 13 Abs. 1 Satz 1 BetrVG zu verschiedenen Zeitpunkten statt, allerdings hauptsächlich aus Gründen der Entzerrung.

Der Betriebsrat ist ein Gremium, dessen Mitgliederzahl von der Größe des Betriebs abhängt (§ 9 BetrVG). Ändert sich die Belegschaftsstärke, bewirkt dies unter der Voraussetzung von § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG eine (Neu-)Wahl des Betriebsrats außerhalb der regelmäßigen Betriebsratswahlen. Das BetrVG hält damit ausdrücklich eine Bestimmung vor, wenn sich die für die Betriebsratswahl maßgebende Belegschaftsstärke ändert. Die besondere Vertretung schwerbehinderter Beschäftigter ist demgegenüber unabhängig von deren Anzahl und der Betriebs-/Dienststellengröße als sog. Ein-Personen-Vertretung konzipiert18. Gewählt werden eine Vertrauensperson sowie mindestens ein stellvertretendes Mitglied. Das (die) mit der höchsten Stimmenzahl gewählte(n) stellvertretende(n) Mitglied(er) kann die Schwerbehindertenvertretung unter den Voraussetzungen des § 178 Abs. 1 Satz 4 und Satz 5 SGB IX zu bestimmten Aufgaben heranziehen. Das Sinken der Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten bildet – konzeptionell konsequent – keinen Regelungsgegenstand.

Der Verweis des Landesarbeitsgerichts auf § 177 Abs. 8 SGB IX iVm. § 21a BetrVG greift zu kurz. Nach § 21a Abs. 1 Satz 1 BetrVG, der gem. § 177 Abs. 8 SGB IX in Betrieben für die Schwerbehindertenvertretung entsprechend gilt, bleibt der Betriebsrat im Fall der Betriebsspaltung im Amt und führt die Geschäfte für die ihm bislang zugeordneten Betriebsteile weiter, soweit sie die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG erfüllen und nicht in einen Betrieb eingegliedert werden, in dem ein Betriebsrat besteht (Übergangsmandat). Sinn und Zweck des Übergangsmandats ist es, die Arbeitnehmer in der Übergangsphase einer Umstrukturierung vor dem Verlust der Beteiligungsrechte zu schützen19. Das Übergangsmandat als Vollmandat20 dient der Überbrückung einer Phase des „Übergangs“ bis zu einer Neuwahl des Betriebsrats, wie sich insbesondere aus § 21a Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 BetrVG ergibt. Diese Überbrückungsfunktion ist obsolet, sofern der aus der Betriebsspaltung hervorgehende Betriebsteil nicht betriebsratsfähig iSd. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist21. Das Betriebsratsmandat endet aber in diesem Fall nicht wegen des Unterschreitens des Schwellenwerts von § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, sondern als Folge der Betriebsspaltung22. Entsprechend ist dem Verweis in § 177 Abs. 8 SGB IX auf § 21a BetrVG – anders als das Landesarbeitsgericht argumentiert – keine mittelbare Wertentscheidung des Gesetzgebers dahingehend zu entnehmen, das Unterschreiten des in § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX festgelegten Schwellenwerts bewirke das vorzeitige Amtsende einer gewählten Schwerbehindertenvertretung (was dann auch nur im Anwendungsbereich des BetrVG und insbesondere nicht für in Dienststellen errichtete Schwerbehindertenvertretungen gölte)23.

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Schließlich bedingt § 180 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 Alt. 2 SGB IX, wonach die Gesamtschwerbehindertenvertretung bzw. die deren Rechte und Pflichten nach § 180 Abs. 1 Satz 2 SGB IX wahrnehmende Schwerbehindertenvertretung (hier nach Ansicht der Arbeitgeberin die in ihrem Betrieb in L errichtete Schwerbehindertenvertretung) auch die Interessen der schwerbehinderten Menschen vertritt, die in einem Betrieb tätig sind, für die eine Schwerbehindertenvertretung nicht gewählt ist, keine vorzeitige Beendigung des Amts der Antragstellerin wegen des Unterschreitens des Schwellenwerts von § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX im Ker Betrieb. Die Mandatserstreckung der (Gesamt-)Schwerbehindertenvertretung setzt einen vertretungslosen Zustand voraus; sie vermag ihn nicht zu begründen.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/21

  1. ebenso BeckOK SozR/Brose Stand 1.09.2022 SGB IX § 177 Rn. 33; Christians GK-SGB IX Stand August 2022 § 177 Rn. 131; Dusel/Hoff in Bihr/Fuchs/Krauskopf/Ritz SGB IX § 94 Rn. 5; HaKo-BetrVG/Düwell 6. Aufl. § 32 Rn. 15; FBAG-SGB IX/Krämer/Gün 4. Aufl. § 177 Rn. 32; Fuchs/Ritz/Rosenow/Ritz SGB IX 7. Aufl. § 177 Rn. 40; Knittel SGB IX 11. Aufl. § 94 Rn. 242; Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 4. Aufl. § 94 Rn. 46; Mushoff in Hauck/Noftz SGB IX Stand Dezember 2018 § 177 Rn. 68; Pahlen in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 177 Rn. 43; vgl. auch Bötzel Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat als Interessenvertretung schwerbehinderter Menschen im Betrieb S. 69 f.; Endres Schwellenwertregelungen im Arbeitsrecht S. 143; Sachadae Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung S.190; aA Trenk-Hinterberger in HK-SGB IX 3. Aufl. § 94 Rn. 39; Hohmann in Wiegand Schwerbehindertenrecht Stand Juni 2017 § 94 SGB IX Rn. 322 [bei Absinken der Anzahl der Beschäftigten im Betrieb insgesamt unter fünf][]
  2. vgl. zu diesen Kriterien bei der Bestimmung betriebsverfassungsrechtlich relevanter Schwellenwerte der „in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer“ zB BAG 18.01.2017 – 7 ABR 60/15, Rn. 34, BAGE 158, 19[]
  3. vgl. BAG 16.11.2005 – 7 ABR 9/05, Rn.20, BAGE 116, 205 zu der Frage, ob die Wahl der Schwerbehindertenvertretung im vereinfachten Wahlverfahren durchzuführen ist; ebenso Sachadae Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung S. 186 f.; zu prognostischen Ungewissheiten vgl. auch Düwell/Sachadae NZA 2014, 1241[]
  4. ähnlich Düwell Wahl der Schwerbehindertenvertretung 3. Aufl. S. 43[]
  5. RGBl. I S. 458[]
  6. RGBl. I S. 58[]
  7. vgl. auch Bötzel Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat als Interessenvertretung schwerbehinderter Menschen im Betrieb S. 5; Sachadae Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung S. 134[]
  8. so Endres Schwellenwertregelungen im Arbeitsrecht S. 143[]
  9. vgl. Düwell in Grobys/Panzer-Heemeier StichwortKommentar Arbeitsrecht 3. Aufl. Schwerbehindertenvertretung Rn. 5[]
  10. LAG Köln 31.08.2021 – 4 TaBV 19/21[]
  11. vgl. auch BAG 13.02.2020 – 6 AZR 146/19, Rn. 67 ff., BAGE 169, 362; 21.09.1989 – 1 AZR 465/88, zu I 2 der Gründe, BAGE 62, 382; Raab GK-BetrVG 12. Aufl. § 32 Rn. 9 f.; ferner auch BeckOK ArbR/Mauer Stand 1.09.2022 BetrVG § 32 Rn. 1; HaKo-BetrVG/Düwell 6. Aufl. § 32 Rn. 10; HWK/Reichold 10. Aufl. § 32 BetrVG Rn. 2[]
  12. vgl. Fitting 31. Aufl. § 32 Rn. 14[]
  13. vgl. Düwell in Grobys/Panzer-Heemeier StichwortKommentar Arbeitsrecht 3. Aufl. Schwerbehindertenvertretung Rn. 2; ders. HaKo-BetrVG 6. Aufl. § 32 Rn. 10; Mushoff in Hauck/Noftz SGB IX Stand Dezember 2018 § 177 Rn. 8; vgl. zu der demgegenüber – allerdings nicht unumstr. – Voraussetzung des Bestehens eines Betriebsrats als Voraussetzung für die Errichtung einer Jugend- und Auszubildendenvertretung zB Fitting 31. Aufl. § 60 Rn. 24 f.[]
  14. BAG 07.04.2004 – 7 ABR 41/03, zu B II 1 b der Gründe, BAGE 110, 159[]
  15. vgl. zB die Nachweise bei Franzen GK-BetrVG 12. Aufl. § 1 Rn. 106[]
  16. so ausdr. Richardi/Maschmann BetrVG 17. Aufl. § 1 Rn. 144 f. unter Verweis auf RAG 17.12.1930 BenshSlg. 10, 506[]
  17. dazu ausf. zB Düwell in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 177 Rn. 13[]
  18. Düwell in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 177 Rn. 6[]
  19. BT-Drs. 14/5741 S. 39[]
  20. Fitting 31. Aufl. § 21a Rn.20; Kreutz GK-BetrVG 12. Aufl. § 21a Rn. 37[]
  21. vgl. Fitting 31. Aufl. § 21a Rn. 14; Kreutz GK-BetrVG 12. Aufl. § 21a Rn. 26[]
  22. aA Kreutz GK-BetrVG 12. Aufl. § 21a Rn. 27[]
  23. vgl. zu diesem ausdrücklich verlautbarten Regelungsgehalt des § 177 Abs. 8 SGB IX die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/9522 S. 315[]
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