Kündigung wegen unberechtigter Einlösung einer Essensmarke

Die einmalige unberechtigte Einlösung einer Essensmarke, durch die das Essen auf Kosten des Arbeitgebers um 0,80 € verbilligt abgegeben wurde, rechtfertigt nach Ansicht des Arbeitsgerichts Reutlingen keine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Kündigung wegen unberechtigter Einlösung einer Essensmarke

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die erforderliche Überprüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund darstellt, vollzieht sich zweistufig:

  1. Im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist.
  2. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht1.

Wichtiger Kündigungsgrund

Aufgrund der dem Kläger bekannten Erläuterungen der Beklagten zur Einlösung der Wertbons durfte von ihm pro Tag maximal ein Wertbon in der Kantine eingelöst werden. Der Kläger wusste auch, dass eine Übertragung der Wertbons auf Arbeitskollegen oder andere Personen ausgeschlossen war. Die bewusste Zuwiderhandlung des Arbeitnehmers gegen die Regelungen zur Nutzung der Essensgutscheine mit dem Ziel, sich unberechtigte Vermögensvorteile zu verschaffen, kann an sich geeignet sein, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zu begründen. Die Essensgutscheine stellen eine zusätzliche vermögenswerte Leistung des Arbeitgebers dar. Jedenfalls beim Vorliegen einer bewussten und gewollten und damit vorsätzlichen Zuwiderhandlung des Arbeitnehmers gegen die Verwendungsbestimmungen einer Sachbezugsregelung kann dies, auch wegen des damit verbundenen Vertrauensbruchs, an sich eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Auf die strafrechtliche Würdigung kommt es für die vorzunehmende kündigungsrechtliche Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers nicht entscheidend an2.

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In dem vom Arbeitsgericht Reutlingen entschiedenen Fall hat der Kläger hat am Vormittag dieses Tages im Betrieb der Beklagten seinen Arbeitskollegen B. gebeten, ihm einen unterschriebenen Essensgutschein auszuhändigen, nachdem er sich mit seiner Lebensgefährtin zum gemeinsamen Mittagessen in der Kantine verabredet hatte. Diesen Essensgutschein sowie einen eigenen Gutschein löste der Kläger bei der Bezahlung der von ihm und seiner Lebensgefährtin eingenommenen Mahlzeiten ein mit der Folge, dass für beide Mahlzeiten ein jeweils um EUR 0,80 reduzierter Preis gezahlt werden musste. Damit hat der Kläger bewusst und gewollt die Regelungen zur Verwendung der Wertbons unterlaufen, nach denen eine Übertragbarkeit auf Kollegen/-innen oder andere Personen ausgeschlossen ist. Mit der Einlösung des ihm von seinem Arbeitskollegen B. ausgehändigten Essensgutscheins wollte sich der Kläger einen ihm nicht zustehenden Vermögensvorteil verschaffen, wobei es nicht darauf ankommt, ob er den Gutschein seiner Lebensgefährtin zum Zwecke der Einlösung in der Kantine übergeben oder ihn selbst zur Bezahlung auch ihres Mittagessens verwendet hat. Soweit die Beklagte dem Kläger in diesem Zusammenhang vorwirft, er habe „planvoll“ und nicht gedankenlos gehandelt, trifft auch dieser Vorwurf jedenfalls insoweit zu, als der Kläger mit der Verwendung des Essensgutscheins seines Arbeitskollegen und nicht etwa eines zweiten eigenen Gutscheins erreichen wollte, dass sein pflichtwidriges Handeln unbemerkt bleiben würde. Die – nach Ansicht der Kammer nur wenig überzeugende – Einlassung des Klägers in der Klagschrift, er und seine Lebensgefährtin hätten am fraglichen Tag nur wenig Bargeld bei sich gehabt, ändert an der Unvereinbarkeit seines Verhaltens mit den Verwendungsbestimmungen der Wertbons nichts, ganz abgesehen davon, dass es in diesem Falle nahe gelegen hätte, den Arbeitskollegen B. um Überlassung des fehlenden Bargeldes und nicht um Überlassung einer Essensmarke zu bitten.

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Erfordernis einer Abmahnung

Auch wenn danach von einer erheblichen Pflichtverletzung des Klägers ausgegangen wird, konnte vor Ausspruch der Kündigung nicht auf eine Abmahnung verzichtet werden.

Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das sog. Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist nicht Sanktion für die Vertragspflichtverletzung, sondern dient der Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich deshalb noch in der Zukunft belastend auswirken. Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag auch nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Deshalb setzt eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient der Objektivierung der negativen Prognose3.

Die Abmahnung ist zugleich aber auch Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Eine Kündigung ist nicht gerechtfertigt, wenn es andere geeignete mildere Mittel gibt, um die Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen. Dieser Gesichtspunkt ist auch bei Störungen des Vertrauensbereichs zu beachten. Auch bei Handlungsweisen, die den sog. Vertrauensbereich berühren, ist vor Ausspruch einer Kündigung eine Abmahnung erforderlich, wenn ein steuerbares Verhalten in Rede steht und es erwartet werden kann, dass das Vertrauen wiederhergestellt wird4. Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann5 oder es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist6.

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Hieran gemessen lässt das Fehlverhalten des Arbeitnehmers bei der unberechtigten Einlösung des Essensbons keine eindeutige Negativprognose zu. Zwar war dem Kläger die Unvereinbarkeit seiner Vorgehensweise mit dem bestehenden Ausschluss der Übertragbarkeit der Essensgutscheine auf andere Personen bewusst. Auch wenn sich der Kläger einen ihm nicht zustehenden Vermögensvorteil verschaffen wollte, fehlen aber hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass er plangemäß mit der Absicht gehandelt hat, der Beklagten einen Vermögensschaden zuzufügen. Vielmehr konnte – und dies erscheint der Kammer auch naheliegend – die Einlösung der ihm durch seinen Arbeitskollegen überlassenen Essensmarke auch in dem Bewusstsein erfolgt sein, mit Zustimmung seines Arbeitskollegen eine diesem von der Beklagten bereits zur Verfügung gestellte Vergünstigung für sich zu beanspruchen. Konnte der Kläger auch annehmen, dass der Beklagten kein Schaden entstehen würde, wenn er an Stelle seines Arbeitskollegen dessen Essensmarke einlöst, ging es ihm aber nicht darum, sich auf Kosten der Beklagten Vorteile zu verschaffen. Er musste daher auch nicht zwingend damit rechnen, sein Fehlverhalten werde von der Beklagten als so schwerwiegend angesehen, dass es ohne Weiteres eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen würde. Dafür spricht auch, dass die Beklagte die auch dem Arbeitskollegen des Klägers, Herrn B., vorzuwerfende bewusste Zuwiderhandlung gegen die bezüglich der Essensgutscheine bestehenden Verwendungsbestimmungen lediglich zum Anlass genommen hat, diesen zu ermahnen. Dass es Herrn B. im Gegensatz zum Kläger nicht darum ging, sich einen unberechtigten Vermögensvorteil zu verschaffen, rechtfertigt zwar eine differenzierende Behandlung. Das Fehlverhalten des Klägers ist jedoch nicht in einem Maße schwerwiegend oder „verwerflich“, dass das hierdurch gestörte Arbeitsverhältnis nicht mehr in ein ungestörtes umgewandelt werden könnte. Die ihm vorzuwerfende Pflichtwidrigkeit bietet keine ausreichende Grundlage für die Prognose, selbst im Falle einer Abmahnung sei eine Rückkehr des Klägers zu vertragsgerechtem Verhalten nicht zu erwarten oder eine Wiederherstellung des Vertrauens in die Redlichkeit der Klägers ausgeschlossen. Dabei kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass die Pflichtwidrigkeit allenfalls geringfügige nachteilige wirtschaftliche Auswirkungen für die Beklagte hatte und mit der vertraglich geschuldeten Tätigkeit des Klägers und seinem konkreten Aufgabenbereich nicht in unmittelbarem Zusammenhang stand. Er hat entgegen der Darstellung der Beklagten zum Kündigungszeitpunkt auch nicht versucht, seine „Täterschaft möglichst zu verschleiern“, sondern sein Fehlverhalten vor Ausspruch der Kündigung bereits bei dem mit ihm am 30.11.2009 im Rahmen der Aufklärung des Sachverhalts geführten Gespräch ohne Einschränkung eingeräumt. Er hat dort die Einlösung des ihm von seinem Arbeitskollegen überlassenen Essensgutscheins nicht geleugnet, sondern, wie die Beklagte in dem Anhörungsschreiben an den Betriebsrat vom 30.11.2009 selbst ausführt, die ihm zur Last gelegte Tat eingestanden. Damit hat er selbst vor Ausspruch der Kündigung die Grundlage für eine Wiederherstellung des gestörten Vertrauens der Beklagten geschaffen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang das von der Beklagten angeführte prozessuale Verteidigungsverhalten des Klägers und auch dessen im vorliegenden Rechtsstreit vorgebrachte Entschuldigung. Für die Frage der Rechtswirksamkeit der Kündigung ist vielmehr entscheidend, ob Umstände vorliegen, die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung die Kündigung als wirksam erscheinen lassen; später eingetretene Umstände sind grundsätzlich nicht mehr einzubeziehen7.

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Eine Wiederholungsgefahr erscheint aufgrund der vorstehenden Gesichtspunkte und in Anbetracht des bis zum Vorfall vom 27.11.2009 offenbar beanstandungsfreien Verlaufs des Arbeitsverhältnisses unwahrscheinlich. Die außerordentliche Kündigung erweist sich daher als unverhältnismäßig.

Arbeitsgericht Reutlingen, Urteil vom 11. Mai 2010 – 2 Ca 601/09

  1. st. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts, vgl. etwa BAG AP Nr. 192 zu § 626 BGB, m.w.N., KR/Fischermeier, 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 84[]
  2. vgl. BAG AP Nr.197 zu § 626 BGB[]
  3. vgl. BAG AP Nr.54 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 m.w.N.[]
  4. vgl. BAG AP Nr.137 zu § 626 BGB, BAG AP Nr.28 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung[]
  5. vgl. BAG AP Nr.20 zu § 174 BGB m.w.N.[]
  6. vgl. BAG AP Nr. 175 zu § 626 BGB; BAGAP Nr. 42 zu § 15 KSchG 1969[]
  7. vgl. BAG AP Nr. 52 zu § 9 KSchG 1969[]