Diskriminierung wegen Schwerbehinderung – und die Darlegungslast

Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt in einem Schadensersatz- bzw. Entschädigungsprozess nach § 15 Abs. 1 und/oder Abs. 2 AGG seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die Benachteiligung regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des Arbeitgebers gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten.

Diskriminierung wegen Schwerbehinderung – und die Darlegungslast

Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen die og. Vorschriften, zB dass der Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet wurde, vor dem Hintergrund, dass es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners handelt, in die ein Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat und sich auch zumutbar nicht verschaffen kann, regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen.

Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG, das einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte – hier die der Richtlinie 2000/78/EG, zu gewährleisten hat, untersagt im Anwendungsbereich des AGG eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des AGG1.

Der Stellenbewerber wurde dadurch unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, dass er von der Arbeitgeberin im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren für die ausgeschriebene Stelle nicht berücksichtigt wurde, denn er hat eine weniger günstige Behandlung erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Darauf, ob es überhaupt andere Bewerber/innen gegeben hat, ob deren Bewerbungen Erfolg hatten und ob ein/e von der Arbeitgeberin ausgewählte/r Bewerber/in die Stelle angetreten hat, kommt es nicht an2.

Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund bzw. zwischen der Benachteiligung und der Schwerbehinderung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen3.

Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG bzw. die Schwerbehinderung anknüpft oder durch diese/n motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt4.

§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat5.

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Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen6.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Diese Pflichtverletzungen sind nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein7.

Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt allerdings das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben8.

An die Substantiierungslast der primär darlegungspflichtigen Partei dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden.

Die Partei ist nicht verpflichtet, den streitigen Lebenssachverhalt in allen Einzelheiten darzustellen9. Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen10. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind11.

In der Rechtsprechung sowohl des Bundesarbeitsgerichts als auch des Bundesgerichtshofs ist zudem anerkannt, dass eine Partei Tatsachen behaupten kann, über die sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich oder jedenfalls für möglich hält, dh. die sie nur vermutet. Die Grenze zum unzulässigen und damit unbeachtlichen Sachvortrag ist grundsätzlich erst erreicht, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen12.

Danach hat der Stellenbewerber – unter Berücksichtigung der hier gegebenen besonderen Umstände – seiner primären Darlegungslast genügt, indem er behauptet hat, die Arbeitgeberin habe den bei ihr eingerichteten Betriebsrat nicht entsprechend den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX unterrichtet.

or dem Hintergrund, dass – wie oben ausgeführt – ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründet, hat der Stellenbewerber mit seinem Vorbringen, die Arbeitgeberin habe den Betriebsrat entgegen § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX nicht unmittelbar nach Eingang über seine Bewerbung unterrichtet, Tatsachen behauptet, die in Verbindung mit dem vorstehenden Rechtssatz geeignet sind, die Vermutung zu begründen, dass der Stellenbewerber wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt wurde.

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Der Stellenbewerber durfte die Behauptung, die Arbeitgeberin habe den Betriebsrat nicht entsprechend § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX unterrichtet, auch in den Rechtsstreit einführen, obwohl er dies nur vermutete. Er durfte diese von ihm nur vermutete Tatsache behaupten, weil er mangels eigener Erkenntnisquellen keine sichere Kenntnis von einer fehlenden ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats hatte und auch nicht erlangen konnte13. Insoweit handelt es sich nämlich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre der Arbeitgeberin, in die der Stellenbewerber keinen Einblick hatte und sich zumutbar auch keinen Einblick verschaffen konnte.

Der Stellenbewerber war nicht gehalten, den damaligen Betriebsratsvorsitzenden der Arbeitgeberin, dessen Name dem Stellenbewerber bekannt gewesen sei, zu kontaktieren und um Auskunft über eine etwaige Beteiligung des Betriebsrats nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX zu ersuchen. Insoweit ist es bereits nicht erkennbar, woraus sich eine Verpflichtung des Betriebsrats ergeben sollte, externe Bewerber über derartige interne Vorgänge im Zusammenhang mit der Beteiligung des Betriebsrats zu informieren.

Auch traf den Stellenbewerber auch nicht die Obliegenheit, die Arbeitgeberin – ggf. gestützt auf § 242 BGB – auf Erteilung einer Auskunft über eine etwaige Unterrichtung des Betriebsrats nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in Anspruch zu nehmen. Es ist schon zweifelhaft, ob ein solches Vorgehen dem Stellenbewerber angesichts des Fristenregimes aus § 15 Abs. 4 AGG und § 61b ArbGG zumutbar wäre. Ein vorgeschaltetes Auskunftserteilungsverfahren würde jedenfalls dazu führen, dass dem Stellenbewerber die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung – hier die Richtlinie 2000/78/EG – verliehenen Rechte entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union – wenn auch nicht praktisch unmöglich gemacht, so doch aber – übermäßig erschwert würde14.

Gleiches gilt, soweit die Auffassung vertreten wird, der Stellenbewerber hätte – ungeachtet etwaiger Erfolgsaussichten – in jedem Fall einen Versuch unternehmen müssen, von dem Betriebsrat oder der Arbeitgeberin eine entsprechende Auskunft zu erlangen. Eine solche Anforderung würde eine bloße Förmelei darstellen.

Der Stellenbewerber war auch nicht gehalten, für seine Vermutung, die Arbeitgeberin habe gegen § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX verstoßen, tatsächliche Anhaltspunkte darzutun und im Bestreitensfall zu beweisen. Der Stellenbewerber hat seine Behauptung, die Arbeitgeberin habe den Betriebsrat über seine Bewerbung nicht unmittelbar nach deren Eingang unterrichtet, gerade nicht willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt; ihm kann – bei wertender Betrachtung – Willkür, bei deren Annahme nach ständiger Rechtsprechung Zurückhaltung geboten ist, nicht vorgehalten werden.

Der Stellenbewerber als Bewerber konnte – wie ausgeführt – in einer Situation wie hier aus eigener Kenntnis keine Angaben dazu machen, ob die Arbeitgeberin den bei ihr eingerichteten Betriebsrat entsprechend den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX unterrichtet hatte. Insoweit handelt es sich nämlich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre der Arbeitgeberin, in die der Stellenbewerber keinen Einblick hatte. Er konnte sich – wie ebenfalls ausgeführt – auch zumutbar keine näheren Erkenntnisse verschaffen. Dies gilt auch, soweit es um das Vorliegen etwaiger Anhaltspunkte für eine nicht ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats durch die Arbeitgeberin geht. Entscheidend kommt hinzu, dass – wie ausgeführt – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, wie hier § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründet und dass es die Arbeitgeberin als Arbeitgeberin war, die die zur Förderung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen aus § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX folgende Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats traf. Die Arbeitgeberin kannte insoweit auch alle wesentlichen Tatsachen, weshalb es ihr unschwer möglich war, hierzu nähere Angaben zu machen. Vor diesem Hintergrund konnte von dem insoweit außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs stehenden Stellenbewerber der Vortrag greifbarer Anhaltspunkte für seine Vermutung nicht verlangt werden. Dies steht auch in Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben, wonach die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung – hier die Richtlinie 2000/78/EG – verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert werden darf14 und wonach im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, von den nationalen Gerichten sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch die beklagte Partei nicht die Verwirklichung der mit den Richtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2006/54/EG verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht15.

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Nach alledem hat der Stellenbewerber schlüssig einen Verstoß der Arbeitgeberin gegen ihre Verpflichtung aus § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, den Betriebsrat über seine Bewerbung unmittelbar nach deren Eingang zu unterrichten, dargetan. Die Arbeitgeberin, die im Hinblick auf den vom Stellenbewerber behaupteten Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX nach § 138 Abs. 2 ZPO die sekundäre Darlegungslast traf16, konnte sich demzufolge nicht auf ein einfaches Bestreiten beschränken, vielmehr konnte von ihr das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsache unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden17. Die Arbeitgeberin hat die Behauptung des Stellenbewerbers allerdings weder substantiiert noch einfach bestritten, sondern ausdrücklich darauf hingewiesen, aus prinzipiellen Erwägungen von einer Erwiderung abzusehen. Damit gilt der Vortrag des Stellenbewerbers, wonach die Arbeitgeberin den bei ihr eingerichteten Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend unterrichtet hat, nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.

Da § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX zu den Vorschriften gehört, die Verfahrenspflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, begründet der Verstoß der Arbeitgeberin gegen § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der Stellenbewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen der Schwerbehinderung erfahren hat.

Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt – wie ausgeführt – die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe – bzw. hier die Schwerbehinderung, zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben18.

Zwar kann der Arbeitgeber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Vermutung, er habe die klagende Partei wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen der Schwerbehinderung benachteiligt, grundsätzlich dadurch widerlegen, dass er substantiiert dazu vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung ausschließt19. Diese Voraussetzungen erfüllt der Vortrag der Arbeitgeberin, die sich lediglich darauf berufen hat, dass der Stellenbewerber verschiedene Anforderungen der Stellenausschreibung nicht erfülle, offensichtlich nicht.

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Ferner kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Kausalitätsvermutung im Einzelfall nach § 22 AGG widerlegt sein, wenn der Arbeitgeber darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass der/die erfolglose Bewerber/in eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit/den Beruf an sich ist. Ist dies der Fall, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Bewerbung ausschließlich aus diesem Grund ohne Erfolg blieb; mit einer solchen Bewerbung muss der Arbeitgeber sich regelmäßig nicht weiter beschäftigen. In einem solchen Fall besteht demzufolge regelmäßig kein Kausalzusammenhang zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem in § 1 AGG genannten Grund20.

Aus dem Vorbringen der Arbeitgeberin ergibt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht, dass der Stellenbewerber eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der ausgeschriebenen Tätigkeit wäre. Die in der Stellenausschreibung der Arbeitgeberin geforderten Qualifikationen sind – anders als dies beispielsweise bei den Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit eines Arztes/einer Ärztin nach der Bundesärzteordnung (BÄO), der Tätigkeit eines Rechtsanwalts/einer Rechtsanwältin nach der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) oder der Tätigkeit einer Notfallsanitäterin bzw. eines Notfallsanitäters nach dem Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (Notfallsanitätergesetz) der Fall ist – keine formalen Anforderungen, die unverzichtbare Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit eines „Srum Master Energy“ sind. Für die Tätigkeit eines „Srum Master Energy“ gibt es schlechterdings derartige Anforderungen nicht. Dass die Arbeitgeberin bestimmte formale Anforderungen, so die geforderten Studienabschlüsse, für unverzichtbar hält, reicht insoweit nicht aus.

Das Entschädigungsverlangen des Stellenbewerbers ist im vorliegenden Fallnicht dem durchgreifenden Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) ausgesetzt.

Rechtsmissbrauch ist anzunehmen, sofern eine Person sich nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihr darum ging, nur den formalen Status als Bewerber/in iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, Ansprüche auf Entschädigung und/oder Schadensersatz geltend zu machen21.

Danach ist das Entschädigungsverlangen des Stellenbewerbers nicht dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand (§ 242 BGB) ausgesetzt. Eine Würdigung sämtlicher Umstände ergibt, dass der Stellenbewerber mit seiner Bewerbung nicht nur die formale Position eines Bewerbers iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG erlangen wollte mit dem alleinigen Ziel, Ansprüche auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend machen zu können. Die Arbeitgeberin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, der Stellenbewerber habe in mehreren parallel geführten Verfahren Entschädigungsansprüche wegen angeblich diskriminierender Stellenabsagen verfolgt.

Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten kann in diesem Zusammenhang nur angenommen werden, wenn sich ein systematisches und zielgerichtetes Vorgehen der Person feststellen lässt, das auf der Erwägung beruht, bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise werde letztlich ein auskömmlicher „Gewinn“ verbleiben22.

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Die von der Arbeitgeberin vorgetragenen Umstände rechtfertigen nicht den Schluss, die Bewerbung des Stellenbewerbers auf die von der Arbeitgeberin ausgeschriebene Stelle und die sich an die Ablehnung anschließende Entschädigungsklage seien Teil eines systematischen und zielgerichteten Vorgehens des Stellenbewerbers im Rahmen eines „Geschäftsmodells“. Vielmehr verbleibt die „gute Möglichkeit“, dass der Stellenbewerber ein ernsthaftes Interesse an dem Erhalt der Stelle hatte, und dass er mit der Erhebung der Entschädigungsklage zulässigerweise seine Rechte nach dem AGG wahrgenommen hat.

Soweit die Arbeitgeberin geltend macht, der Stellenbewerber habe zahlreiche Bewerbungen versandt, kann sie allein hieraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Ein solcher Umstand – für sich betrachtet – erlaubt nicht den Schluss auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Stellenbewerbers. Ein solches Vorgehen kann ebenso dafür sprechen, dass der Stellenbewerber eine neue berufliche Herausforderung und finanzielle Absicherung suchte und es ihm deshalb mit seiner Bewerbung bei der Arbeitgeberin ernst war23.

Dass der Stellenbewerber nach dem Vortrag der Arbeitgeberin bei mehreren Bewerbungen nahezu identische Bewerbungsschreiben verwendet hat, ist für sich betrachtet ebenfalls nicht geeignet, den Einwand des Rechtsmissbrauchs zu begründen. Denn wie viel „Mühe“ ein Bewerber sich mit seinem Bewerbungsschreiben und den weiteren Bewerbungsunterlagen gegeben hat, wie ansprechend seine Präsentation ist und wie eindringlich und überzeugend er ein Interesse an der ausgeschriebenen Stelle bekundet hat, mag zwar ein Umstand sein, der für die konkrete Auswahlentscheidung des Arbeitgebers den Ausschlag geben kann. Es existiert hingegen weder ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass nur derjenige, der ein solches Bewerbungsschreiben verfasst, an der Stelle interessiert ist, noch der gegenteilige Erfahrungssatz, dass derjenige, dessen Bewerbungsschreiben diesen Vorgaben nicht entspricht, sich nur mit dem Ziel bewirbt, die formale Position des Bewerbers iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, Entschädigungsansprüche nach § 15 Abs. 2 AGG geltend machen zu können24.

Aus den Umständen, dass der Stellenbewerber „professionelle Geltendmachungsschreiben“ verwendet, Vergleichsvorschläge unterbreitet und für den Fall einer Nichtannahme unmittelbar mit einer Klage gedroht hat, lässt sich ebenfalls nicht ableiten, dass der Stellenbewerber rechtsmissbräuchlich handelt. Ein solches Verhalten – für sich betrachtet – lässt sich ebenso damit erklären, dass ein ernsthaftes Interesse an dem Erhalt der jeweiligen Stelle bestand, und dass der/die Bewerber/in, weil er/sie sich entgegen den Vorgaben des AGG bei der Auswahl- und Besetzungsentscheidung diskriminiert sieht, mit der Entschädigungsklage zulässigerweise seine/ihre Rechte nach dem AGG wahrnimmt25.

Auch eine Gesamtschau sämtlicher aus Sicht der Arbeitgeberin für einen Rechtsmissbrauch sprechenden Umstände ist nicht geeignet, das Entschädigungsverlangen des Stellenbewerbers als rechtsmissbräuchlich einzuordnen. Es kann nicht angenommen werden, dass er nicht jedenfalls auch daran interessiert war, einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Dafür spricht letztlich auch, dass er auf seine Bewerbungen hin am Ende des Jahres 2019 einen Arbeitsplatz bei einem Mitbewerber der Arbeitgeberin gefunden und die Stelle auch angetreten hat, auch wenn es sich dabei um eine anders geartete Tätigkeit als die von der Arbeitgeberin ausgeschriebene gehandelt haben mag.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22

  1. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 28 mwN[]
  2. vgl. BAG 31.03.2022 – 8 AZR 238/21, Rn. 15; 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn.20, BAGE 176, 226; 1.07.2021 – 8 AZR 297/20, Rn. 15, BAGE 175, 228[]
  3. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 29 mwN[]
  4. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 30; 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn. 23, BAGE 176, 226, jeweils mwN[]
  5. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 31; 2.06.2022 – 8 AZR 191/21, Rn. 28, jeweils mwN[]
  6. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 32; 2.06.2022 – 8 AZR 191/21, Rn. 29, jeweils mwN[]
  7. st. Rspr., zB BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 33; 2.06.2022 – 8 AZR 191/21, Rn. 30, jeweils mwN[]
  8. st. Rspr., zB BAG 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, Rn. 27, BAGE 176, 226; 23.01.2020 – 8 AZR 484/18, Rn. 36, BAGE 169, 302, jeweils mwN[]
  9. BAG 3.08.2005 – 10 AZR 585/04, zu II b der Gründe; BGH 24.05.2007 – III ZR 176/06, Rn. 15[]
  10. BAG 14.12.2011 – 10 AZR 517/10, Rn. 13; BGH 10.01.2023 – VIII ZR 9/21, Rn. 14; 5.10.2022 – VIII ZR 88/21, Rn.20; 29.01.2020 – VIII ZR 80/18, Rn. 55, BGHZ 224, 302[]
  11. BGH 10.01.2023 – VIII ZR 9/21 – aaO; 5.10.2022 – VIII ZR 88/21 – aaO; 29.01.2020 – VIII ZR 80/18 – aaO[]
  12. BAG 27.03.2019 – 10 AZR 318/17, Rn.19; 10.09.2014 – 10 AZR 959/13, Rn. 29, BAGE 149, 84; BGH 10.01.2023 – VIII ZR 9/21, Rn. 15; 31.10.2019 – 1 StR 219/17, Rn. 60; 24.05.2007 – III ZR 176/06, Rn. 15; 25.04.1995 – VI ZR 178/94, zu II 2 der Gründe[]
  13. vgl. BAG 1.07.2021 – 8 AZR 297/20, Rn. 35, BAGE 175, 228[]
  14. vgl. EuGH 16.01.2014 – C-429/12 – [Pohl] Rn. 23[][]
  15. vgl. EuGH 19.04.2012 – C-415/10 – [Meister] Rn. 40[]
  16. zu den Voraussetzungen der sekundären Darlegungslast vgl. BAG 1.07.2021 – 8 AZR 297/20, Rn. 35 mwN, BAGE 175, 228[]
  17. vgl. etwa BAG 4.05.2022 – 5 AZR 359/21, Rn. 29; 27.05.2015 – 5 AZR 88/14, Rn. 31, BAGE 152, 1[]
  18. vgl. etwa BAG 27.08.2020 – 8 AZR 45/19, Rn. 30, BAGE 172, 78; 23.01.2020 – 8 AZR 484/18, Rn. 36, BAGE 169, 302[]
  19. zu den Anforderungen im Einzelnen: vgl. BAG 11.08.2016 – 8 AZR 406/14, Rn. 83; 19.05.2016 – 8 AZR 470/14, Rn. 89, BAGE 155, 149; 19.05.2016 – 8 AZR 583/14, Rn. 81[]
  20. BAG 11.08.2016 – 8 AZR 406/14, Rn. 85[]
  21. BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21, Rn. 43; grundlegend BAG 19.05.2016 – 8 AZR 470/14, Rn. 32 ff., BAGE 155, 149[]
  22. vgl. BAG 25.10.2018 – 8 AZR 562/16, Rn. 55; 11.08.2016 – 8 AZR 4/15, Rn. 67, BAGE 156, 71[]
  23. vgl. BAG 26.01.2017 – 8 AZR 848/13, Rn. 143[]
  24. vgl. etwa BAG 31.03.2022 – 8 AZR 238/21, Rn. 47; 26.01.2017 – 8 AZR 848/13, Rn. 136 mwN[]
  25. BAG 19.05.2016 – 8 AZR 470/14, Rn. 50, BAGE 155, 149[]
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