Die vermutete Schwarzgeldabrede – und die Berechnung von Sozialkassenbeiträgen

Illegal gezahltes Arbeitsentgelt, für das weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden, kann zur Berechnung der Beiträge nach § 18 Abs. 4 VTV nicht entsprechend § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV auf ein Bruttoarbeitsentgelt „hochgerechnet“ werden.

Die vermutete Schwarzgeldabrede – und die Berechnung von Sozialkassenbeiträgen

Nach § 18 Abs. 2 der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) errechnet sich der von dem Arbeitgeber an die Sozialkasse abzuführende Beitrag aus einem bestimmten Prozentsatz der Bruttolohnsumme. Diese richtet sich nach steuerrechtlichen und nicht nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen. Nach § 18 Abs. 4 VTV gilt sowohl für dem deutschen Lohnsteuerrecht unterliegende Arbeitnehmer (Buchst. a) als auch für Arbeitnehmer, die nicht dem deutschen Lohnsteuerrecht unterliegen (Buchst. b), als Bruttolohn der Betrag, der sich nach den Regelungen des deutschen Steuerrechts ergibt.

Allerdings ist als „Bruttolohn“ im Sinne von § 18 Abs. 4 VTV nicht nur die vom Arbeitgeber tatsächlich gezahlte, sondern auch die von ihm geschuldete Vergütung anzusehen1. Die Verweisung auf das Lohnsteuerrecht betrifft nicht den Grund, sondern nur die Höhe der Beitragsforderung2.

Für das Entstehen eines Beitragsanspruchs der Sozialkasse dem Grunde nach ist es zudem ohne Belang, ob der Arbeitgeber die dem Arbeitnehmer geschuldete Vergütung tatsächlich gezahlt hat oder dies beispielsweise aufgrund von Zahlungsunfähigkeit unterblieben ist3. Der Arbeitgeber kann sich seiner Beitragspflicht gegenüber der Sozialkasse auch nicht dadurch entziehen, dass er eine – gemessen an der Vereinbarung mit seinem Arbeitnehmer, zu niedrige Vergütung zahlt4 oder eine niedrigere als die nach gesetzlichen oder für das Arbeitsverhältnis maßgeblichen tariflichen Regelungen geschuldete Vergütung vereinbart5.

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Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse, die den Anspruch aus § 18 VTV geltend macht, hat nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für dessen anspruchsbegründende Voraussetzungen. Dies gilt auch für die Höhe der Beitragsschuld6. Demgemäß obliegt der Sozialkasse die Darlegung, dass der Arbeitgeber eine höhere als die von ihm als gezahlt angegebene Vergütung den Arbeitnehmern schuldet oder an sie tatsächlich geleistet hat.

Es fehlt an einer schlüssigen Darlegung der Sozialkasse, dass der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern in den streitgegenständlichen Kalendermonaten insgesamt eine höhere Vergütung schuldete als den von der Sozialkasse geschätzten Lohnanteil von 66, 67 % der jeweiligen monatlichen Nettoumsätze oder dass er tatsächlich mehr an sie geleistet hat.

Dass der Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern originäre Nettolohnvereinbarungen getroffen habe, hat die Sozialkasse nicht behauptet. Derartige Abreden lägen auch fern, da die Arbeitsvertragsparteien – wie auch die Sozialkasse einräumt – mit einer Schwarzgeldabrede gerade die Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bezwecken, nicht jedoch die Übernahme der Steuern und Beitragsanteile des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber7.

Der von der Sozialkasse geschätzte Lohnanteil ist auch nicht als Nettolohn im Sinne des Steuerrechts zu betrachten, aus dem sich im Wege eines „hochgerechneten“ Bruttolohns der jeweilige Beitragsanspruch der Sozialkasse ergibt. Die sog. Nettolohnfiktion des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV findet auf die Berechnung der Beitragsansprüche nach § 18 Abs. 2 und Abs. 4 VTV keine unmittelbare Anwendung.

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§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV ist eine Norm im Ersten Abschnitt (Grundsätze und Begriffsbestimmungen) des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung). Danach gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart, wenn bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt worden sind. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich auf das Sozialversicherungsrecht und erstreckt sich nicht auf bürgerlich-rechtliche Rechtsverhältnisse8.

§ 14 SGB IV definiert den Begriff des Arbeitsentgelts, das Beurteilungsgrundlage für die Versicherungspflicht der Beschäftigten, Bemessungsgrundlage ua. für die Höhe der Beiträge zur Kranken, Pflege, Renten, Arbeitslosen- und Unfallversicherung, Berechnungsgrundlage für die Höhe des Leistungsanspruchs im Versicherungsfall und Anrechnungsgrundlage beim Zusammentreffen von Leistungen aus der Sozialversicherung und Einkommen ist. Da § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV eine Nettoarbeitsentgeltvereinbarung fingiert, ist das sozialversicherungsrechtliche Arbeitsentgelt in einem illegalen Beschäftigungsverhältnis nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IV so zu ermitteln, dass das Nettoarbeitsentgelt um die darauf entfallenden Steuern und den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu einem Bruttolohn hochgerechnet wird9.

§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV findet im Einkommenssteuerrecht keine Anwendung10. Das Arbeitsentgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinn ist vom steuerlichen Arbeitslohn zu unterscheiden. § 19 EStG definiert, welche der Einkommensarten des § 2 Abs. 1 EStG zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören. Von der Schaffung einer der Vorschrift des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV entsprechenden Norm im Steuerrecht hat der Gesetzgeber wegen des dort geltenden Zuflussprinzips bewusst abgesehen11. Dementsprechend bemisst sich das steuerpflichtige Arbeitseinkommen bei der Vereinbarung sog. Schwarzlöhne zunächst nach dem tatsächlich zugeflossenen Barlohn. Bei Nachentrichtung entzogener Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung führt erst die Nachzahlung zum Zufluss eines zusätzlichen geldwerten Vorteils12. Für die Bestimmung des Arbeitsentgelts im Rahmen der Beitragsbemessung zur Sozialversicherung gilt demgegenüber grundsätzlich das – für die Sozialversicherung zentrale – Entstehungsprinzip (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB IV). Danach sind Versicherungspflicht und Beitragshöhe für den Beschäftigten nach dem arbeitsrechtlich geschuldeten Arbeitsentgelt zu beurteilen und nicht lediglich nach dem einkommensteuerrechtlich entscheidenden ihm tatsächlich zugeflossenen Entgelt13.

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Nach diesem Maßstab kann die Sozialkasse die Berechnung seiner Beitragsansprüche nicht auf eine Anwendung von § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV stützen. Der von ihm gegen den Arbeitgeber geltend gemachte Anspruch ist ein bürgerlich-rechtlicher und kein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch. Die Sozialkasse ist die Einzugsstelle für bestimmte tarifvertragliche Ansprüche und kein Träger der Sozialversicherung im Sinne von §§ 29 ff. SGB IV. Die Berechnung des Beitrags der Höhe nach erfolgt gemäß § 18 Abs. 4 VTV ausdrücklich nach steuerrechtlichen und nicht nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen.

Die Sozialkasse kann seinen Anspruch auch nicht auf eine analoge Anwendung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV stützen. Es liegt keine für eine Analogie erforderliche Regelungslücke in § 18 VTV vor.

Eine Analogie kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn die normative Regelung planwidrig lückenhaft erscheint und zur Ausfüllung der Lücke die Übertragung der Rechtsfolge eines normativen Tatbestands auf einen vergleichbaren, aber in der Norm nicht geregelten Tatbestand erforderlich ist14. Anders als die Sozialkasse annimmt, kommt es nicht darauf an, ob es keine einer Analogie entgegenstehenden Umstände gibt. Deren Voraussetzungen müssen vielmehr positiv begründet werden.

§ 18 VTV weist hinsichtlich der Beitragsberechnung keine Regelungslücke auf.

Der VTV enthält zwar keine speziellen Regelungen zur Schwarzarbeit. Dies begründet aber keine Regelungslücke, die eine Anwendung der sozialversicherungsrechtlichen Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV zuließe. Die Tarifvertragsparteien haben sich hinsichtlich der Frage der Beitragsberechnung generell für eine am Steuerrecht orientierte Lösung entschieden, wie der klare und eindeutige Wortlaut des § 18 Abs. 4 VTV zeigt.

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Entgegen der Ansicht der Sozialkasse kann allein die Schwierigkeit des Nachweises, dass bei Schwarzgeldabreden tatsächlich Nettolohnvereinbarungen getroffen wurden, eine dem Wortlaut des § 18 Abs. 4 VTV widersprechende Orientierung an der sozialversicherungsrechtlichen Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV nicht rechtfertigen. § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV beinhaltet auch nicht etwa einen Rechtsgedanken, der über das Sozialversicherungsrecht hinaus allgemein Geltung hätte.

Die Auffassung der Sozialkasse, es gelte Wettbewerbsverzerrungen durch Schwarzlohnvereinbarungen gegenüber Arbeitgebern zu vermeiden, die ihre Arbeitnehmer legal beschäftigen und ordnungsgemäß zum Sozialkassenverfahren anmelden, rechtfertigt ebenfalls nicht die analoge Anwendung von § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV. Unabhängig von der Frage, ob aus diesem Grund überhaupt der Tarifnorm ein anderer Inhalt gegeben werden könnte, steht einer analogen Anwendung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV bereits entgegen, dass Anreize zur Schwarzarbeit durch andere gesetzliche Regelungen in ausreichender Weise vermieden werden. Neben seiner Strafbarkeit wegen des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB muss der Arbeitgeber die Nachentrichtung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags gewärtigen, und zwar in der Regel ohne volle Rückgriffsmöglichkeit auf den Arbeitnehmer, § 28e Abs. 1 Satz 1, § 28g Satz 3 SGB IV15. Hinzu kommt, dass die Nachentrichtung des Arbeitnehmeranteils zur Sozialversicherung eine hierauf bezogene Beitragspflicht nach § 18 Abs. 4 VTV auslöst.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Juni 2016 – 10 AZR 806/14

  1. vgl. BAG 29.08.2012 – 10 AZR 589/11, Rn. 15 ff.[]
  2. vgl. BAG 14.02.2007 – 10 AZR 63/06, Rn. 25 mwN[]
  3. vgl. BAG 20.10.1982 – 4 AZR 1211/79, BAGE 40, 262[]
  4. vgl. BAG 14.02.2007 – 10 AZR 63/06, Rn. 25[]
  5. vgl. BAG 29.08.2012 – 10 AZR 589/11, Rn.20[]
  6. vgl. BAG 14.12 2011 – 10 AZR 517/10, Rn. 13[]
  7. vgl. BAG 17.03.2010 – 5 AZR 301/09, Rn. 12, BAGE 133, 332[]
  8. vgl. BAG 21.09.2011 – 5 AZR 629/10, Rn. 23 ff., BAGE 139, 181[]
  9. vgl. BAG 17.03.2010 – 5 AZR 301/09, Rn. 14, BAGE 133, 332[]
  10. vgl. BAG 17.03.2010 – 5 AZR 301/09, Rn. 15 f., BAGE 133, 332[]
  11. vgl. BT-Drs. 15/2948 S. 7, 20; BGH 2.12 2008 – 1 StR 416/08, Rn. 16, BGHSt 53, 71[]
  12. vgl. BFH 13.09.2007 – VI R 54/03, Rn. 10, BFHE 219, 49[]
  13. vgl. BSG 16.12 2015 – B 12 R 11/14 R, Rn. 25[]
  14. vgl. BAG 13.02.2003 – 8 AZR 654/01, zu II 1 a bb der Gründe mwN, BAGE 104, 358[]
  15. vgl. BAG 21.09.2011 – 5 AZR 629/10, Rn. 24, BAGE 139, 181[]