Die fehlende Verkündung eines Urteils

Die Verkündung eines Urteils erfolgt im Namen des Volkes durch Verlesung der vollständigen Urteilsformel einschließlich Kostenentscheidung, Streitwert und ggf. einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung, jedenfalls aber durch Bezugnahme auf die schriftlich niedergelegte Urteilsformel; sie hat immer in öffentlicher Sitzung zu erfolgen, § 60 ArbGG, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG1.

Die fehlende Verkündung eines Urteils

Ein Urteil wird erst durch diese förmliche Verlautbarung mit allen prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkungen existent. Solange die Entscheidung noch nicht verkündet wurde, liegt rechtlich nur ein – allenfalls den Rechtsschein eines Urteils erzeugender – Entscheidungsentwurf vor2.

Die Verkündung einer Entscheidung ist nach § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO im Protokoll festzustellen. Die Feststellung der Verkündung ist eine nach § 165 ZPO wesentliche Förmlichkeit, die nur durch das Protokoll bewiesen werden kann3. Findet sich im Protokoll kein Hinweis auf die Verkündung des Urteils, steht infolge der Beweiskraft des Protokolls gemäß §§ 165, 160 Abs. 2 ZPO ein Verstoß gegen das aus § 60 ArbGG, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG folgende Erfordernis der Urteilsverkündung in öffentlicher Sitzung fest4

Das gilt nach den vorgenannten Grundsätzen auch, wenn es kein unterschriebenes Protokoll der Verkündung gibt. Wenn die Feststellung der Verkündung eine nach § 165 ZPO wesentliche Förmlichkeit ist, die nur durch das Protokoll bewiesen werden kann3, und es gibt kein Protokoll, kann die Verkündung – gerade in einem gesonderten Verkündungstermin – nicht durch ein Protokoll bewiesen werden.

Ein unterzeichneter Verkündungsvermerk sowie ein allein elektronisch existierendes Protokoll können das fehlende Protokoll nicht ersetzen. Da der Beweis der Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten nur durch das Sitzungsprotokoll erbracht werden kann, beweist der nach § 315 Abs. 3 ZPO auf der Urschrift des Urteils anzubringende Verkündungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eine Verkündung nicht4. Zweck dieses Verkündungsvermerks ist die Bescheinigung der Übereinstimmung des Urteilstenors mit der verkündeten Urteilsformel5.

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Im hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streitfall ist daher davon auszugehen, dass keine Verkündung des arbeitsgerichtlichen Urteils erfolgt ist. Es fehlt am Nachweis einer Verkündung des erstinstanzlichen „Urteils“. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Verlautbarung eines Urteils vom Gericht am 28.08.2019 beabsichtigt war. Zwar hat es einen Verkündungstermin anberaumt. Die Anberaumung eines Verkündungstermins ist aber lediglich die Ankündigung einer Verkündung, ersetzt aber nicht die Verkündung. Es gibt auch kein Sitzungsprotokoll, wonach ein Urteil verkündet wurde. Der auf dem „Urteil“ angebrachte Verkündungsvermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ist nicht geeignet, die Verkündung dieses „Urteils“ zu beweisen. Es ist damit davon auszugehen, dass das Arbeitsgericht das in der Akte befindliche „Urteil“ nicht verkündet hat6.

Das „Urteil“ des Arbeitsgerichts wurde im vorliegenden Fall auch nicht auf andere Art und Weise wirksam verlautbart.

Verkündungsmängel stehen dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde, so dass von einer Verlautbarung im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann. Sind deren Mindestanforderungen hingegen gewahrt, hindern auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht. Zu den Mindestanforderungen gehört, dass die Verlautbarung von dem Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien von Erlass und Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet wurden7.

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Das erstinstanzliche „Urteil“ wurde nicht dadurch wirksam verlautbart, dass der Vorsitzende der Kammer dessen Übersendung an die Parteien selbst verfügt hat, so dass sein Wille, die Entscheidung zu erlassen, außer Frage steht8. Eine solche Verfügung findet sich in den Akten nicht. Der Laufzettel und damit die Schlussverfügung der Geschäftsstelle können die richterliche Verfügung nicht ersetzen, weil diese nicht den Willen des Richters dokumentieren, die Entscheidung der Kammer nach außen kundzutun.

Es ist auch unerheblich, dass die Parteien übereinstimmend den Mangel der Verkündung nicht rügen wollen. Auf Verfahrensrügen kann nur verzichtet werden, wenn die Partei auf die Befolgung der maßgeblichen Vorschrift wirksam verzichten kann (§ 295 Abs. 2 ZPO). Das ist hier nicht der Fall. Durch einen Rügeverzicht können die Parteien einen Urteilsentwurf nicht zum Urteil machen und der Rechtsmittelinstanz eine Grundlage zur Tätigkeit in der Sache verschaffen. Die fehlende Verkündung ist daher von Amts wegen zu beachten und kann nicht durch unterlassene Rüge geheilt werden9.

Da das „Urteil“ des Arbeitsgerichts nicht wirksam verkündet worden ist, kann es keine rechtliche Wirkung erzeugen, gleichwohl aber zur Beseitigung des mit ihm verbundenen Rechtsscheins mit der Berufung angefochten werden10.

Bei fehlender Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ist das Verfahren nach wie vor in der ersten Instanz anhängig und dort noch nicht abgeschlossen. Mit der Berufung kann der äußere Anschein einer wirksamen, den ersten Rechtszug beendenden gerichtlichen Entscheidung beseitigt werden. Daher hätte das Landesarbeitsgericht auf die danach statthafte Berufung des Klägers und der Beklagten das arbeitsgerichtliche „Urteil“ aufheben und den Rechtsstreit ausnahmsweise an das Arbeitsgericht zurückverweisen müssen. Eine eigene Sachentscheidung war dem Landesarbeitsgericht grundsätzlich verwehrt11.

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 Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht wegen eines Mangels im Verfahren steht § 68 ArbGG nicht entgegen. Zwar ist nach dieser Vorschrift im Arbeitsgerichtsprozess die Zurückverweisung des Rechtsstreits durch das Landesarbeitsgericht wegen eines Mangels im Verfahren des Arbeitsgerichts unzulässig. § 68 ArbGG schließt die in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO für diesen Fall vorgesehene Möglichkeit der Zurückverweisung an die erste Instanz grundsätzlich aus. Dies dient der Prozessbeschleunigung und gilt auch bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern12. Eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht kommt jedoch in diesem Fall ausnahmsweise in Betracht, wenn ein Verfahrensfehler vorliegt, der in der Berufungsinstanz nicht korrigiert werden kann13. So lag der Fall hier. Das Landesarbeitsgericht konnte die im ersten Rechtszug unterbliebene Urteilsverkündung nicht selbst vornehmen.

Der Rechtsstreit war daher vom Bundesarbeitsgericht unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen in dem Umfang an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen, in dem er beim Bundesarbeitsgericht angefallen ist14.

Das Bundesarbeitsgericht kann den Rechtsstreit – ausnahmsweise – an das Arbeitsgericht zurückverweisen, wenn schon das Landesarbeitsgericht die Sache an das Arbeitsgericht hätte zurückverweisen müssen15. Das Landesarbeitsgericht konnte den nicht behebbaren Verfahrensfehler des Arbeitsgerichts nicht wirksam heilen. Eine nach § 528 ZPO der Überprüfung durch das Berufungsgericht unterliegende erstinstanzliche Entscheidung war zwischen den Parteien nicht ergangen. Das gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem die Parteien vom Arbeitsgericht den Hinweis auf eine Verkündung eines Urteils in einem eigenständigen Verkündungstermin erhalten haben.

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Die Aufhebung und Zurückverweisung beschränkt sich jedoch auf die Teile der Entscheidung, die durch ein zulässiges Rechtsmittel in die Revisionsinstanz gelangt sind. Denn nur insoweit unterliegt das Urteil des Landesarbeitsgerichts der Beurteilung durch das Bundesarbeitsgericht (§ 557 Abs. 1, § 562 Abs. 2 ZPO)16.

In der Revisionsinstanz kann der Streitgegenstand zur rechtlichen Nachprüfung nur insoweit anfallen, als das Berufungsgericht über ihn entschieden hat, die Revision zugelassen ist und der Revisionsführer das Urteil angefochten hat, auch wenn der festgestellte Mangel (auch) den nicht angefochtenen Teil miterfasst17. Dem kann nicht entgegengehalten werden, das Berufungsgericht habe nicht mit Rechtskraft entscheiden können. Soweit es in der Sache entschieden hat, hat es trotz ggf. bestehender doppelter Rechtshängigkeit eine der formellen Rechtskraft fähige Entscheidung getroffen18.

Das gilt auch, soweit das Berufungsgericht die Berufung des Klägers mangels ausreichender Begründung für unzulässig angesehen hat. Wenn das Berufungsgericht zudem nach allgemeinen Grundsätzen entscheidet und sich die beschwerte Partei gegen diesen Entscheidungsteil nicht – mit ggf. anzupassenden Zulässigkeitsanforderungen an Revision, Nichtzulassungsbeschwerde oder Rechtsbeschwerde – wehrt, ist dieser Teil des Berufungsurteils der formellen Rechtskraft fähig. Aufzuheben ist daher die Entscheidung über die Streitgegenstände, für die das Berufungsgericht die Revision zugelassen hat und die Revision zulässig eingelegt worden ist. 

Für das weitere Verfahren gilt im vorliegenden Fall Folgendes:

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Sollte das Arbeitsgericht dem Antrag zu 1. stattgeben, wird es den vom Berufungsgericht zugesprochenen Hilfsantrag zu 2. für gegenstandslos erklären müssen19. Denn das Anfallen und eine Entscheidung über den Hilfsantrag hängen davon ab, dass der Kläger mit dem Antrag zu 1. unterliegt.

Sollte das Arbeitsgericht dagegen zu dem Ergebnis kommen, dass der Antrag zu 1. nicht durchgreift, wird es sich mit dem Hilfsantrag zu 2. nicht mehr zu befassen haben. Die Entscheidung darüber ist in Rechtskraft erwachsen. Das gilt zunächst – wie oben dargelegt – hinsichtlich der formellen Rechtskraft. Es gilt aber auch hinsichtlich der materiellen Rechtskraft. Ein fälschlich als Urteil behandelter Urteilsentwurf kann – wie bereits ausgeführt – im Rechtsmittelzug beseitigt werden. Das Rechtsmittelgericht ist deshalb berechtigt, darüber zu entscheiden, ob ein Urteilsentwurf oder ein Urteil vorliegt. Geht es davon aus, dass ein Urteil vorliegt und entscheidet deshalb in der Sache, trifft es eine in seiner Kompetenz liegende Entscheidung. Diese kann auch im Rahmen der Rechtskraft des Rechtmittelurteils Verbindlichkeit beanspruchen.

Dass dies ein sachgerechtes Ergebnis ist, zeigt gerade der vorliegende Fall. Das Landesarbeitsgericht hat sich intensiv, wenngleich letztlich rechtsfehlerhaft, mit der Frage befasst, ob ein Urteil oder ein Urteilsentwurf vorliegt. Seiner Entscheidung in der Sache im Rahmen der Rechtskraft die Verbindlichkeit zu versagen, wäre mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. Gleiches gilt, wenn das Rechtsmittelgericht ohne ausdrückliche Prüfung von einem Urteil statt von einem Urteilsentwurf ausgeht.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. März 2021 – 3 AZR 224720

  1. GMP/Schleusener 9. Aufl. ArbGG § 60 Rn. 18[]
  2. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 9 mwN[]
  3. vgl. BGH 8.02.2012 – XII ZB 165/11, Rn. 12[][]
  4. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 10 mwN[][]
  5. vgl. OLG Frankfurt 7.12.1994 – 17 U 288/93[]
  6. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 11[]
  7. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 13 mwN[]
  8. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 14 mwN[]
  9. OLG Frankfurt 12.09.2012 – 1 U 32/09, Rn. 33[]
  10. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 15 mwN[]
  11. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn. 16[]
  12. vgl. BAG 20.02.2014 – 2 AZR 248/13, Rn. 28 mwN, BAGE 147, 227[]
  13. vgl. BAG 20.02.2014 – 2 AZR 248/13, Rn. 29 mwN, aaO[]
  14. vgl. BGH 13.04.1992 – II ZR 105/91, zu 3 der Gründe[]
  15. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn.19 mwN[]
  16. vgl. BAG 14.10.2020 – 5 AZR 712/19, Rn.19; BGH 13.03.1980 – VII ZR 147/79, zu II der Gründe, BGHZ 76, 236[]
  17. Zöller/Heßler ZPO 33. Aufl. § 557 Rn. 4; MünchKomm-ZPO/Krüger 6. Aufl. § 557 Rn. 2[]
  18. vgl. BAG 20.02.2014 – 2 AZR 864/12, Rn. 34; MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard 6. Aufl. § 261 Rn. 42; Musielak/Voit/Foerste ZPO 18. Aufl. § 261 Rn. 9 mwN; vgl. zum sog. Nichturteil Jauernig Das fehlerhafte Zivilurteil S. 95[]
  19. vgl. BAG 24.01.2013 – 2 AZR 140/12, Rn. 29, BAGE 144, 222[]
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