Neumasseunzulänglichkeit – und ihre Auswirkung auf die Rangfolge

Der Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit führt nicht zu einer Neuordnung der gesetzlich festgelegten Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Vielmehr sind alle Neumasseverbindlichkeiten quotal zu erfüllen.

Neumasseunzulänglichkeit – und ihre Auswirkung auf die Rangfolge

Innerhalb der Neumasseverbindlichkeiten gibt es nach Darlegung der Neumasseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter keine gesetzlich vorgesehenen weiteren Rangfolgen. Abweichende Ränge können auch nicht im Wege der Analogie entwickelt werden. Diese Ansprüche können auch nicht im Wege der Leistungsklage durchgesetzt, sondern lediglich festgestellt werden.

Durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit nach § 208 Abs. 1 InsO wird die Rangfolge der Massegläubiger abschließend neu nach § 209 InsO geordnet. Tritt eine Neumasseunzulänglichkeit ein, kommt es zu keiner neuen, von der des § 209 InsO abweichenden Verteilungsordnung. Vielmehr befinden sich nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit alle Neumassegläubiger in einer zwingenden Quotengemeinschaft. Können infolge der weiteren Entwicklung des Insolvenzverfahrens nicht alle Neumassegläubiger voll befriedigt werden, sind ihre Ansprüche quotal zu erfüllen. Das ist durch die ständige Rechtsprechung von Bundesarbeitsgericht1 und Bundesgerichtshof2 geklärt3.

An dieser bisher nicht näher begründeten Auffassung hält das Bundesarbeitsgericht ungeachtet der im Schrifttum erhobenen Kritik4 fest.

Die Bildung von Zwischenrängen, wie sie der Insolvenzverwalter mit der von ihm erklärten „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ vom 30.04.2019 und der „Neu-Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ vom 27.05.2020 vorgenommen hat, ist mit der gesetzlichen Rangordnung des § 209 InsO nicht vereinbar, weil diese Rangordnung abschließend ist. Eine Differenzierung in „Alt-Neumasseverbindlichkeiten“ und „Neu-Neumasseverbindlichkeiten“ bzw. die vom Insolvenverwalter vorgenommene Bildung weiterer Zwischenrangstufen infolge weiterer „Anzeigen“ der Neumasseunzulänglichkeit lässt sich auch nicht im Wege der analogen Anwendung der §§ 208 ff. InsO vornehmen. Die Voraussetzungen für eine solche richterliche Rechtsfortbildung liegen nicht vor.

Bereits der Wortlaut der §§ 208 ff. InsO macht deutlich, dass die durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit eingetretene neue Rangfolge mit der Unterteilung in Alt- und Neumasseverbindlichkeiten abschließend ist und sich auch dann nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr ändert, wenn es zu einer Neumasseunzulänglichkeit kommt.

§ 209 Abs. 1 Einleitungssatz InsO legt fest, dass die Forderungen des jeweiligen Rangs in der von dieser Bestimmung vorgegebenen Reihenfolge vollständig zu erfüllen sind, bevor die Forderungen eines nachfolgenden Rangs beglichen werden dürfen. Reicht die für einen Rang vorhandene Masse nicht aus, sind die Masseverbindlichkeiten bei gleichem Rang „im Verhältnis ihrer Beträge“, also anteilig, zu berichtigen5. Nach diesem unmissverständlichen Wortlaut sind innerhalb einer Rangklasse alle Forderungen gleichrangig und deshalb bei unzureichender Masse nur noch anteilig zu befriedigen6. Im Ergebnis sind Forderungen einer Rangklasse anteilig zu kürzen, wenn die für diese Klasse zur Verfügung stehende Masse unzureichend ist7. Darum sind Neumasseverbindlichkeiten bei Eintritt einer Neumasseunzulänglichkeit nicht abhängig vom Zeitpunkt ihres Entstehens zu „Alt-Neumasseverbindlichkeiten“ herabzustufen bzw. als „Neu-Neumasseverbindlichkeiten“ zu privilegieren, sondern quotal zu erfüllen.

Systematische Erwägungen bestätigen das wortlautgemäße Verständnis.

Die Insolvenzordnung unterscheidet für die Zeit ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens verschiedene Gläubigergruppen mit sehr unterschiedlichen Rechtsstellungen. Für jede dieser Gläubigergruppen ist geregelt, nach welchen Maßgaben und in welchem Umfang die ihr zugehörigen Gläubiger die Befriedigung ihrer Forderungen verfolgen und ggf. durchsetzen können. Für Insolvenzgläubiger ist eine Rangfolge lediglich noch für nachrangige Insolvenzforderungen iSv. § 39 InsO vorgesehen. Die Gläubigerrangfolge der §§ 61 und 62 KO ist unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht übernommen worden8. Dagegen ist für Massegläubiger nach Eintritt einer Masseunzulänglichkeit in § 209 InsO ein im Einzelnen genau ausdifferenziertes Rangfolgesystem geregelt, nach dem die jeweiligen Forderungen zu berichtigen sind. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit führt danach zu einer Neuordnung der insolvenzrechtlichen Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Es kommt zu einer in Alt- und Neumasseverbindlichkeiten „gespaltenen“ neuen Rangordnung9. Eine abweichende Rangordnung nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit ist in diesem ausdifferenzierten System nicht vorgesehen.

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Auch § 211 InsO spricht gegen die Möglichkeit, Zwischenränge zu bilden. Diese Regelung ergänzt die Vorschriften in §§ 208 ff. InsO. Sie verpflichtet den Verwalter, nach Abschluss des Insolvenzverfahrens die Erlöse an die Gläubiger nach Maßgabe des § 209 InsO und nicht nach einer anderen, selbstgesetzten Rangfolge zu verteilen. Erst nach Erfüllung dieser Verpflichtung darf das Verfahren vom Insolvenzgericht eingestellt werden10.

Aus dieser Systematik der Insolvenzordnung folgt nicht nur, dass der Gesetzgeber die Zahl der Rangklassen gering halten wollte11. Aus ihr folgt zugleich, dass es sich um ein abgeschlossenes Regelungssystem handelt12 und dass nicht gesetzlich geregelte Rangänderungen ausgeschlossen sind13. Deshalb führt auch der Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit nicht zu einer weiteren Veränderung der Rangfolge.

Angesichts des den §§ 208 ff. InsO zu entnehmenden eindeutigen Willens des Gesetzgebers, mit diesen Bestimmungen abschließend festzulegen, welcher Rang Forderungen nach Eintritt der Masseunzulänglichkeit zukommen soll, ist es entgegen der Annahme des Insolvenzverwalters den Gerichten verwehrt, diese Bestimmungen auf die Neumasseunzulänglichkeit analog anzuwenden, Zwischenränge zu schaffen und so in die vom Gesetzgeber geschaffene Rangordnung einzugreifen14. Damit würden sie sich unzulässig rechtsfortbildend über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen, statt die eindeutige gesetzgeberische Entscheidung, dass auch nach Eintritt einer Neumasseunzulänglichkeit die Rangordnung des § 209 InsO weiter gilt, zu respektieren.

Die Anwendung einer Vorschrift auf einen anderen Tatbestand im Wege der Einzel- bzw. Gesetzesanalogie15 ist nur möglich, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält, deren Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Die Lücke muss sich demnach aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem, dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Darüber hinaus muss der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangen wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle16.

Diese Voraussetzungen liegen im hier entschiedenen Fall offenkundig nicht vor, es fehlt bereits an der für eine Rechtsfortbildung durch Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.

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Zudem führt jede Ausweitung der Rangordnung und jedes Mehr an Forderungen in vorgehenden Rangstellen zu einer Minderung der den nachrangigen Gläubigern verbleibenden Haftungsmasse. Das wäre auch bei der Bildung von Zwischenrängen der Fall. Die bisherigen Neumassegläubiger würden zu Alt-Neumassegläubigern, die zwar gegenüber den „genuinen“ Altmassegläubigern nach wie vor bevorzugt zu bedienen wären, aber gegenüber den nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Neumasseunzulänglichkeit hinzukommenden Neu-Neumassegläubigern im Rang zurückträten17. Derartige Eingriffe in die gesetzlich festgelegte Rangfolge gehen zwangsläufig zulasten anderer Gläubiger und führen regelmäßig zu neuen Unstimmigkeiten bei der Insolvenzabwicklung. Wegen dieser Auswirkungen kann nur der Gesetzgeber selbst unter Abwägung und Ausgleich der betroffenen Interessen die Rangfolge von Forderungen in der Insolvenz festlegen oder ändern18.

Unabhängig von Vorstehendem ließe sich schließlich auch nicht mit der erforderlichen Sicherheit festlegen, welche Rechtsfolgen der §§ 208 ff. InsO auf die Neumasseunzulänglichkeit zu übertragen wären. Das zeigt die im Schrifttum kontrovers geführte Diskussion, was die Folge eines Eintritts der Neumasseunzulänglichkeit ist. Neben der Bildung von Zwischenrängen19 wird auch die Rückstufung der bisherigen Neugläubiger zu Altmassegläubigern iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO befürwortet20. Teilweise wird auch vertreten, dem Verwalter müsse es durch die Schaffung einer haftungsrechtlichen Einrede ermöglicht werden, nur bestimmte Neumasseverbindlichkeiten voll zu bedienen und andere Neumassegläubiger auf die Quote zu verweisen21.

Nach Vorstehendem kommt es nicht darauf an, ob die Bildung von Zwischenrängen tatsächlich „sinnvoll“ wäre, um die Neumasseunzulänglichkeit handhaben zu können22 oder ob das lediglich zu einer intransparenten Verteilungsordnung führte23. Selbst wenn eine Rechtsfortbildung „sinnvoll“ wäre, ist es im Hinblick auf das in Art.20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip der Rechtsprechung verwehrt, sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegzusetzen und dessen Regelungsmodell durch ein eigenes zu ersetzen24.

Auch die im Schrifttum25 erörterte Rückstufung der bisherigen Neumassegläubiger zu Altmassegläubigern wäre aus den in Rn. 33 ff. dargelegten Gründen eine unzulässige Rechtsfortbildung.

Aus den vom Insolvenverwalter erstatteten „Neumasseunzulänglichkeitsanzeigen“ folgt nichts anderes. Das Bundesarbeitsgericht ist nicht an die diesen „Anzeigen“ zugrunde liegende gesetzwidrige Rangordnung gebunden. Nach der Konzeption der Insolvenzordnung führt der Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit nicht zu einer Neuordnung der gesetzlich festgelegten Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Einer „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ bedarf es daher nicht. Wird sie gleichwohl erstattet, kommt ihr – anders als der Anzeige der Masseunzulänglichkeit nach § 208 InsO – keine bindende Wirkung zu.

Die rechtlichen Folgen einer „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ hat die Rechtsprechung bisher offengelassen26. Entgegen der Annahme in Teilen des Schrifttums27 hat das Bundesarbeitsgericht auch in der Entscheidung vom 31.03.200428 eine „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ nicht als „reelle Alternative zur einzelfallbezogenen Einwendung im Prozess“ angesehen, sondern wie der Bundesgerichtshof in der vom Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts herangezogenen Entscheidung vom 03.04.200329 die Wirkung einer solchen Anzeige gerade offenlassen wollen. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Zehnte Bundesarbeitsgericht des Bundesarbeitsgerichts vom uneingeschränkten Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, es könne – in der konkreten Situation – offenbleiben, ob eine Anzeige der Neumasseunzulänglichkeit mit bindender Wirkung zulässig sei, in der Entscheidung vom 04.06.200330 hat lösen wollen, fehlen.

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Mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit nach § 208 Abs. 1 InsO werden die bis dahin einheitlich zu behandelnden Masseverbindlichkeiten in zwei unterschiedliche Ränge getrennt und von da an unterschiedlich befriedigt. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll und muss dieser Anzeige Bindungswirkung erga omnes und damit auch gegenüber dem Prozessgericht zukommen, weil für den Insolvenzverwalter keine verlässliche Grundlage für die Abwicklung der Insolvenzmasse bestünde, wenn die Masseunzulänglichkeit von jedem einzelnen Massegläubiger in Frage gestellt werden könnte. Die Anzeige könnte dann ihren gesetzlichen Zweck nicht erfüllen31. Bindungswirkung hat die Anzeige nach § 208 InsO deshalb nur, damit der gesetzgeberische Wille, dadurch unterschiedliche Ränge zu bilden, effektiv umgesetzt werden kann. Die Anzeige nach § 208 Abs. 1 InsO und die Wirkungen des § 209 InsO sind demnach untrennbar miteinander verknüpft32.

Der Gesetzgeber hat – wie in Rn. 34 ff. ausgeführt – dem Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit im Unterschied zur Masseunzulänglichkeit keine rangändernden Folgen beigemessen. Neumasseverbindlichkeiten sind auch bei Vorliegen einer Neumasseunzulänglichkeit gleichmäßig und im selben Rang zu befriedigen. Damit bedarf es weder einer Anzeige der Neumasseunzulänglichkeit noch kann einer etwaig doch erfolgten und veröffentlichten „Anzeige“ Wirkung erga omnes zukommen33. Eine solche Wirkung lässt sich auch nicht im Wege der Analogie entwickeln34. Vielmehr ist die Konsequenz der gesetzlichen Grundentscheidung, eine Neuordnung der Rangfolge für Masseverbindlichkeiten nur einmal – nämlich als Folge der Anzeige der Masseunzulänglichkeit – anzuordnen, hinzunehmen. Eine rechtlich nicht erforderliche und darum gesetzlich nicht vorgesehene Anzeige kann keine rechtliche Wirkung, erst recht keine Bindungswirkung, entfalten35.

Soweit im Schrifttum vertreten wird, die bestehende Rechtslage kollidiere mit der aus § 208 Abs. 3 InsO folgenden Verpflichtung des Insolvenzverwalters, die Masse auch nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit weiter zu verwalten und zu verwerten, weil sich die dafür benötigten Neumassegläubiger auf eine lediglich quotale Befriedigung ihrer Forderungen nicht einlassen würden, berechtigt das die Rechtsprechung nicht zur Entwicklung einer „haftungsrechtlichen Einrede“36. Zwar würde eine solche Einrede es dem Insolvenzverwalter ermöglichen, ohne Haftungsrisiko bestimmte Neumasseverbindlichkeiten voll zu bedienen und andere – wie gesetzlich vorgesehen – nur noch quotal zu befriedigen. Für eine solche „Korrektur“ der Entscheidung des Gesetzgebers, alle Neumassegläubiger auch nach Eintritt einer Neumasseunzulänglichkeit weiterhin gleich zu behandeln, fehlt es jedoch an der dafür erforderlichen Rechtsgrundlage, die ihre Verfechter darum auch nicht aufzuzeigen vermögen.

Bei Anwendung und Auslegung des § 208 Abs. 3 InsO ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die den Insolvenzverwalter danach treffenden Pflichten, die grundsätzlich auch beinhalten, bei der weiteren Verwertung die Verteilungsordnung des § 209 InsO allen Gläubigern gegenüber gleichermaßen umzusetzen37, nicht abstrakt und für jedes Insolvenzverfahren einheitlich festlegen lassen. Diese Pflichten richten sich vielmehr nach der jeweiligen Marktsituation und Lage der Masse38. Darum ist der Insolvenzverwalter nach Eintritt einer Neumasseunzulänglichkeit nicht verpflichtet, die Masse um jeden Preis weiter zu verwalten und zu verwerten. Im Gegenteil überformt der Insolvenzeintritt nach dem Willen des Gesetzgebers Marktgesetze nicht und soll nicht den Wettbewerb zwischen gesunden und insolventen Unternehmen verzerren. Ist nach Einschätzung des Insolvenzverwalters der Liquidationswert höher als der Fortführungswert, hat er als Teil der dem Insolvenzrecht zukommenden Ordnungsaufgabe das insolvente Unternehmen zu liquidieren39. Letztlich geht es nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit nur noch um eine geordnete Abwicklung40. § 208 Abs. 3 InsO vermag deshalb eine verzögerte Abwicklung nicht zu decken41. Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann sich deshalb die Pflicht aus § 208 Abs. 3 InsO auf eine selektive Notverwertung beschränken, also auf die Pflicht, das Insolvenzverfahren schnellstmöglich zur Einstellung zu bringen42. Bei komplexen Verfahren wie dem vorliegenden ist dem Insolvenzverwalter allerdings zuzugestehen, dass allein die Abwicklung erhebliche Zeit in Anspruch nimmt und auch das Eingehen neuer Verbindlichkeiten erforderlich machen kann, etwa für die Verteidigung in Kündigungsschutzverfahren oder für die Heranziehung von Dritten zur Erfüllung steuerrechtlicher oder anderer öffentlich-rechtlicher Pflichten43.

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Die bestehende Rechtslage ist verfassungskonform.

Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Die vom Arbeitnehmer vermisste gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts, von dem auch schuldrechtliche Forderungen erfasst werden44, findet sich in §§ 208 f. InsO. Mit diesen Bestimmungen ist gesetzlich festgelegt, dass und wie Neumasseverbindlichkeiten bei Eintritt einer Neumasseunzulänglichkeit zu befriedigen sind. Ohnehin ist das Insolvenzverfahren seinerseits Teil der Gewährleistung des Eigentums durch Art. 14 Abs. 1 GG45.

Die Rüge einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bezieht sich auf eine „weitere Rückstufung“ der Neumasseverbindlichkeiten, zu der es nach der geltenden Rechtslage bei Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit gerade nicht kommt. Soweit die Rüge dahin zu verstehen sein sollte, dass der absolute Vorrang der Kosten nach § 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang stehende Bevorzugung des Insolvenzverwalters darstelle, berücksichtigt die Revision nicht, dass der Rangvortritt der Kosten des Verwalters verfassungsrechtlich geboten ist46.

Schließlich sind entgegen der Auffassung der Revision auch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art.20 Abs. 3 GG) nicht dadurch überschritten, dass in entsprechender Anwendung des § 210 InsO Neumasseverbindlichkeiten nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit nicht mehr mit der Leistungsklage verfolgt werden können. Mit dieser Rechtsfortbildung hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung an dem in § 1 Satz 1 InsO verankerten Grundsatz der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung orientiert47 und die der Insolvenzordnung zugrunde liegende gesetzgeberische Wertung, einen konkurrierenden Wettlauf der Gläubiger zu vermeiden48, auf den gesetzlich nicht geregelten Fall der Neumasseunzulänglichkeit übertragen.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. August 2022 – 6 AZR 441/21

  1. BAG 31.03.2004 – 10 AZR 253/03, zu B II 2 a der Gründe [Stellt sich … heraus, dass die vorhandene Masse auch die Ansprüche nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO nicht mehr voll abdecken kann und auch nur für sie eine anteilige Erfüllung infrage kommt, …], BAGE 110, 135; 4.06.2003 – 10 AZR 586/02, zu II 1 der Gründe[]
  2. BGH 9.10.2008 – IX ZB 129/07, Rn. 7 [Neumasseverbindlichkeiten dürfen nicht allein durch eine spätere Anzeige zu Altmasseverbindlichkeiten zurückgestuft werden]; 13.04.2006 – IX ZR 22/05, Rn. 17 [Dies läuft darauf hinaus, … Verbindlichkeiten, die nach der erneuten Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, einen im Gesetz nicht vorgesehenen verbesserten Rang zu verschaffen], BGHZ 167, 178; 3.04.2003 – IX ZR 101/02, zu III 2 c bb der Gründe [Reicht die verfügbare Insolvenzmasse nicht zur vollen Befriedigung aller Neumassegläubiger, greift innerhalb der durch § 209 InsO vorgegebenen Rangordnung … der Grundsatz der Gleichbehandlung], BGHZ 154, 358[]
  3. sh. die zutreffenden Zusammenfassungen der Rechtsprechung bei Ganter NZI 2019, 7, 8; ders. ZIP 2019, 97, 98; Thole ZIP 2018, 2241, 2244; MünchKomm-InsO/Hefermehl 4. Aufl. § 208 Rn. 60[]
  4. Ganter NZI 2019, 7[]
  5. BeckOK InsR/Ruland Stand 15.01.2022 InsO § 209 Rn. 1[]
  6. MünchKomm-InsO/Hefermehl 4. Aufl. § 209 Rn. 13; Uhlenbruck/Ries 15. Aufl. § 209 InsO Rn. 10; für § 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO BGH 7.02.2013 – IX ZB 245/11, Rn. 29; für Altmassegläubiger BGH 3.04.2003 – IX ZR 101/02, zu III 2 c bb der Gründe, BGHZ 154, 358[]
  7. Nerlich/Römermann/Westphal InsO § 209 Stand November 2021 Rn. 4[]
  8. BT-Drs. 12/2443 S. 81; Gottwald/Haas/Pechartscheck Insolvenzrechts-Handbuch 6. Aufl. § 19 Rn. 1[]
  9. BAG 22.02.2018 – 6 AZR 868/16, Rn. 12, BAGE 162, 58[]
  10. Nerlich/Römermann/Westphal InsO § 211 Stand November 2021 Rn. 3; MünchKomm-InsO/Hefermehl 4. Aufl. § 211 Rn. 1[]
  11. Thole ZIP 2018, 2241, 2244[]
  12. aA Runkel/Schnurbusch NZI 2000, 49[]
  13. aus diesem Grund gegen die nur quotale Befriedigung von Urlaubsabgeltungsansprüchen als Masseverbindlichkeit unter Zurückstufung des Rests dieser Ansprüche zur Insolvenzforderung bzw. Altmasseverbindlichkeit BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 56, BAGE 172, 158[]
  14. aA Ganter NZI 2019, 7, 11 ff., 15[]
  15. zu diesen Begrifflichkeiten Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6. Aufl. S. 383[]
  16. vgl. BAG 30.10.2019 – 6 AZR 465/18, Rn. 53, BAGE 168, 254; zuletzt BAG 10.11.2021 – 10 AZR 696/19, Rn. 50[]
  17. so ausdrücklich Ganter NZI 2019, 7, 12[]
  18. Thole ZIP 2018, 2241, 2244; vgl. für die Einordnung von Abfindungen aus Sozialplänen in den Rang „0“ und damit vor § 61 Abs. 1 KO BVerfG 19.10.1983 – 2 BvR 485/80 ua., zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 65, 182[]
  19. Ganter NZI 2019, 7; Dinstühler ZIP 1998, 1697; Kröpelin ZIP 2003, 2341[]
  20. Uhlenbruck/Ries 15. Aufl. § 208 InsO Rn. 25[]
  21. Thole ZIP 2018, 2241, 2246 ff.; dazu unter Rn. 52[]
  22. so Ganter NZI 2019, 7, 12[]
  23. Thole ZIP 2018, 2241, 2244; Jaeger/Windel InsO 2. Aufl. § 208 Rn. 27[]
  24. vgl. BVerfG 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, Rn. 55 ff., BVerfGE 128, 193[]
  25. Nachweise bei Ganter ZIP 2019, 97 in Fn. 27[]
  26. BAG 4.06.2003 – 10 AZR 586/02, zu II 1 der Gründe; BGH 9.10.2008 – IX ZB 129/07, Rn. 7 ff.; 13.04.2006 – IX ZR 22/05, Rn. 21, BGHZ 167, 178; 3.04.2003 – IX ZR 101/02, zu III 2 c bb der Gründe, BGHZ 154, 358[]
  27. Ganter NZI 2019, 7, 8; Thole ZIP 2018, 2241, 2243[]
  28. 10 AZR 253/03, zu B II 2 a der Gründe, BAGE 110, 135[]
  29. BGH 03.04.2003 – IX ZR 101/02 – BGHZ 154, 358[]
  30. BAG 04.06.2003 – 10 AZR 586/02, zu II 1 der Gründe[]
  31. vgl. BAG 11.12.2001 – 9 AZR 459/00, zu II 4 b der Gründe; BGH 3.04.2003 – IX ZR 101/02, zu II 1 der Gründe, BGHZ 154, 358[]
  32. vgl. BGH 13.04.2006 – IX ZR 22/05, Rn. 17, BGHZ 167, 178; Thole ZIP 2018, 2241, 2243 f.; HK-InsO/Hölzle 10. Aufl. § 208 Rn. 4; Uhlenbruck/Ries 15. Aufl. § 208 InsO Rn. 2[]
  33. vgl. Jaeger/Windel InsO 2. Aufl. § 208 Rn. 28[]
  34. aA Ganter NZI 2019, 7, 12[]
  35. Thole ZIP 2018, 2241, 2243 f.[]
  36. aA Thole ZIP 2018, 2241, 2245 ff.; Jaeger/Windel InsO 2. Aufl. § 208 Rn. 56[]
  37. aA MünchKomm-InsO/Hefermehl 4. Aufl. § 208 Rn. 60: Berechtigung, die Neumasseunzulänglichkeit selektiv einzuwenden[]
  38. vgl. Jaeger/Windel InsO 2. Aufl. § 209 Rn.19[]
  39. BT-Drs. 12/2443 S. 75 f.[]
  40. vgl. bereits für die Masseunzulänglichkeit BGH 4.07.2002 – IX ZR 97/99, zu II 5 b der Gründe, BGHZ 151, 236[]
  41. KPB/Pape InsO § 208 Stand März 2004 Rn.20[]
  42. vgl. Jaeger/Windel aaO § 208 Rn. 72 f.; zu einer derartigen Begrenzung des § 208 Abs. 3 InsO bereits bei Eintritt von Masseunzulänglichkeit MünchKomm-InsO/Hefermehl § 208 Rn. 46[]
  43. vgl. Thole ZIP 2018, 2241, 2248 f.[]
  44. vgl. BVerfG 7.12.2004 – 1 BvR 1804/03, zu B II 1 a der Gründe, BVerfGE 112, 93[]
  45. BAG 27.02.2014 – 6 AZR 367/13, Rn. 24 mwN[]
  46. vgl. BGH 5.12.1991 – IX ZR 275/90, zu II 2 a der Gründe, BGHZ 116, 233[]
  47. BT-Drs. 12/2443 S. 108[]
  48. vgl. zu diesem übergeordneten Ziel der Insolvenzordnung BT-Drs. 12/2443 S. 139; BGH 19.07.2007 – IX ZB 36/07, Rn. 12, BGHZ 173, 286; 9.09.1997 – IX ZR 14/97, zu II 1 a der Gründe, BGHZ 136, 309[]
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