Massenentlassungen – Anzeigepflicht und Kündigungszeitpunkt

Das Bundesarbeitsgericht hatte seit 19731 in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass unter „Entlassung“ im Sinne der §§ 17, 18 BVerfGchG nicht die Kündigungserklärung, sondern die mit ihr beabsichtigte tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen sei2. Die Anzeige einer Massenentlassung musste daher nicht vor dem Ausspruch der Kündigung erfolgen3.

Massenentlassungen – Anzeigepflicht und Kündigungszeitpunkt

Das Bundesarbeitsgericht hatte zudem betont, dass eine möglicherweise gebotene richtlinienkonforme Interpretation des Begriffs „Entlassung“ als „Kündigungserklärung“ im Hinblick auf die Massenentlassungsrichtlinie, die unter anderem durch die Regelungen der §§ 17 f. BVerfGchG umgesetzt werden soll4, nicht zulässig sei5.

Mit Urteil vom 27.01.2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache Junk6 im Rahmen eines vom Arbeitsgericht Berlin beantragten Vorabentscheidungsverfahrens zur Auslegung der Art. 1 bis Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie7, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis sei, das als Entlassung gelte, und dass der Arbeitgeber Massenentlassungen (erst) nach Ende des Konsultationsverfahrens nach Art. 2 Massenentlassungsrichtlinie und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Sinne der Art. 3 und Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie vornehmen dürfe8.

Das Bundesarbeitsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es unter Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes auf der Grundlage seiner früheren Auslegung der §§ 17 f. BVerfGchG über die Revision des Beschwerdeführers entschieden hat, ohne sich zuvor gemäß Art. 267 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union zu wenden und die Frage klären zu lassen, ob die Gewährung von Vertrauensschutz mit der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV) und die damit einhergehende Beschränkung der Wirkung der Junk, Entscheidung mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

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Zwar hat das Bundesarbeitsgericht im Ausgangsverfahren zunächst die vom Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Junk, Entscheidung festgestellte Auslegung des Begriffs „Entlassung“ gemäß Art. 2 bis Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie ohne – auch ohne zeitliche – Einschränkung der Auslegung von § 17 Abs. 1 Satz 1 BVerfGchG zugrunde gelegt und unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entsprechend der Entscheidung vom 23.03.20069 den Begriff „Entlassung“ in § 17 Abs. 1 Satz 1 BVerfGchG als „Kündigungserklärung“ ausgelegt. Es hat auch nicht entgegen dem Urteil des Gerichtshofs vom 27.01.2005 festgestellt, dass der Begriff der „Entlassung“ im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie aus Gründen des unionsrechtlichen Vertrauensschutzes nicht ex-tunc, sondern erst ab einem bestimmten späteren Zeitpunkt nach der Junk, Entscheidung zu verstehen sei10, und ist hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs der Auslegung des Begriffs „Entlassung“ im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie daher nicht von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgewichen11.

Das Bundesarbeitsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch dadurch verletzt, dass es § 17 Abs. 1 Satz 1 BVerfGchG in der angegriffenen Entscheidung aus Gründen des in Art.20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatzes des Vertrauensschutzes ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (noch) nicht richtlinienkonform ausgelegt beziehungsweise angewendet hat, obwohl dies methodisch möglich war. Die Gewährung von Vertrauensschutz in die frühere, nicht richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 1 Satz 1 BVerfGchG beeinträchtigt die Verwirklichung der mit der Massenentlassungsrichtlinie verbundenen Ziele (aa). Dennoch hat das Bundesarbeitsgericht von einer Vorlage an den Gerichtshof abgesehen (bb) und Art. 267 Abs. 3 AEUV insoweit in einer offensichtlich unhaltbaren und nicht mehr verständlichen Weise ausgelegt beziehungsweise angewendet (cc).

Das Bundesarbeitsgericht hat aus Art.20 Abs. 3 GG ein aus seiner Sicht bestehendes Hindernis für eine richtlinienkonforme Auslegung beziehungsweise Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 1 BVerfGchG abgeleitet und damit auf den ersten Blick nicht über die Auslegung von Unionsrecht entschieden, das heißt über eine Frage, für deren Beantwortung gemäß Art. 267 AEUV der Gerichtshof zuständig ist. Durch die Anwendung von Art.20 Abs. 3 GG hat es jedoch die praktische Wirksamkeit der Massenentlassungsrichtlinie in der Auslegung des Gerichtshofs beeinträchtigt und der unionsrechtlichen Verpflichtung, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen, nicht ausreichend Rechnung getragen. Die Anforderungen an die praktische Wirksamkeit einer Richtlinie ergeben sich aus dem Unionsrecht. Sie zu bestimmen, ist Sache des Gerichtshofs der Europäischen Union, der grundsätzlich auch über eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen seiner Urteile entscheiden muss12. Mit Blick auf die Massenentlassungsrichtlinie hat er eine derartige (zeitliche) Begrenzung nicht für erforderlich gehalten13.

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Dennoch hat es das Bundesarbeitsgericht vorliegend unterlassen, den Gerichtshof mit der im Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Frage zu befassen, ob es gegen Art. 288 Abs. 3 AEUV beziehungsweise Art. 4 Abs. 3 EUV verstößt, wenn die unionsrechtlich gebotene und methodisch mögliche Auslegung von §§ 17 f. BVerfGchG aus Gründen des in Art.20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatzes des Vertrauensschutzes abgelehnt wird, beziehungsweise ob die Gewährung von Vertrauensschutz und die damit (faktisch) einhergehende zeitliche Beschränkung der Wirkung der Junk, Entscheidung ausschließlich ihm vorbehalten ist14.

Das Bundesarbeitsgericht hat hierbei Art. 267 Abs. 3 AEUV in einer offensichtlich unhaltbaren und nicht mehr verständlichen Weise ausgelegt beziehungsweise angewendet und dadurch das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Zwar hat es das Vorliegen einer Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV geprüft und seine Entscheidung auch begründet (1). Es hat sie jedoch in nicht mehr vertretbarer Weise verneint (2).

Ausweislich der Begründung hat das Bundesarbeitsgericht die Frage der Vorlagepflicht hinsichtlich der Gewährung von Vertrauensschutz in die frühere, nicht richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 f. BVerfGchG zwar durchaus gesehen. Dies ergibt sich aus der ausdrücklichen Feststellung, dass dem Bundesarbeitsgericht die Entscheidung über den Vertrauensschutz nicht „entzogen“ sei und es (diesbezüglich) insbesondere nicht zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet sei, sowie aus dem Hinweis auf die eine Vorlagepflicht bejahende Auffassung von Schiek15, die sich das Bundesarbeitsgericht nicht zu Eigen gemacht hat. Es hat die Vorlagepflicht vielmehr verneint und dies in der Sache damit begründet, dass es nicht Unionsrecht, sondern nationales Recht auslege und sich insoweit allein im Bereich der nationalen Rechtsanwendung befinde. Aus seiner Sicht war somit keine unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich, so dass eine Vorlagepflicht nicht in Betracht kam.

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Damit hat es die Frage der Vorlagepflicht in nicht mehr verständlicher und offensichtlich unhaltbarer Weise beantwortet, weil es sich hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig gemacht und seine Vorlagepflicht insoweit grundlegend verkannt hat.

Die Annahme des Bundesarbeitsgerichts, es könne eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 f. BVerfGchG unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung unterlassen, verkennt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts grundlegend. Es hat sich insoweit darüber hinweggesetzt, dass die Gewährung von Vertrauensschutz und die damit verbundene Unterlassung der richtlinienkonformen Auslegung einer nationalen Norm zumindest auch eine Frage des Unionsrechts ist. Hinzu kommt, dass der Gerichtshof in der Junk, Entscheidung6 die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen16 nicht aus Gründen des unionsrechtlichen Rechtsgrundsatzes des Vertrauensschutzes in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt und eine zeitliche Geltungsbeschränkung damit implizit abgelehnt hat. Durch die Unterlassung der richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 f. BVerfGchG in der angegriffenen Entscheidung verschiebt das Bundesarbeitsgericht die Anwendung der Massenentlassungsrichtlinie in der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung aus Gründen des Vertrauensschutzes nach nationalem Recht auf einen Zeitpunkt nach ihrem Inkrafttreten17.

Zwar ist ein Rückgriff auf nationales Verfassungsrecht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch bei der Anwendung des Unionsrechts in Deutschland nicht generell ausgeschlossen. Dies setzt jedoch voraus, dass der vom Grundgesetz gebotene Mindeststandard an Grundrechtsschutz durch das Unionsrecht verfehlt würde18. Eine solche Feststellung wäre überdies dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten19. Anhaltspunkte dafür, dass das vom Grundgesetz geforderte Mindestmaß an Grundrechtsschutz unterschritten sein könnte, liegen hier jedoch ersichtlich nicht vor und wurden vom Bundesarbeitsgericht nicht thematisiert. Indem es Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts ins Feld führt, um die praktische Wirksamkeit einer Richtlinie zu begrenzen, setzt es sich daher über die etablierte Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vorrang des Unionsrechts20 hinweg und verkennt auch insoweit seine Vorlagepflicht.

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Dass sich das Bundesarbeitsgericht, obwohl es sich grundsätzlich bewusst war, die Junk, Entscheidung aufgrund ihrer (unionsrechtlichen) Bindungswirkung beachten zu müssen, bei der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit einer unionsrechtlichen Frage im Zusammenhang mit der Gewährung von Vertrauensschutz zudem mit keinem Wort näher mit der (unionsrechtlichen) Bindungswirkung von Vorabentscheidungen auseinandergesetzt hat, erscheint ebenfalls nicht mehr verständlich.

Aufgrund dieser methodischen Mängel ist die Anwendung von Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das Bundesarbeitsgericht nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar. Liegt in Fällen, in denen das Fachgericht die Entscheidungserheblichkeit einer unionsrechtlichen Frage erkennt, sodann jedoch eine Vorlage zum Gerichtshof der Europäischen Union trotz Zweifeln an der richtigen Beantwortung einer unionsrechtlichen Frage nicht in Erwägung zieht (sogenannte grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), ein Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor21, so kann im vorliegenden Fall, in dem ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlagepflicht verneint, weil es trotz offenkundiger Anhaltspunkte gar nicht erkennt, dass eine unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich ist, und die Entscheidung allein an nationalen Maßstäben orientiert trifft, nichts anderes gelten. In beiden Fällen wird Art. 267 Abs. 3 AEUV in einer methodisch eindeutig unzureichenden und auf einer offenkundigen Verkennung seines Regelungsgehalts beruhenden Weise ausgelegt. Diese willkürliche Verneinung der Vorlagepflicht ist daher als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 267 Abs. 3 AEUV verfassungsrechtlich zu beanstanden.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07

  1. vgl. BAG, Urteil vom 06.12 1973 – 2 AZR 10/73, NJW 1974, S. 1263 f.[]
  2. vgl. BAG, Urteile vom 24.02.2005 – 2 AZR 207/04, NZA 2005, S. 766, 767; vom 13.04.2000 – 2 AZR 215/99, NZA 2001, S. 144, 145; zuletzt grundlegend BAG, Urteil vom 18.09.2003 – 2 AZR 79/02, NZA 2004, S. 375, 379 ff.[]
  3. vgl. BAG, Urteil vom 24.10.1996 – 2 AZR 895/95, NJW 1997, S. 2131, 2132[]
  4. vgl. BT-Drs. 13/668, S. 9; siehe auch Kiel, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 14. Aufl.2014, § 17 BVerfGchG, Rn. 1[]
  5. vgl. BAG, Urteil vom 18.09.2003 – 2 AZR 79/02, NZA 2004, S. 375, 381 f.[]
  6. EuGH, Urteil vom 27.01.2005, Junk, – C-188/03, Slg. 2005, I-885[][]
  7. vgl. ArbG Berlin, Vorlagebeschluss vom 30.04.2003 – 36 Ca 19726/02[]
  8. vgl. EuGH, Urteil vom 27.01.2005, Junk, – C-188/03, Slg. 2005, I-885, Rn. 39 ff.[]
  9. 2 AZR 343/05, NZA 2006, S. 971 ff.[]
  10. vgl. Wissmann, Vertrauensschutz – europäisch und deutsch, Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer, S. 1161, 1164[]
  11. vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982, CILFIT, 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 13 f.[]
  12. vgl. EuGH, Urteile vom 27.03.1980, Denkavit italiana, 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 17 f. unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 08.04.1976, Defrenne, 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 74/75; vom 10.04.1984, von Colson und Kamann, 14/83, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; vom 16.07.2009, Mono Car Sty-ling, – C-12/08, Slg. 2009, I-6653, Rn. 60; vom 19.01.2010, Kücükdeveci, – C-555/07, Slg. 2010, I-365, Rn. 48; vom 15.01.2014, Association de médiation sociale, – C-176/12, Slg. 2014, I-0000, Rn. 38[]
  13. vgl. EuGH, Urteil vom 27.01.2005, Junk, – C-188/03, Slg. 2005, I-885[]
  14. vgl. Vorlagefrage 7 des Arbeitsgerichts Nienburg, Gerichtsinformation des EuGH vom 27.06.2012 zur Rechtssache – C-311/12[]
  15. AuR 2006, S. 41, 43 f.[]
  16. ABl Nr. L 225/16[]
  17. vgl. BVerfGE 126, 286, 314[]
  18. vgl. BVerfGE 37, 271, 280 ff.; 73, 339, 371 f., 387; 89, 155, 174 f.; 102, 147, 163 f.[]
  19. vgl. BVerfGE 123, 267, 354; 126, 286, 308[]
  20. vgl. EuGH, Urteil vom 17.12 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3[]
  21. vgl. BVerfGE 82, 159, 195 f.; 126, 286, 316 f.; 128, 157, 187 f.; 129, 78, 106 f.; BVerfG, Urteil vom 28.01.2014 – 2 BvR 1561/12, 2 BvR 1562/12, 2 BvR 1563/12, 2 BvR 1564/12, NVwZ 2014, S. 646, 657[]
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