§ 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG ist nicht lex specialis gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG mit der Folge, dass ein arbeitgeberseitiger Auflösungsantrag nicht auf während des Bestehens von Sonderkündigungsschutz entstandene Sachverhalte gestützt werden könnte.

In dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Rechtsstreit war der Arbeitnehmer bei der Arbeitgeberin seit April 2014 als Elektroniker beschäftigt, vor diesem Zeitpunkt bestand das Arbeitsverhältnis mit ihrer Rechtsvorgängerin. Nach der insoweit in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung der Vorinstanz haben die fristlos und hilfsweise ordentlich zum 31.10.2019 erklärten Kündigungen der Arbeitgeberin vom 19.06.2019 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Die Arbeitgeberin hat hilfsweise zu ihrem Antrag, die Klage gegen die Kündigungen vom 19.06.2019 abzuweisen, beantragt, das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.Oktober 2019 gegen Zahlung einer in das Ermessen des Gerichts zu stellenden Abfindung aufzulösen. Zur Begründung hat sie aus ihrer Sicht gegebene Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers herangezogen. Diese waren zum Teil bereits Gegenstand von Abmahnungen. Teilweise hatte die Arbeitgeberin erfolglos Kündigungen auf sie gestützt. Darüber hinaus hat die Arbeitgeberin auf nach ihrer Behauptung bewusst wahrheitswidrigen Prozessvortrag des Arbeitnehmers verwiesen. Schließlich hat sie Verhalten des Arbeitnehmers im Dezember 2020 zur Begründung ihres Auflösungsantrags angeführt. Zu dieser Zeit war der Arbeitnehmer Bewerber für die Wahl eines neuen Betriebsrats.
Das Arbeitsgericht Braunschweig hat den Auflösungsantrag abgewiesen1. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat die Berufung der Arbeitgeberin – auch insoweit, zurückgewiesen2. Auf die Revision der Arbeitgeberin hat das Bundesarbeitsgericht das Berufungsurteil des Landesarbeitsgerichts nsoweit aufgehoben, wie es die Berufung der Arbeitgeberin gegen die Abweisung ihres Auflösungsantrags im Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig zurückgewiesen hat und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung n das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zurückverwiesen; mit der gegebenen Begründung hätte das Landesarbeitsgericht die Berufung der Arbeitgeberin gegen die Abweisung ihres Auflösungsantrags nicht zurückweisen dürfen:
Die Entscheidung der Vorinstanz über die Berufung der Arbeitgeberin gegen die Abweisung ihres Auflösungsantrags beruht auf einer Verletzung des Rechts iSv. § 545 Abs. 1, § 546 ZPO. Das Landesarbeitsgericht hat § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in mehrfacher Hinsicht nicht richtig angewendet.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Arbeitgeberin könne ihren Auflösungsantrag nicht auf das von ihr behauptete Verhalten des Arbeitnehmers im Dezember 2020 stützen, weil er zu dieser Zeit besonderen Kündigungsschutz als Wahlbewerber gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG genoss und § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG lex specialis gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG sei.
Das Landesarbeitsgericht hat nicht festgestellt, dass der Arbeitnehmer bereits im Zeitpunkt des Zugangs der – hilfsweise erklärten – ordentlichen Kündigung vom 19.06.2019 Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG hatte3. Anderenfalls wäre diese Kündigung nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 134 BGB nichtig, der Auflösungsantrag der Arbeitgeberin könnte allein deshalb keinen Erfolg haben. Ein Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist gem. § 13 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 KSchG nur in Bezug auf eine ordentliche Kündigung möglich und grds. auch nur dann, wenn diese lediglich mangels sozialer Rechtfertigung unwirksam ist4.
Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG nicht lex specialis gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG mit der Folge, dass ein arbeitgeberseitiger Auflösungsantrag generell nicht auf während des Bestehens von Sonderkündigungsschutz entstandene Sachverhalte gestützt werden könnte. Zwar kann das speziellere Gesetz in seinem Anwendungsbereich allgemeinere Normen verdrängen5. § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG und § 103 BetrVG sind aber gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG schon deshalb nicht spezieller, weil die erstgenannten Normen nur für Kündigungen des Arbeitgebers gelten. Zur Frage, auf welche Gründe ein Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG gestützt werden kann, treffen sie keine Aussage. Zudem liegt Gesetzesspezialität nur dann vor, wenn die verdrängende Rechtsnorm sämtliche Merkmale der allgemeinen Norm enthält und dieser lediglich noch ein besonderes Merkmal zur Bildung ihres Tatbestandsbegriffs hinzufügt6. Auch daran fehlt es im Verhältnis von § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG zu § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG. Weder § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG noch § 103 BetrVG enthalten die Tatbestandsmerkmale von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG.
Auf der unzutreffenden Annahme einer Spezialität von § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG beruht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts. Das Landesarbeitsgericht hat allein wegen der vermeintlichen Verdrängung von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG durch § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG das von der Arbeitgeberin angeführte Verhalten des Arbeitnehmers im Dezember 2020 nicht auf seine Eignung als Auflösungsgrund iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG geprüft und auch nicht in die Gesamtwürdigung der vorgebrachten Auflösungsgründe einbezogen.
Das Landesarbeitsgericht hat ferner zu Unrecht angenommen, der Arbeitgeberin sei es verwehrt, sich zur Begründung ihres Auflösungsantrags auf bereits abgemahnte Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers aus den Jahren 2010 und 2014 zu berufen.
Es hat gemeint, die Arbeitgeberin bzw. ihre Rechtsvorgängerin hätten mit den Abmahnungen selbst verdeutlicht, dass ihnen eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen der abgemahnten Vorfälle noch zumutbar gewesen sei. Hinzu komme, dass die Abmahnungen bereits wieder aus der Personalakte des Arbeitnehmers entfernt worden seien. Die Arbeitgeberin könne sich zur Begründung des Auflösungsantrags nun nicht mehr auf diese erhebliche Zeit zurückliegenden Vorgänge berufen.
Sollte darin die Annahme liegen, die fraglichen Vorgänge erlaubten allein wegen des Zeitablaufs keinen Schluss auf die Möglichkeit einer künftigen den Betriebszwecken dienlichen Zusammenarbeit iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, fehlte es an der hierfür erforderlichen Würdigung der konkreten Einzelfallumstände. Zwar kommt es für die Begründetheit eines Auflösungsantrags nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG darauf an, ob die objektive Lage zum Schluss der mündlichen Verhandlung die Prognose rechtfertigt, eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit sei nicht zu erwarten; es ist deshalb denkbar, dass mögliche Auflösungsgründe ihr Gewicht wieder verlieren, weil die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände sich im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung geändert haben7. Der Zeitablauf allein schließt aber die Heranziehung auch längere Zeit zurückliegender Sachverhalte als Auflösungsgründe nicht aus. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – noch weitere Umstände für die Auflösung geltend gemacht werden. Es bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelfall, ob und aus welchen Gründen die längere Zeit zurückliegenden Vorfälle selbst in der Zusammenschau mit den zusätzlich vom Arbeitgeber angeführten Tatsachen für die nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG anzustellende Prognose nicht mehr relevant sind. Nur aus einer umfassenden Gesamtschau der zum Zeitpunkt der Auflösungsentscheidung maßgeblichen Umstände kann eine gesicherte Prognose darüber getroffen werden, ob für die Zukunft noch eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu erwarten ist8.
Sollte das Landesarbeitsgericht entscheidend darauf abgestellt haben, dass das länger zurückliegende Verhalten des Arbeitnehmers bereits Gegenstand von Abmahnungen war, die zudem bereits wieder aus seiner Personalakte entfernt worden waren, führte auch dies für sich genommen nicht dazu, dass es der Arbeitgeberin verwehrt wäre, sich auf die Sachverhalte, zumindest zusammen mit weiteren Umständen, zur Begründung ihres Auflösungsantrags zu berufen.
Für die von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG verlangte Prognose, ob Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht erwarten lassen, kann grundsätzlich auch in der Vergangenheit bereits abgemahntes Verhalten von Bedeutung sein. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG erfordert, sämtliche vom Arbeitgeber geltend gemachten Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit Blick darauf zu würdigen, ob sie einzeln oder zusammen eine solche Prognose erlauben9. Zwar wird allein ein Verhalten, auf das der Arbeitgeber lediglich mit einer Abmahnung reagierte, in der Regel nicht die Prognose gestatten, es sei nunmehr keine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit mehr zu erwarten. Zusammen mit weiteren das Arbeitsverhältnis belastenden Umständen kann sich jedoch ein anderes Bild ergeben. Mit einer Abmahnung verzichtet der Arbeitgeber nicht auf das Recht, den abgemahnten Vorgang zumindest zusammen mit weiteren Tatsachen zur Begründung eines späteren Auflösungsantrags heranzuziehen. Das ist selbst im Verhältnis zu einer späteren Kündigung nicht der Fall10. Im Ausspruch einer Abmahnung liegt regelmäßig zwar der konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen11. Das bedeutet aber nicht, dass das abgemahnte Verhalten damit gänzlich „vom Tisch“ ist. Kommen weitere, das Arbeitsverhältnis belastende Umstände hinzu, kann es vielmehr ergänzend nicht nur zur Begründung einer (weiteren) Kündigung, sondern auch zur Begründung eines arbeitgeberseitigen Auflösungsantrags herangezogen werden.
Ist die fragliche Abmahnung bereits wieder aus der Personalakte des Arbeitnehmers entfernt, ergibt sich auch daraus kein Verbot, das abgemahnte Verhalten als Tatsache in einen Rechtsstreit einzuführen. Ob ein länger zurückliegendes Verhalten – selbst im Zusammenspiel mit weiteren Gründen – möglicherweise keine Aussagekraft mehr für die Prognose einer den Betriebszwecken dienlichen Zusammenarbeit hat, ist allein durch eine hierauf bezogene Würdigung aller relevanten Einzelfallumstände zu bestimmen9. Zu diesen gehört regelmäßig neben dem konkret gerügten Fehlverhalten insbesondere das Verhalten des Arbeitnehmers seit der Abmahnung bzw. ihrer Entfernung aus der Personalakte. Eine solche Würdigung hat das Landesarbeitsgericht für das mit den Abmahnungen gerügte Verhalten des Arbeitnehmers nicht vorgenommen.
Auch auf dieser Verletzung von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG beruht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über den Auflösungsantrag. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung des mit den Abmahnungen aus den Jahren 2010 und 2014 gerügten Verhaltens des Arbeitnehmers zu einer anderen Gesamtwürdigung der von der Arbeitgeberin geltend gemachten Auflösungsgründe gekommen wäre.
Schließlich erweist sich die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, ein bewusst wahrheitswidriges oder leichtfertig unwahres Prozessvorbringen des Arbeitnehmers könne nicht angenommen werden, als nicht widerspruchsfrei und verletzt damit § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, im Hinblick auf den Prozessvortrag des Arbeitnehmers, der Leiter des Sicherheitsdienstes der Arbeitgeberin habe ihn während der Flugblattverteilung am 7.06.2019 angegriffen, indem er ihn an der Warnweste gepackt, hin und her geschüttelt und zu sich herangezogen habe, könne ua. deshalb nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden, dass der Arbeitnehmer das Verhalten des Leiters des Sicherheitsdienstes wie geschildert empfunden habe, weil dieser selbst ausgesagt habe, er sei trotz einer Berührung durch den Arbeitnehmer im Brustbereich nicht zurückgewichen, sondern auf den Arbeitnehmer zugegangen.
Diese Begründung leidet an einem von ihr nicht aufgelösten Widerspruch. Das Landesarbeitsgericht hat nicht angenommen, die Aussage des Leiters des Sicherheitsdienstes habe die Darstellung des Arbeitnehmers bestätigt. Es hat vielmehr zutreffend darauf hingewiesen, dass die detailreiche abweichende Schilderung des Arbeitnehmers, sollte sie unwahr sein, eher für eine bewusst wahrheitswidrige Behauptung spreche. Soweit es dennoch gemeint hat, dies aufgrund von Besonderheiten des Streitfalls nicht zugrunde legen zu können, hat es nur auf die Dynamik des Geschehens am 7.06.2019 unter Beteiligung mehrerer Personen über einen längeren Zeitraum hinweg und die unstreitigen wechselseitigen Berührungen verwiesen. All dies vermag jedoch für sich genommen nicht die Behauptung der Arbeitgeberin in Frage zu stellen, der Vortrag des Arbeitnehmers, er sei, zumindest von irgendjemandem, nicht nur berührt, sondern an der Warnweste gepackt und hin und her geschüttelt worden, sei bewusst wahrheitswidrig erfolgt.
Das Berufungsurteil beruht auch auf dieser Rechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landesarbeitsgericht zumindest in der Gesamtwürdigung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, hätte es im fraglichen Punkt bewusst wahrheitswidrigen oder leichtfertig falschen Prozessvortrag des Arbeitnehmers angenommen.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über den Auflösungsantrag erweist sich nach den bisherigen Feststellungen weder aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 561 ZPO) noch ist der Rechtsstreit zugunsten der Arbeitgeberin entscheidungsreif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG steht nach den bisherigen Feststellungen nicht entgegen, dass die hilfsweise erklärte Kündigung der Arbeitgeberin vom 19.06.2019 aus anderen Gründen als ihrer mangelnden sozialen Rechtfertigung unwirksam wäre.
Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil es hierfür analog § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG einer Zustimmung des Betriebsrats bedürfte. Es kann daher dahinstehen, ob der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Betriebsratsmitglied war.
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG ist zugunsten des geschützten Personenkreises eine Kündigung des Arbeitgebers nur aus wichtigem Grund und mit Zustimmung des Betriebsrats zulässig. Das Zustimmungserfordernis gilt demnach nur für die arbeitgeberseitige Kündigung, nicht für die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG. Der Wortlaut von § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist insofern eindeutig und damit keiner Auslegung dahingehend zugänglich, er erfasse auch die gerichtliche Auflösung eines Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG.
Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG liegen nicht vor. Soweit sie befürwortet wird12, sind die Anforderungen an eine Rechtsfortbildung durch Analogie nicht ausreichend in den Blick genommen.
Für eine wortsinnübersteigende Gesetzesanwendung durch Analogie bedarf es einer besonderen Legitimation. Die analoge Anwendung einer Norm setzt voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke besteht und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann13. Anderenfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers – also der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln will – als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Weg der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Analoge Gesetzesanwendung erfordert darüber hinaus, dass der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangt wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle14.
Es fehlt bereits an einer positiv feststellbaren planwidrigen Regelungslücke, die eine analoge Anwendung des Zustimmungsbedürfnisses gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG gebieten könnte.
Der Normgeber wollte mit dem Zustimmungserfordernis nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG sicherstellen, dass die jeweilige Arbeitnehmervertretung für die Dauer ihrer Wahlperiode in ihrer personellen Zusammensetzung möglichst unverändert erhalten bleibt15. In der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 103 Abs. 1 BetrVG heißt es, es solle unmöglich gemacht werden, Betriebsratsmitglieder durch willkürliche außerordentliche Kündigungen aus dem Betrieb zu entfernen und durch Ausnutzung der Rechtsmittel das Verfahren so lange zu verschleppen, dass das Betriebsratsmitglied dem Betrieb entfremdet werde und keine Aussicht auf eine Wiederwahl habe. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersetzung der Zustimmung gem. § 103 Abs. 2 BetrVG solle, wenn die Kündigung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheine, eine grundlose Verweigerung der Zustimmung des Betriebsrats zu einer außerordentlichen Kündigung ausschließen16.
Danach sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses eines Amtsträgers gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG bezogen auf eine vor Beginn des Mandats erklärte ordentliche Kündigung nur mit Zustimmung des Betriebsrats, ersatzweise deren Ersetzung in einem gerichtlichen Verfahren analog § 103 Abs. 2 BetrVG, hätte zulassen wollen. Mindestens ebenso gut ist möglich, dass er insoweit keinen Regelungsbedarf gesehen oder hiervon bewusst abgesehen hat. Die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG einerseits und eine außerordentliche Kündigung andererseits weisen strukturell grundsätzliche Unterschiede auf. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG erfordert die gerichtliche Prüfung der geltend gemachten Auflösungsgründe, bevor eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitgebers erfolgen kann, der Arbeitgeber kann die Auflösung also nicht allein durch die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung herbeiführen. Die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung eines einseitigen Gestaltungsrechts besteht damit nicht in gleicher Weise. Zu welchem Zeitpunkt das Gericht über einen Auflösungsantrag des Arbeitgebers entscheidet, ist zudem allein von der Dauer des Kündigungsschutzverfahrens abhängig und damit einem, etwa missbräuchlichen, Einfluss des Arbeitgebers entzogen. Der mögliche Zeitpunkt, zu dem das Arbeitsverhältnis aufgelöst wird, steht wiederum bereits durch die notwendigerweise vor Bestehen von Sonderkündigungsschutz zugegangene Kündigung fest. Im Übrigen gewährleistet § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG auch bei einer außerordentlichen Kündigung keine absolute Kontinuität der Zusammensetzung des Betriebsrats, da eine vom Betriebsrat zu Unrecht verweigerte Zustimmung nach § 103 Abs. 2 BetrVG gerichtlich ersetzt werden kann.
Gegen eine analoge Anwendung des Zustimmungserfordernisses gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG spricht zudem ein weiteres, systematisches Argument. § 78 Satz 2 BetrVG verbietet nicht nur eine Benachteiligung, sondern auch eine Begünstigung von Betriebsratsmitgliedern. Eine unzulässige Begünstigung liegt zwar nicht vor, soweit Betriebsratsmitgliedern gesetzlich besondere Rechte eingeräumt sind, wie etwa der besondere Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG iVm. § 103 BetrVG. In diesem Fall hat der Gesetzgeber aufgrund der Schutzbedürftigkeit der Amtsträger eine besondere gesetzliche Regelung geschaffen, die nicht zugleich eine unzulässige Begünstigung nach § 78 Satz 2 BetrVG darstellen kann. Mit Blick auf das Begünstigungsverbot bedürfte aber, soweit für einen bestimmten Sachverhalt keine begünstigende Sondervorschrift existiert, die Annahme einer planwidrigen Lücke erst Recht besonderer Anhaltspunkte.
§ 15 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 KSchG ist auch keiner Analogie dahingehend zugänglich, dass Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG geeignet sein müssten, einen wichtigen Grund iSv. § 626 BGB zu bilden, sofern sie zur Zeit des Bestehens von Sonderkündigungsschutz entstanden sind und der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung über den Auflösungsantrag Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG genießt17. Ebenso wenig kommt eine entsprechende teleologische Reduktion von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in Betracht.
Es fehlt auch insoweit bereits an einer feststellbaren planwidrigen Regelungslücke bzw. planwidrig überschießenden Regelung. Es existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, die zur Zeit des Bestehens von Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG entstanden sind, über den Gesetzeswortlaut hinaus auf Umstände begrenzt sein sollten, die geeignet sind, einen wichtigen Grund iSv. § 626 BGB zu bilden. Dagegen spricht zudem, dass dies zu einer Aufspaltung der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG einheitlich vorzunehmenden Gesamtschau führte, wenn der Arbeitgeber – wie hier – nicht ausschließlich Gründe heranzieht, die während des Bestehens von Sonderkündigungsschutz entstanden sind.
Dies gilt nicht anders, wenn das Gericht zu einem Zeitpunkt über den Auflösungsantrag entscheidet, zu dem der Arbeitnehmer – noch oder wieder – Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG genießt. Der Umstand, dass in diesem Fall auch die Grundlage für die Fortführung der betriebsverfassungsrechtlichen Funktion entfällt, wenn das Gericht das Arbeitsverhältnis antragsgemäß auflöst, lässt ebenfalls nicht schon auf eine planwidrige Regelungslücke schließen. Ein Hinweis darauf, dass der Wille des Gesetzgebers, die Zusammensetzung des betreffenden Gremiums bzw. die sonstige Wahrnehmung einer mit Sonderkündigungsschutz belegten betriebsverfassungsrechtlichen Funktion zu schützen, über das in § 15 KSchG Normierte hinausgeht, ist nicht ersichtlich. Dagegen spricht auch, dass § 15 KSchG für eine bereits ausgesprochene Kündigung selbst dann keine Rückwirkung entfaltet, wenn der Betreffende während der Kündigungsfrist zum Betriebsratsmitglied gewählt wird18. An der Entscheidung vom 07.12.197219, die sich zur Existenz einer Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG nicht verhält, hält das Bundesarbeitsgericht insoweit nicht fest.
Damit ist nicht gesagt, dass das Bestehen von Sonderkündigungsschutz ohne rechtliche Bedeutung bleibt, wenn der Arbeitgeber seinen Auflösungsantrag (auch) auf während dieser Zeit entstandene Sachverhalte stützt. Bei der Entscheidung über einen arbeitgeberseitigen Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist für die Frage, ob ein Verhalten aus der Zeit des Bestehens von Sonderkündigungsschutz allein oder zusammen mit weiteren Umständen eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt, zu prüfen, inwiefern die Gründe mit der Amtsausübung im Zusammenhang stehen und deshalb möglicherweise keinen oder nur einen bedingten Schluss auf die Erwartbarkeit einer zukünftigen gedeihlichen Zusammenarbeit im Arbeitsverhältnis zulassen. Stehen die vom Arbeitgeber behaupteten Tatsachen, die die Auflösung begründen sollen, mit der Amtsausübung oder Kandidatur in Verbindung, ist der Arbeitnehmer dadurch geschützt, dass dieser Aspekt bei der materiellen Bewertung des geltend gemachten Auflösungsgrundes angemessen zu berücksichtigen ist. Wirkt sich der fragliche Umstand etwa – wie bei der Verletzung ausschließlich betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten – allein im kollektiven Bereich aus, liegt von vornherein kein tragfähiger Auflösungsgrund iSd. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG vor. Im anderen Fall ist einzelfallbezogen zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer durch die Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Funktionen leichter mit seinen arbeitsvertraglichen Pflichten in Konflikt geraten ist20.
Das Bundesarbeitsgericht kann nicht selbst entscheiden, ob die von der Arbeitgeberin geltend gemachten Gründe eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG rechtfertigen.
Für den 3. und 6.12.2020 hat die Arbeitgeberin nicht nur eine Amtspflichtverletzung des Arbeitnehmers geltend gemacht, sondern eine Missachtung des ihm erteilten Werksverbots, das nur zum Zwecke der Wahlwerbung aufgehoben gewesen sei. Ob ein Verstoß gegen das Werksverbot vorlag und inwiefern hierfür ggf., wie vom Arbeitnehmer behauptet, irrtümliche Bewertungen betreffend die Reichweite seiner Aufhebung (mit-)ursächlich waren, bedarf der tatrichterlichen Feststellung und Würdigung.
Ob das in der Vergangenheit bereits abgemahnte Verhalten des Arbeitnehmers, die für die Kündigungen herangezogenen Umstände und die weiteren, von der Arbeitgeberin geltend gemachten Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zumindest in der Gesamtwürdigung eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht mehr erwarten lassen, bedarf ebenfalls erneuter tatrichterlicher Würdigung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts. Hierbei ist, sollte sich ergeben, dass, anders als bisher vom Landesarbeitsgericht angenommen, der Arbeitnehmer bewusst wahrheitswidrig oder leichtfertig unwahr vorgetragen hat, der Leiter des Sicherheitsdienstes der Arbeitgeberin habe ihn am 7.06.2019 an der Warnweste gepackt und hin und her geschüttelt, ebenfalls neu zu bewerten, ob dies auch Rückschlüsse darauf zulässt, dass weitere von der Arbeitgeberin geltend gemachte Falschdarstellungen des Arbeitnehmers zu den Ereignissen am 7.06.2019 bewusst wahrheitswidrig oder zumindest leichtfertig unwahr erfolgten.
Der Auflösungsantrag der Arbeitgeberin ist umgekehrt schon deshalb nicht in ihrem Sinn zur Entscheidung reif, weil nach den bisherigen Feststellungen offen ist, ob die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Arbeitgeberin vom 19.06.2019 auch mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats unwirksam ist, wie der Arbeitnehmer geltend gemacht hat. Dies sperrte die Möglichkeit einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag der Arbeitgeberin4.
Im Rahmen der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß zur hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung vom 19.06.2019 angehört wurde. Sollte dies zu bejahen sein, werden die von der Arbeitgeberin geltend gemachten Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses darauf zu prüfen sein, ob sie, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts, im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung die Prognose erlauben, eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG sei nicht mehr zu erwarten.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. September 2022 – 2 AZR 92/22
- ArbG Braunschweig 23.10.2020 – 1 Ca 261/19[↩]
- LAG Nds. 06.10.2021 – 13 Sa 1199/20[↩]
- zum maßgeblichen Zeitpunkt vgl. BAG 27.09.2012 – 2 AZR 955/11, Rn.20[↩]
- st. Rspr., vgl. etwa BAG 13.12.2018 – 2 AZR 378/18, Rn. 35, BAGE 164, 360; 31.07.2014 – 2 AZR 434/13, Rn. 44[↩][↩]
- vgl. nur Möllers Juristische Methodenlehre 2. Aufl. § 4 Rn. 134[↩]
- BAG 18.09.2018 – 9 AZR 162/18, Rn. 66, BAGE 163, 282; vgl. auch BGH 12.04.1954 – GSZ 1/54, zu A III a der Gründe, BGHZ 13, 88; BVerwG 25.06.2015 – 5 C 15.14, Rn. 14, BVerwGE 152, 264[↩]
- BAG 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn. 61; 6.11.2003 – 2 AZR 177/02, zu II 6 a der Gründe[↩]
- BAG 19.11.2015 – 2 AZR 217/15 – aaO[↩]
- vgl. BAG 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn. 61[↩][↩]
- vgl. BAG 13.11.2007 – 6 AZR 145/07, Rn. 24, BAGE 125, 208[↩]
- BAG 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn. 28; 13.05.2015 – 2 AZR 531/14, Rn. 33[↩]
- vgl. etwa ErfK/Kiel 22. Aufl. KSchG § 9 Rn.20; KR/Kreft 13. Aufl. § 15 KSchG Rn. 34[↩]
- vgl. BAG 21.09.2017 – 2 AZR 57/17, Rn. 23, BAGE 160, 221; 23.07.2015 – 6 AZR 490/14, Rn. 34, BAGE 152, 147[↩]
- BAG 27.06.2018 – 10 AZR 295/17, Rn. 23, BAGE 163, 160; 23.07.2015 – 6 AZR 490/14 – aaO[↩]
- vgl. BAG 27.06.2019 – 2 AZR 38/19, Rn. 33, BAGE 167, 170; 21.06.2012 – 2 AZR 343/11, Rn. 13[↩]
- BT-Drs. VI/1786 S. 53[↩]
- dagegen auch Schleßmann Anm. AP KSchG 1969 § 9 Nr. 1; HaKo-Fiebig 4. Aufl. § 9 KSchG Rn. 85; Hertzfeld NZA-RR 2012, 1; aA für § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG: BAG 7.12.1972 – 2 AZR 235/72, zu IX der Gründe, BAGE 24, 468[↩]
- ErfK/Kiel 22. Aufl. KSchG § 15 Rn. 3; APS/Linck 6. Aufl. KSchG § 15 Rn. 11; Eylert/Rinck PersV 2018, 284, 287; LKB/Bayreuther 16. Aufl. § 15 Rn. 51; LSSW/Wertheimer 11. Aufl. § 15 Rn. 57[↩]
- BAG 07.12.1972 – 2 AZR 235/72, zu IX der Gründe, BAGE 24, 468[↩]
- BAG 29.08.2013 – 2 AZR 419/12, Rn. 33[↩]