Die außerordentliche Kündigung eines Ersatzmitgliedes des Betriebsrats

Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist die Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrats unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung des Betriebsrats vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.Dieser besondere Kündigungsschutz gilt auch für Ersatzmitglieder, soweit und solange sie ein verhindertes ordentliches Betriebsratsmitglied vertreten1.

Die außerordentliche Kündigung eines Ersatzmitgliedes des Betriebsrats

Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 BetrVG rückt ein Ersatzmitglied in den Betriebsrat nach, sofern ein ordentliches Mitglied aus diesem ausscheidet. Das gilt nach § 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG entsprechend für die Dauer der Stellvertretung eines zeitweilig verhinderten ordentlichen Mitglieds. Eine zeitweilige Verhinderung in diesem Sinne liegt vor, wenn ein Betriebsratsmitglied aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in der Lage ist, sein Amt auszuüben2. Diese Voraussetzung ist während des Erholungsurlaubs eines Betriebsratsmitglieds jedenfalls dann erfüllt, wenn es nicht zuvor seine Bereitschaft angezeigt hat, trotz des Urlaubs für Betriebsratstätigkeiten zur Verfügung zu stehen3. Dem Betriebsratsmitglied wird zwar aufgrund des Erholungsurlaubs die Verrichtung seiner Amtspflichten nicht ohne Weiteres objektiv unmöglich, grundsätzlich aber unzumutbar. Das beurlaubte Betriebsratsmitglied gilt zumindest so lange als zeitweilig verhindert, bis es seine Bereitschaft, gleichwohl Betriebsratstätigkeiten zu verrichten, positiv anzeigt4.

Für die Frage, ob Sonderkündigungsschutz nach § 103 Abs. 1 BetrVG besteht, ist auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung iSv. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB abzustellen5.

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Bei der Kündigung handelt es sich um ein einseitiges empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft6. Dieses bleibt unvollständig und entfaltet keine Wirksamkeit, solange die Kündigungserklärung nicht gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zugegangen ist7.

Die Anknüpfung an den Zugangszeitpunkt entspricht Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses.

Das Zustimmungserfordernis nach § 103 Abs. 1 BetrVG dient primär dem Schutz der Arbeit und Funktionsfähigkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Organe, welche vor Eingriffen des Arbeitgebers bewahrt werden sollen8. Es soll verhindern, dass das demokratisch gewählte Gremium durch den Verlust einzelner Mitglieder in seiner Funktionsfähigkeit und in der Kontinuität seiner Amtsführung beeinträchtigt wird.

Einen Eingriff in die Zusammensetzung des Betriebsrats stellt die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines ordentlichen oder nachgerückten Mitglieds erst mit ihrem Zugang dar. Davor entfaltet sie keine Rechtswirkungen. Soweit das Landesarbeitsgericht9 demgegenüber auf den Zeitpunkt abstellen will, zu dem die Kündigung den Machtbereich des Arbeitgebers verlässt, überzeugt dies nicht. Der Schutz des Gremiums erfordert das Eingreifen des Zustimmungserfordernisses nach § 103 BetrVG in Fällen, in denen das Ersatzmitglied im Zugangszeitpunkt ein verhindertes ordentliches Mitglied vertritt, unabhängig davon, ob der Vertretungsfall schon zu dem Zeitpunkt vorlag, zu dem die Kündigung den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen hat. Darin liegt auch keine unzumutbare Benachteiligung des Arbeitgebers, der ein Nachrücken im Zwischenzeitraum bis zum Zugang der Kündigung uU nicht vorhersehen kann. Als der die Kündigung Erklärende trägt der Arbeitgeber das Risiko einer Veränderung der maßgeblichen Umstände zwischen Abgabe und Zugang der Kündigungserklärung. Er hat es dabei in der Hand, den Zugang zeitnah sicherzustellen und dadurch das Risiko zu begrenzen. Der Gefahr eines Rechtsmissbrauchs auf Seiten des Ersatzmitglieds kann mit Hilfe von § 242 BGB sachgerecht begegnet werden. Danach kann die Berufung auf den besonderen Kündigungsschutz im Einzelfall ausgeschlossen sein. Davon wäre in der Regel auszugehen, wenn ein Verhinderungsfall kollusiv zu dem Zweck herbeigeführt würde, dem Ersatzmitglied den besonderen Kündigungsschutz zu verschaffen10.

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Etwas anderes folgt nicht daraus, dass eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG abgeschlossen sein muss, bevor die Kündigung den Machtbereich des Arbeitgebers verlässt. Die Anhörung soll eine Beeinflussung der Willensbildung des Arbeitgebers vor Ausspruch der Kündigung ermöglichen11. Diese Möglichkeit muss während des gesamten Laufs der Äußerungsfrist bestehen. Eine Willensbeeinflussung ist ab dem Zeitpunkt ausgeschlossen, zu dem die schriftliche Kündigung den Machtbereich des Arbeitgebers verlässt.

Für das Eingreifen des Zustimmungserfordernisses nach § 103 BetrVG ist nicht auf den Zeitpunkt des Beginns der Anhörung des Betriebsrats abzustellen. Die Erwägung, das Ersatzmitglied sei anderenfalls unter dem Druck einer unmittelbar bevorstehenden außerordentlichen Kündigung in der Ausübung seines Amtes eingeschränkt, vermag dies nicht zu rechtfertigen. Seine Unabhängigkeit bei der Amtsführung ist durch § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG und den nachwirkenden Kündigungsschutz gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG gesichert. Die letztgenannte Regelung gewährleistet eine „Abkühlungsphase“ in der Beziehung zwischen dem ehemaligen Betriebsratsmitglied und dem Arbeitgeber, indem sie für gewisse Zeit die ordentliche Kündigung – vorbehaltlich der Regelungen in § 15 Abs. 4 und Abs. 5 KSchG – ausschließt. Dieser Schutz steht auch Ersatzmitgliedern zu, soweit sie während der Vertretungszeit Betriebsratsaufgaben wahrgenommen haben12.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. September 2012 – 2 AZR 955/11

  1. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 22, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3[]
  2. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 24, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3; 23.08.1984 – 2 AZR 391/83, zu B II 1 a der Gründe, BAGE 46, 258[]
  3. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10 – aaO[]
  4. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 29, aaO[]
  5. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 43, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3; Raab GK-BetrVG 9. Aufl. Bd. II § 103 Rn.19; Richardi/Thüsing BetrVG 13. Aufl. § 103 Rn. 16; Schwarze/Eylert/Schrader/Eylert KSchG § 15 Rn. 34; Fischermeier ZTR 1998, 433[]
  6. BAG 28.10.2010 – 2 AZR 794/09, Rn. 40, BAGE 136, 131; 20.08.1997 – 2 AZR 518/96, zu II 1 der Gründe, AP BGB § 620 Kündigungserklärung Nr. 11 = EzA BGB § 174 Nr. 12[]
  7. BAG 28.10.2010 – 2 AZR 794/09 – aaO[]
  8. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 38, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3; 17.03.2005 – 2 AZR 275/04, zu B II 1 der Gründe, AP BetrVG 1972 § 27 Nr. 6 = EzA BetrVG 2001 § 28 Nr. 1[]
  9. ebenso Fitting 26. Aufl. § 103 Rn. 9; KR-Etzel 9. Aufl. § 103 BetrVG Rn. 62[]
  10. vgl. BAG 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 39, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3; 12.02.2004 – 2 AZR 163/03, zu B I 2 der Gründe, AP KSchG 1969 § 15 Ersatzmitglied Nr. 1 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 56[]
  11. BAG 27.11.2003 – 2 AZR 654/02, zu B I der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 136 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 6; 8.04.2003 – 2 AZR 515/02, zu II 1 a und c aa der Gründe, BAGE 106, 14; Fischermeier ZTR 1998, 433, 434[]
  12. BAG 19.04.2012 – 2 AZR 233/11, Rn. 41, NZA 2012, 1449; 8.09.2011 – 2 AZR 388/10, Rn. 40, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 70 = EzA BetrVG 2001 § 25 Nr. 3[]
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