Diskriminierung wegen des Kopftuchs – und die Entschädigung für die Stellenbewerberin

Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.

Diskriminierung wegen des Kopftuchs – und die Entschädigung für die Stellenbewerberin

Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat eine Doppelfunktion: Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.

Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte gewährleisten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss die Härte der Sanktionen der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt1. Sie muss auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinien nicht gerecht. Vielmehr sind die tatsächlich entstandenen Nachteile gemäß den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen2.

Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ist zudem verschuldensunabhängig.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss in dem Fall, dass sich ein EU-Mitgliedstaat – wie hier Deutschland – für eine Sanktion entscheidet, die sich in den Rahmen einer Regelung über die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers einfügt – wie hier § 15 Abs. 2 AGG, der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot für sich genommen ausreichen, um die volle Haftung seines Urhebers auszulösen3. Im nationalen Recht vorgesehene Rechtfertigungsgründe können nicht berücksichtigt werden4. Nach dieser Rechtsprechung kommt es weder auf Verschulden als Voraussetzung an, noch ist ein fehlendes Verschulden oder ein geringer Grad des Verschuldens des Arbeitgebers bei der Bemessung der Entschädigung zulasten der benachteiligten Person bzw. zugunsten des benachteiligenden Arbeitgebers berücksichtigungsfähig. Dass die Haftung verschuldensunabhängig ist und demnach auch keine Benachteiligungsabsicht voraussetzt, entspricht ausweislich der Gesetzesbegründung auch dem Willen des nationalen Gesetzgebers5. Hiervon geht auch das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung aus6.

Weiterlesen:
Ungleichbehandlung wegen des Alters bei der Aufstellung eines Sozialplans

Bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze von drei Monatsgehältern handelt es sich nicht um eine Grenze in dem Sinne, dass sich die geschuldete Entschädigung – sofern der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was vom Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen wäre7 – von vornherein nur innerhalb eines Rahmens von „null“ und „drei“ auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) erzielbaren Bruttomonatsentgelte bewegen dürfte. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor. Bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG handelt es sich vielmehr um eine Kappungs- bzw. Höchstgrenze8. Dies bedeutet, dass – in einem ersten Schritt – die Höhe der angemessenen Entschädigung ohne Rücksicht auf irgendeine Begrenzung zu ermitteln und diese ggf. sodann – in einem zweiten Schritt, zu kappen ist, sofern sie drei Bruttomonatsentgelte übersteigen sollte.

Als Kappungs- bzw. Höchstgrenze verstanden begegnet die in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmte Grenze auch keinen unionsrechtlichen Bedenken9.

Im Fall einer Nichteinstellung ist für die Bemessung der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG an das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der/die erfolglose Bewerber/in (ungefähr) erzielt hätte, wenn er/sie die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Auch dies folgt aus der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG getroffenen Bestimmung, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.

Weiterlesen:
Altersteilzeit im Blockmodell - Entgelterhöhung in der Freistellungsphase

Dem steht nicht entgegen, dass das infolge der Nichteinstellung entgangene Arbeitsentgelt ein möglicher Schadensposten im Rahmen eines auf den Ausgleich materieller Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG gerichteten Schadensersatzanspruchs sein kann, während mit der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nicht der materielle, sondern der immaterielle Schaden ausgeglichen wird. Das auf der Stelle (ungefähr) erzielbare Entgelt ist für die Bemessung der angemessenen Entschädigung nicht bedeutungslos. Soweit es – wie hier – um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion dafür, dass der/die erfolglose Bewerber/in nicht die Chance zur Entfaltung seiner/ihrer individuellen Persönlichkeit durch eine bestimmte Beschäftigung erhält, sondern ebenso eine Sanktion dafür, dass er/sie nicht die Chance erhält, ein Arbeitseinkommen zu erzielen und dadurch auch in seinem/ihrem Geltungs- bzw. Achtungsanspruch berührt ist. In beiden Fällen ist nicht der materielle, sondern der immaterielle Teil des Persönlichkeitsrechts betroffen.

Die Anknüpfung an das auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) zu erwartende Bruttomonatsentgelt steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat eine solche Anknüpfung in seinem Urteil vom 22.04.199710 grundsätzlich gebilligt.

Bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falls zu berücksichtigen haben. § 15 Abs. 2 AGG entspricht insoweit der Regelung zur billigen Entschädigung in § 253 BGB, wobei § 15 Abs. 2 AGG als speziellere Norm der in § 253 BGB getroffenen Regelung vorgeht11. Soweit das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit ausgeführt hat, § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG räume dem Gericht bei der Festsetzung der Höhe der Entschädigung einen „Beurteilungsspielraum“ ein12, war dies in Anknüpfung an die Ausführungen des Gesetzgebers in der Begründung des Gesetzesentwurfs geschehen, wo untechnisch von einem „Beurteilungsspielraum“ die Rede war13. Trotz dieser Wortwahl geht es der Sache nach um einen Ermessensspielraum14.

Weiterlesen:
Jubiläumsgeld im öffentlichen Dienst - und die Berücksichtigung von Vorbeschäftigungszeiten in Überleitungsfällen

Hängt die Höhe der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG demnach von einem Ermessensspielraum ab, dann ist die Bemessung des Anspruchs grundsätzlich Sache des Tatsachengerichts. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht unterliegt infolgedessen nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Sie kann nur darauf überprüft werden, ob die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten wurde und ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen15.

Ausgehend hiervon war im hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Falls einer wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellten Studienreferendarin die Bemessung der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg16 im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden:

Bei der Bemessung der Entschädigung hat das Landesarbeitsgericht allerdings zu Unrecht berücksichtigt, dass das beklagte Land einer gesetzlichen Regelung, nämlich § 2 Berliner NeutrG habe gerecht werden wollen. Damit hat es in unzulässiger Weise Umstände zugunsten des beklagten Landes und damit zulasten der Referendarin berücksichtigt, die die Motivation des beklagten Landes betrafen. Wie unter Rn. 88 f. ausgeführt, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich verschuldensunabhängig. Darüber hinaus hat das Landesarbeitsgericht auf eine gesetzliche Bestimmung abgestellt, deren Urheber das beklagte Land selbst ist.

Weiterlesen:
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - und die tarifvertraglichen Ausschlussfristen

Das Bundesarbeitsgericht, der aufgrund der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen abschließend über die Höhe der nach § 15 Abs. 2 AGG geschuldeten Entschädigung entscheiden kann, hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine solche iHv.05.159, 88 Euro – wie vom Landesarbeitsgericht zugesprochen – für angemessen. Mit diesem Betrag, der ca. 1, 5 auf der Stelle erzielbare Bruttomonatsentgelten entspricht, wird die Referendarin angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung – ausschließlich – wegen der Religion erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich auch erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da es – wie unter Rn. 88 f. ausgeführt – auf ein Verschulden nicht ankommt, können Gesichtspunkte, die mit einer etwaigen Abwesenheit oder einem geringen Grad von Verschulden zusammenhängen, nicht mindernd bei der Bemessung der Entschädigung berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite sind aber auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden des beklagten Landes belegen, weshalb auch keine Veranlassung besteht, die Entschädigung höher festzusetzen17.

Angesichts der erfolgten Bemessung der Entschädigung auf ca. 1, 5 auf der Stelle erzielbare Bruttomonatsentgelte kommt es auf die Frage, ob die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG drei Monatsgehälter nicht übersteigen durfte, weil die Referendarin auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, nicht an.

Weiterlesen:
Die negative Feststellungsklage des Arbeitnehmers - und sein Rechtsschutzbedürfnis

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. August 2020 – 8 AZR 62/19

  1. EuGH 25.04.2013 – C-81/12 – [Asocia?ia Accept] Rn. 63 mwN zur Richtlinie 2000/78/EG; 22.04.1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25 zur Richtlinie 76/207/EWG; 10.04.1984 – 14/83 – [von Colson und Kamann] Rn. 23 f. ebenfalls zur Richtlinie 76/207/EWG; BAG 26.01.2017 – 8 AZR 848/13, Rn. 161[]
  2. vgl. etwa BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 18 f. mwN[]
  3. EuGH 22.04.1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 18[]
  4. EuGH 22.04.1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] aaO; 8.11.1990 – C-177/88 – [Dekker] Rn. 25[]
  5. BT-Drs. 16/1780 S. 38[]
  6. vgl. zuletzt BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 21 mwN[]
  7. vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BAG 11.08.2016 – 8 AZR 406/14, Rn. 102[]
  8. vgl. BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 22 mwN[]
  9. vgl. hierzu ausf. BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 23[]
  10. EuGH 22.04.1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] zur Richtlinie 76/207/EWG[]
  11. vgl. BT-Drs. 16/1780 S. 38[]
  12. vgl. etwa BAG 23.01.2020 – 8 AZR 484/18, Rn. 85; 19.12.2019 – 8 AZR 2/19, Rn.20; 16.02.2012 – 8 AZR 697/10, Rn. 69; 18.03.2010 – 8 AZR 1044/08, Rn. 39[]
  13. vgl. etwa BT-Drs. 16/1780 S. 38[]
  14. BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 27[]
  15. vgl. etwa BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 28[]
  16. LAG Berlin-Brandenburg 27.11.2018 – 7 Sa 963/18[]
  17. vgl. BAG 28.05.2020 – 8 AZR 170/19, Rn. 39[]
Weiterlesen:
Nochmals: Die Sicherungsverwahrung vor dem EGMR

Bildnachweis: