Einzelvertragliche statische Verweisung auf einen Anerkennungstarifvertrag

Vereinbaren nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien die Geltung eines genau bezeichneten Anerkennungstarifvertrages, liegt eine statische Verweisung vor. Für die Unklarheitenregel des § 305 c Abs. 2 BGB bleibt kein Raum.

Einzelvertragliche statische Verweisung auf einen Anerkennungstarifvertrag

Verweist der so bezeichnete Anerkennungstarifvertrag dynamisch auf die jeweils geltenden Flächentarifverträge der Branche, ergibt sich aus § 305 c Abs. 2 BGB nicht, dass die Dynamik der in Bezug genommenen Flächentarifverträge bei Beendigung des Anerkennungstarifvertrages weiter gilt.

In dem hier vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg entschiedenen Fall lag weder eine beidseitige Tarifgebundenheit vor noch griffen die Grundsätze der betrieblichen Übung, so dass die Tarifverträge der chemischen Industrie allenfalls dann für das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis dynamisch gelten könnten, wenn sich dies aus der Vereinbarung der Parteien vom 14.07.2010 in Verbindung mit dem Anerkennungstarifvertrag (ATV) und dessen Verweisung auf die streitgegenständlichen Tarifverträge ergibt. Diese Vereinbarung vom 14.07.2010 enthält jedoch eine eindeutige, keinen Zweifeln unterliegende, statische Verweisung auf den konkreten ATV vom 02.08.2010, der im fertigen Entwurf der individualrechtlichen Vereinbarung auch als Anlage beigefügt war. Folglich konnte allein dieser, statisch zwischen den Parteien vereinbarte ATV die Tarifverträge der chemischen Industrie in das Arbeitsverhältnis transportieren. Wenn aber individualarbeitsrechtlich nur ein konkret vereinbarter Anerkennungstarifvertrag tarifvertragliche Regelungen einer Branche dynamisch in das konkrete Einzelarbeitsverhältnis transportieren kann, kann dies nur während dessen Laufzeit der Fall sein. Deshalb kann es, entgegen der Auffassung der Arbeitnehmerin, nicht einerlei sein, ob ein Arbeitsvertrag direkt oder im Wege einer mehrstufigen Verweisungstechnik auf ein Tarifwerk verweist.

Die individualvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag ist anerkannt und – unabhängig von einer kollektivrechtlichen Geltung – stets konstitutiv1. Durch sie wird der Tarifvertrag, auf den Bezug genommen wird, zum Inhalt des Arbeitsvertrages2. Eine solche individualrechtliche Bezugnahme kann statisch sein oder dynamisch, es kann sich um eine Globalverweisung oder Teilverweisung handeln. Im Übrigen kann der Tarifvertrag, der einzelvertraglich in Bezug genommen wurde, seinerseits weiter – statisch oder dynamisch – auf einen anderen Tarifvertrag oder sogar auf mehrere Tarifverträge verweisen (Doppel- oder Mehrfachverweisung)3.

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Zur Beantwortung der Frage, was nach Beendigung des bezugnehmenden Tarifvertrages gilt und in welchem Umfang eine AGB-Kontrolle stattzufinden hat, ist zwischen der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel und der tarifvertraglichen Verweisungsklausel zu differenzieren. Es ist von der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel auszugehen und diese, soweit es sich wie hier unstreitig um eine allgemeine Geschäftsbedingung handelt, einer AGB-Kontrolle zu unterziehen. Zweifel bei der Auslegung gehen nach § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders. Es ist eine Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB vorzunehmen. Im Übrigen findet bei der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel eine Inhaltskontrolle nicht statt, weil diese nach § 307 Abs. 3 BGB nur für Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen in Betracht kommt, die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen enthält, was vorliegend nicht der Fall ist, weil Tarifverträge, und damit auch Anerkennungstarifverträge, nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften im Sinne von § 307 Abs. 3 BGB gleichstehen4. Der Inhalt des Anerkennungstarifvertrages selbst unterliegt dagegen, genauso wie die Inhalte der von diesem in Bezug genommenen Tarifverträge gem. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB keiner AGB-Kontrolle.

In Anwendung der dargestellten Grundsätze ist die individualvertragliche Bezugnahmeklausel in der Vereinbarung der Parteien vom 14.07.2010 als statische Verweisung auf den am 2.08.2010 zwischen der B. Group AG, den Insolvenzverwaltern und der IG BCE abgeschlossenen ATV auszulegen.

Der Wortlaut der Bezugnahmeklausel spricht deutlich für eine statische Verweisung. Zwar wird das Datum des ATV nicht genannt, was allerdings zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht möglich war, da dieser erst später, nämlich am 2.08.2010 unterzeichnet wurde. Allerdings ist der konkrete Text des späteren (unveränderten) ATV der Vereinbarung beigefügt, weshalb diesbezüglich, anders als im Fall, den das Bundesarbeitsgericht am 2.03.1988 zu entscheiden hatte5 kein Transparenzproblem vorliegen kann. In der Bezugnahmeklausel wird ausdrücklich nur auf diesen beigefügten und damit klar bestimmten Tarifvertrag verwiesen. Es wird im Singular davon gesprochen, dass „der… geschlossene Anerkennungstarifvertrag… Bestandteil des… bestehenden Arbeitsverhältnisses ist“. Damit nehmen die Vertragsparteien auf ein einmaliges, explizit genanntes Ereignis – den Abschluss dieses ATV – Bezug, dessen Wortlaut die Parteien kennen und ihrer Vereinbarung zugrunde legen. Dies machen die Parteien in ihrer Vereinbarung auch dadurch besonders deutlich, dass nach dem Wortlaut „die Regelungen dieses Anerkennungstarifvertrages“ im Arbeitsverhältnis voll umgänglich gelten sollen und zwar nur der „zwischen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Landesbezirk Baden-Württemberg und der B. Group AG und Herrn F. als Insolvenzverwalter“ abgeschlossene Anerkennungstarifvertrag. Nach einem Betriebsübergang auf die Arbeitgeberin wäre der Insolvenzverwalter aber nicht mehr an nachfolgenden Tarifvertragsabschlüssen beteiligt gewesen.

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Auch eine Auslegung der Bezugnahmeklausel nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn führt zur Annahme einer statischen Verweisung. Aus der Sicht von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der regelmäßig beteiligten Verkehrskreise ist die Bezugnahmeklausel unter Berücksichtigung der Auslegung des ATV dahingehend zu verstehen, dass sie im Zusammenspiel mit dem ATV einen Entgeltverzicht der Arbeitnehmer ausgleichen und der Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin eine Loslösung von ihrer mittelbaren tariflichen Bindung ermöglichen sollte. Nach dem Wortlaut und Willen der Tarifvertragsparteien sollten die Arbeitnehmer durch einen Entgeltverzicht im Jahr 2010 einen Sanierungsbeitrag leisten. Im Gegenzug für die in § 3 Nr. 3 ATV vorgesehene Absenkung der bezirklichen Tarifentgeltsätze um 5 % im Zeitraum vom 01.04.2010 bis zum 31.12 2010 verweist § 2 ATV dynamisch auf die Verbandstarifverträge der IG BCE. Aufgrund der Dynamisierungswirkung von § 2 ATV partizipieren die Arbeitnehmer der Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin bereits dann von den tariflichen Lohnerhöhungen auf Verbandsebene, wenn der ATV in einem Arbeitsvertrag statisch in Bezug genommen wird.

Für das Vorliegen einer statischen schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel spricht auch, dass die Tarifvertragsparteien in § 4 Nr. 2 ATV eine Kündigungsmöglichkeit frühestens zum 31.12 2011 vorgesehen haben. Eine solche entspricht regelmäßig dem Willen der Tarifvertragsparteien, die Anerkennung auf die während der Laufzeit eines Anerkennungstarifvertrages abgeschlossenen Verbandstarifverträge zu beschränken6. Bei einer unbedingten dynamischen Verweisung liefe eine Kündigung der Arbeitgeberin ins Leere, da über die schuldrechtliche Bezugnahme eine Bindung an später abgeschlossene Verbandstarifverträge bestünde. Hätten die Arbeitnehmerin und der Insolvenzverwalter eine derartige Bindung für die Ewigkeit zulasten der Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin vereinbaren wollen, wäre es zumindest erforderlich gewesen, dies ansatzweise in der schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel zum Ausdruck zu bringen. Hinzu kommt, dass der in der Kündigungsmöglichkeit erkennbare, nur vorübergehende Tarifbindungswille der Tarifvertragsparteien mit dem bereits dargestellten Ausgleichszweck des ATV durchaus im Einklang steht. Die Arbeitnehmer partizipieren als Ausgleich für ihren Entgeltverzicht bis zu einer Kündigung des ATV und damit zumindest im Jahr 2011 an Tariflohnerhöhungen auf Verbandsebene.

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Da nach dem dargestellten Auslegungsergebnis keine Zweifel an der Statik der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel bleiben, ist diesbezüglich für die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB kein Raum. Deshalb kann es auch offenbleiben, ob die Vorschrift vorliegend auch schon deshalb nicht anwendbar ist, weil sich die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht eindeutig beantworten lässt7.

Die individualvertragliche Bezugnahmeklausel verletzt auch das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht. Eine Verweisung auf Vorschriften eines anderen Regelungswerkes führt für sich genommen nicht zur Intransparenz, da die Bezugnahme auf andere Rechtsnormen nicht fremd und deshalb nichts Ungewöhnliches ist. Die statische Bezugnahmeklausel wird auch nicht durch die dynamische Weiterverweisung auf die Verbandstarifverträge im ATV unklar. Vielmehr war durch diese Technik in Verbindung mit dem Informationsschreiben an die Mitarbeiter vom 13.07.2010 für die Arbeitnehmerin deutlich erkennbar, dass die B. AG bereit war, die insolventen Unternehmen zu übernehmen und dass damit die Arbeitsplätze erhalten werden, allerdings nur um den Preis eines einheitlichen, anteiligen Anspruchsverzichts der Mitarbeiter für das Kalenderjahr 2010 und um den weiteren Preis, dass die Tarifverträge der chemischen Industrie nicht für alle Ewigkeit dynamisch gelten sollen, sondern die Dynamik an die Laufzeit eines mit der IG BCE ausgehandelten Firmentarifvertrags – des ATV – einheitlich für alle Arbeitnehmer geknüpft ist.

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Eine ergänzende Vertragsauslegung dahingehend, dass Verbandstarifverträge in ihrer jeweils aktuellen Fassung Anwendung finden, ist nicht möglich. Voraussetzung einer solchen ist, dass die Vereinbarung eine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit aufweist8. Die Parteien haben hier vorliegend keinen Punkt übersehen oder bewusst offen gelassen, weil sie den Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht für regelungsbedürftig gehalten haben. Vielmehr lässt die Bezugnahmeklausel im Zusammenspiel mit dem ATV, wie bereits gezeigt, keine Bestimmung vermissen, die erforderlich ist, um das Regelungsziel der Parteien angemessen und interessengerecht zu regeln.

Entgegen der Auffassung der Arbeitnehmerin führt das hier dargestellte Ergebnis, dass sich die Anwendbarkeit der Verbandstarifverträge in ihrer jeweils aktuellen Fassung nicht aus der individualvertraglichen Inbezugnahme in der Vereinbarung vom 14.07.2010 ergibt, nicht zu einer Fortsetzung der Rechtsprechung zur sogenannten Gleichstellungsabrede. Im vorliegenden Fall liegt keine schuldrechtlich, dynamische Bezugnahmeklausel vor, die durch einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall der Tarifgebundenheit „eingefroren“ wird. Vielmehr ist eine statische Bezugnahmeklausel gegeben, welche überhaupt erst über eine dynamische Weiterverweisung im dazwischen geschalteten ATV dazu geführt hat, dass die nachfolgenden Änderungen der Verbandstarifverträge für die Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin bis zu der Kündigung des ATV bindend war.

Soweit die Arbeitnehmerin meint, es hätte ihr gegenüber vor oder bei Abschluss der Vereinbarung vom 14.07.2010 klarer gemacht werden müssen, dass die dynamische Geltung der Tarifverträge der chemischen Industrie mit Ablauf des ATV enden werde, verlangt sie eine Belehrung über die Auswirkungen einer Kündigung eines Anerkennungstarifvertrages und Aufklärung über die Unterschiede der verschiedenen Verweisungsmöglichkeiten, also Direkt- und Doppelverweisung. Eine solche Belehrungspflicht ergibt sich jedoch nicht.

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Die von der Arbeitnehmerin im Kammertermin der Berufungsverhandlung am 11.03.2016 herangezogene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14.12 2011 führt zu keinem anderen Ergebnis. In dieser Entscheidung verweist das Bundesarbeitsgericht lediglich darauf, dass die Rechtsprechung zum „Einfrieren“ im vorliegenden Fall nicht einschlägig sei, da im für die Entscheidung relevanten Tarifvertrag selbst festgelegt sei, dass sich die normative Geltung des verweisenden Tarifvertrages und damit auch die in ihm geregelte Dynamik verlängere9. Genau dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.

Nachdem allein der ATV im Wege einer dynamischen Verweisung die jeweils geltenden Tarifverträge mit dem Transportmittel der individualvertraglichen Vereinbarung in die Arbeitsverträge der Parteien transportieren konnte, hängt die „Dynamik“ allein von dessen normativer Geltung ab. Dies ergibt sich vorliegend bereits aus § 2 Abs. 3 ATV, der die Dynamik nur für die „anerkannten“ Tarifverträge regelt und in § 2 Abs. 1 nur die genannten Tarifverträge „im Rahmen dieses Anerkennungstarifvertrages“ anerkennt. Die in Bezug genommenen Tarifnormen der Verbandstarifverträge wurden in den ATV inkorporiert und vervollständigten diesen10. Mit der Kündigung des ATV zum 31.12 2011 erlosch der übereinstimmende Geltungswille der Tarifvertragsparteien auch hinsichtlich des Inhalts der Verbandstarifverträge11, weshalb es zu einer „Entdynamisierung“ der dynamischen Bezugnahme auf die Verbandstarifverträge kam12.

Landesarbeitsgericht Baden -Württemberg, Urteil vom 11. März 2016 – 11 Sa 72/15

  1. ErfK/Franzen, 16. Aufl.2016, § 3 TVG Rn. 33; Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl.2011, II V Rz. 7[]
  2. allgem. Auffassung, z.B. BAG 7.12 1977 – 4 AZR 474/76; ErfK/Franzen aaO. Rn. 32[]
  3. vgl. BAG 18.11.2009 – 4 AZR 493/08, Rn. 26, 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, Rn. 36[]
  4. BT-Dr 14/6857, S. 54; Thüsing, NZA 2002, 1361, 1362[]
  5. BAG 2.03.1988 – 4 AZR 595/87; hierzu: Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl.2011, II V 30[]
  6. vgl. LAG Baden-Württemberg 29.01.2014 – 19 Sa 42/13[]
  7. vgl. hierzu BAG 24.09.2008 – 6 AZR 76/07, Rn. 27[]
  8. BAG 6.07.2011 – 4 AZR 501/09[]
  9. BAG 14.12 2011 – 4 AZR 26/10, Rn. 55[]
  10. BAG 10.03.2004 – 4 AZR 140/03; 23.02.2012 – 4 AZR 8/10[]
  11. vgl. BAG 22.02.2012 – 4 AZR 8/10[]
  12. Löwisch/Rieble, TVG, 3. Aufl.2012, § 1 Rn. 36, § 4 Rn. 704; BAG 29.01.2008 – 3 AZR 426/06; LAG Baden-Württemberg 29.01.2014 – 19 Sa 42/13, Rn. 35; LAG Mecklenburg-Vorpommern 27.11.2012 – 5 Sa 98/12 – 5 Sa 98/12, Rn. 37[]
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