Außerordentliche arbeitgeberseitige Kündigungen eines schwerbehinderten Arbeitnehmers sind nicht schon deshalb nach § 134 BGB iVm. § 168 SGB IX nichtig, weil der Bescheid des Integrationsamtes, in dem dieses seine Zustimmung zur Kündigung erteilt hat, auf den Widerspruch der Arbeitnehmerin aufgehoben wird, dieser Abhilfebescheid aber noch nicht rechtskräftig ist. Dies gilt auch für den Fall einer Zustimmungsfiktion nach § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

Die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Arbeitnehmerin durch die Arbeitgeberin bedarf gemäß §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts, wenn sie schwerbehindert oder einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt ist. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des SGB IX – mit Ausnahme des § 208 SGB IX (Zusatzurlaub) und des Kapitels 13 des SGB IX (Unentgeltliche Beförderung) – angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4 (§§ 168 bis 175 SGB IX; vgl. auch BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 18).
Liegt eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX1.
Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten hat zur Folge, dass die Gerichte aller Rechtszweige an ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht die Kontrollkompetenz eingeräumt ist2. Das folgt aus Art.20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG bzw. § 39 SGB X. Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen3. Die Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist4.
Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung, worauf im Übrigen schon das Schreiben des Integrationsamts vom 07.09.2018 hinweist. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung – vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit – so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist5. Wird die Zustimmungsentscheidung erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage bestands- oder rechtskräftig aufgehoben, steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen6.
Diese Grundsätze hat das Hessische Landesarbeitsgericht bei seiner gegenläufigen Entscheidung7 nicht beachtet. Es übersieht, dass sich die Arbeitgeberin nach § 171 Abs. 4 SGB IX bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetretenen Zustimmung des Integrationsamts auf diese berufen kann. Zu Unrecht hat sich das Landesarbeitsgericht zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25.11.19808 berufen. In diesem wird gerade im Einklang mit den vorstehend wiedergegebenen Rechtssätzen ausgeführt, dass (nur) der Arbeitnehmer nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage und einer nachfolgenden bestands- oder rechtskräftigen Aufhebung der Zustimmungsentscheidung die Möglichkeit zur Erhebung einer Restitutionsklage hat.
Die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen ist im hier entschiedenen Rechtsstreit (bisher) nicht rechtskräftig aufgehoben. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Arbeitgeberin gegen den aufhebenden Abhilfebescheid Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch anhängig war.
Die Sache ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO), da das Bundesarbeitsgericht nicht selbst entscheiden kann. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht insbesondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt und der Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung vor deren Ausspruch ordnungsgemäß beteiligt wurden, was es bisher – nach seiner Begründungslinie konsequent – unterlassen hat. Ferner hat es auch über die Kosten des Revisions- und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden.
Dagegen bedarf die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB keiner Prüfung durch das Landesarbeitsgericht, sondern nur die des § 174 Abs. 5 SGB IX9. Ebenso wenig besteht eine Prüfungskompetenz des Landesarbeitsgerichts, ob die Arbeitgeberin die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX eingehalten hat10.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Juli 2021 – 2 AZR 193/21
- vgl. auch zum Folgenden BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 31[↩]
- BAG 8.05.2018 – 9 AZR 531/17, Rn. 33; 14.09.2011 – 10 AZR 466/10, Rn.19[↩]
- st. Rspr., vgl. BAG 8.05.2018 – 9 AZR 531/17 – aaO; BVerwG 30.01.2003 – 4 CN 14.01, zu 1 der Gründe, BVerwGE 117, 351[↩]
- BAG 8.05.2018 – 9 AZR 531/17 – aaO; 14.09.2011 – 10 AZR 466/10 – aaO[↩]
- vgl. BAG 23.05.2013 – 2 AZR 991/11, Rn. 22 f., 25, BAGE 145, 199; APS/Vossen 6. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 37 und § 171 Rn. 11; ErfK/Rolfs 21. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 14 und § 171 Rn. 4; LSSW/Löwisch 11. Aufl. Vor § 1 Rn. 213; KR/Gallner 12. Aufl. §§ 168 – 173 SGB IX Rn. 122 und 124, anders hingegen Rn. 123 am Ende[↩]
- BAG 23.05.2013 – 2 AZR 991/11, Rn. 24, aaO[↩]
- Hess. LAG 06.10.2020 – 8 Sa 450/19[↩]
- BAG 25.11.1980 – 6 AZR 210/80, BAGE 34, 275[↩]
- BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 26, 32[↩]
- BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19 -Rn. 31[↩]
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