Ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, mehrere Arbeitnehmer zu entlassen, ist verpflichtet, dies der Agentur für Arbeit anzuzeigen, wenn die Anzahl der Entlassungen bestimmte, in § 17 KSchG beschriebene Grenzen übersteigt. Für diese anzeigepflichtigen Entlassungen bestimmt sodann § 18 KSchG, dass diese „vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam“ werden. Diese Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG hindert, wie das Bundesarbeitsgericht entschieden hat, weder den Ausspruch einer Kündigung nach Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit während des Laufs der Sperrfrist nach § 18 Abs. 1 oder Abs. 2 KSchG noch verlängert die Sperrfrist die gesetzlichen Kündigungsfristen.

Nach § 18 Abs. 1 KSchG werden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige nur mit Zustimmung der Agentur für Arbeit wirksam. Bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist kann eine vom Arbeitgeber erklärte Kündigung keine Wirkung entfalten. Die Kündigung nach Anzeigenerstattung bleibt aber als Rechtsgeschäft grundsätzlich wirksam; sie beendet das Arbeitsverhältnis, sofern dieses Ende vor dem Ende der Sperrfrist liegen sollte, nur nicht zu dem in der Kündigungserklärung genannten Zeitpunkt1.
Nach der gesetzlichen Formulierung des § 18 Abs. 1 KSchG kann eine Kündigung schon unmittelbar nach Erstattung (Eingang) der Anzeige bei der Agentur für Arbeit ausgesprochen werden. Die Gesetzesfassung verbietet den Ausspruch der Kündigung vor dem Ablauf der Sperrfrist nicht, auch wenn man unter „Entlassung“ im Sinne der Norm die Kündigung versteht2. Aus dem Gesetzeswortlaut lässt sich lediglich entnehmen, dass die Entlassung – auch bei ordnungsgemäßer Anzeige – grundsätzlich nicht ohne Einhaltung einer Mindestfrist von einem Monat vollzogen werden kann. Geregelt wird insoweit der Vollzug der Entlassung. Das Wirksamwerden iSv. § 18 KSchG bezieht sich damit auf den Eintritt der Rechtsfolgen der Kündigung. Diese treten mit Ablauf der Kündigungsfrist ein. Der Gesetzeswortlaut umschreibt nur einen „Mindestzeitraum“, der zwischen der Anzeigenerstattung und der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses liegen muss.
Dem steht auch nicht die Richtlinie 98/59/EG vom 20. Juli 1998 (Massenentlassungsrichtlinie – MERL) entgegen. Nach Art. 3 Abs. 1 MERL hat der Arbeitgeber der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. Nach Art. 4 MERL (Entlassungssperre) gelten die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen frühestens dreißig Tage nach Eingang der in Art. 3 Abs. 1 MERL genannten Anzeige als wirksam; die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen bleiben unberührt. Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde jedoch die Möglichkeit einräumen, die Frist des Unterabsatzes 1 zu verkürzen. Nach Art. 4 Abs. 2 MERL muss die Frist des Absatzes 1 von der zuständigen Behörde dazu genutzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof3 zur Frage des vorlegenden Gerichts, ob der Arbeitgeber Massenentlassungen vornehmen darf, bevor das Anzeigeverfahren nach Art. 3 und 4 MERL beendet ist, ausgeführt: „Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie besteht der Zweck der Anzeige darin, es der zuständigen Behörde zu ermöglichen, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen. Weiter muss die zuständige Behörde nach dieser Bestimmung die Frist des Art. 4 Abs. 1 für die Suche nach solchen Lösungen nutzen. … Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie werden die Massenentlassungen, dh. die Kündigungen der Arbeitsverträge, erst mit dem Ablauf der geltenden Frist wirksam“4. Nach der Rechtsprechung des EuGH entspricht diese Frist „folglich dem Mindestzeitraum, der der zuständigen Behörde für die Suche nach Lösungen zur Verfügung stehen muss5. Da nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen ausdrücklich unberührt bleiben, muss sich diese Bestimmung zwangsläufig auf den Fall bereits ausgesprochener Kündigungen beziehen, die eine solche Frist in Gang setzen“6 . Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs folgt somit, dass die Art. 3 und Art. 4 MERL einer Kündigung von Arbeitsverhältnissen während des durch sie geregelten Verfahrens nicht entgegenstehen, sofern diese Kündigung nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde erfolgt. D.h. eine Kündigung kann nach Anzeigenerstattung erfolgen, die betroffenen Arbeitnehmer dürfen nur nicht vor Ablauf der Monatsfrist des § 18 Abs. 1 KSchG – oder im Fall des § 18 Abs. 2 KSchG der längstens zweimonatigen Frist – aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Dementsprechend werden von der „Sperrfrist“ nur solche Kündigungen unmittelbar erfasst, deren Kündigungsfrist kürzer als die Sperrfrist sind7.
Etabliert demnach § 18 Abs. 1 KSchG lediglich einen Mindestzeitraum bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so verlängert die gesetzliche Regelung die Kündigungsfrist nicht über diesen Mindestzeitraum hinaus oder verschiebt gar den Beginn der Kündigungsfrist8. Die entgegenstehende Auffassung lässt sich weder aus dem Wortlaut noch dem Zweck der in Rede stehenden Regelung ableiten. Den Rechtsauffassungen, die in § 18 KSchG eine „aufschiebende Rechtsbedingung“ sehen oder eine „schwebende Unwirksamkeit der Kündigung“ mit der Folge annehmen, dass die Kündigungsfrist erst mit Ablauf der Sperrfrist in Gang gesetzt wird9, folgt das Bundesarbeitsgericht nicht. Sinn und Zweck der Regelung des § 18 Abs. 1 KSchG erfordern eine solche Verlängerung der individualrechtlichen Kündigungsfrist oder ein Hinausschieben des Kündigungsfristbeginns nicht. Die Sperrfrist des § 18 KSchG dient nämlich primär arbeitsmarktpolitischen Zwecken und soll der Arbeitsverwaltung die Möglichkeit verschaffen, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung der Entlassenen zu sorgen10. Hiervon ausgehend besteht kein Bedürfnis, die Monatsfrist des § 18 Abs. 1 KSchG der – individuellen – Kündigungsfrist des betroffenen Arbeitnehmers – sofern diese über einem Monat liegt – noch hinzuzuaddieren11. Der Agentur für Arbeit steht die insoweit gesetzlich geregelte Frist für die Erfüllung ihrer arbeitsmarktpolitischen Aufgaben ohne weiteres und hinreichend zur Verfügung.
Der vorstehenden Lösung widerspricht auch nicht die Regelung zur sog. Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG. Ob § 18 Abs. 4 KSchG nach der neuen Auffassung vom Begriff der „Entlassung“ überhaupt noch anwendbar und nicht teleologisch zu reduzieren ist, kann letztlich dahingestellt bleiben12. Aus der Regelung lässt sich jedenfalls das gegenteilige Ergebnis nicht begründen. Nach § 18 Abs. 4 KSchG bedarf es unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG einer erneuten Anzeige, wenn die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach den Absätzen 1 und 2 zulässig sind, „durchgeführt“ werden. Das Gesetz spricht insoweit nicht von einem „Wirksamwerden“ oder gar von einem Ablauf der Kündigungsfrist, sondern nur von einer „Durchführung der Entlassung“. Damit ist nach allgemeinem Sprachgebrauch ein aktives Handeln, nämlich das „Umsetzen in die Tat“13, bspw. die „Verwirklichung, die Ausführung oder die Bewerkstelligung“14 gemeint. Die Regelung lässt sich deshalb auch dahin verstehen, dass der Arbeitgeber – nach Anzeige der möglichen Entlassung bei der Agentur für Arbeit – verpflichtet wird, die Kündigungen innerhalb der 90-Tage-Frist „in die Tat umzusetzen“, also zu erklären15 . Auch insoweit behielte die gesetzliche Regelung noch einen hinreichenden, wenn auch beschränkten Anwendungsbereich. Sie würde sog. „Vorratsmeldungen“ verhindern helfen und der Agentur für Arbeit eine entsprechende Planbarkeit garantieren.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 6. November 2008 – 2 AZR 935/07
- vgl. BAG 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9; 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318; ErfK/Kiel 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 11; APS/Moll 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 33; KR/Weigand 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 2b und 29; BBDK/Dörner KSchG Stand Mai 2007 § 18 Rn. 20; AnwK-ArbR/Dreher/Schmitz-Scholemann § 18 KSchG Rn. 8[↩]
- vgl. BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281; siehe auch 1. Februar 2007 – 2 AZR 15/06 -; 21. September 2006 – 2 AZR 284/06 – ; 20. September 2006 – 6 AZR 219/06 – zum Begriff der Entlassung, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 24 sowie auch EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] EuGHE I 2005, 885; vgl. weiter v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 18 Rn. 18; Stahlhacke/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1589; KFA-ArbR/Leschnig § 18 KSchG Rn. 4; Lembke/Oberwinter NJW 2007, 721, 726; LAG Berlin-Brandenburg 23. Februar 2007 – 6 Sa 2152/06 – BB 2007, 2296[↩]
- EuGH, Urteil vom 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] EuGHE I 2005, 885[↩]
- EuGH, a.a.O., Rn. 47 bis 50[↩]
- EuGH, a.a.O., Rn. 51[↩]
- EuGH, a.a.O., vgl. Rn. 52[↩]
- vgl. zum Ganzen v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 18 Rn. 18; MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. § 18 KSchG Rn. 14; KR/Weigand 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 5; Lembke/Oberwinter NJW 2007, 721, 726; Bauer/Krieger/Powietzka DB 2005, 445, 447; Dornbusch/Wolff BB 2007, 2297, 2998; Reinhard RdA 2007, 207, 210; LAG Hamm 24. Oktober 2007 – 2 Sa 922/07 -[↩]
- so im Ergebnis zutreffend: APS/Moll 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 33[↩]
- vgl. bspw. Ferme/Lipinski NZA 2006, 937, 939; Wolter AuR 2005, 135, 138; LAG Berlin-Brandenburg 23. Februar 2007 – 6 Sa 2152/06 – BB 2007, 2296[↩]
- vgl. insbes. BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – NJW 2006, 3161, 3164 mwN; zusammenfassend: KR/Weigand 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 3; zu dem Zweck der Regelungen der Massenentlassungsrichtlinie, vgl. Art. 4 Abs. 2 MERL, siehe auch EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47, EuGHE I 2005, 885[↩]
- so im Ergebnis auch APS/Moll 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 33; Reinhard RdA 2007, 207, 210[↩]
- vgl. bereits BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – NJW 2006, 3161, 3164; vgl. auch KR/Weigand 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 34; BBDK/Dörner KSchG Stand Mai 2007 § 18 Rn. 19; ErfK/Kiel 8. Aufl. § 18 KSchG Rn. 14[↩]
- Wahrig Deutsches Wörterbuch 8. Aufl. „Durchführung“[↩]
- Duden Das Synonymwörterbuch 4. Aufl. „Durchführung“[↩]
- so auch HaKo/Pfeiffer 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 19; BBDK/Dörner KSchG Stand Mai 2007 § 18 Rn. 19; Appel DB 2005, 1002, 1004; Bauer/Krieger/Powietzka BB 2006, 2023, 2026; anders: LAG Baden-Württemberg vom 25. März 2008 – 16 Sa 83/07 – „Durchführung“ meint die „rechtliche Beendigungswirkung“; HWK/Molkenbur 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 13 m.w.N.[↩]