Öffentliche Arbeitgeber – und die unmittelbare Benachteiligung behinderter Stellenbewerber

Der Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis ist Beschäftigter im Sinne des AGG (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG). Das die Stelle ausschreibende Unternehmen ist Arbeitgeber im sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG1.

Öffentliche Arbeitgeber – und die unmittelbare Benachteiligung behinderter Stellenbewerber

Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus (§ 15 Abs. 2 iVm. § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG) und ist verschuldensunabhängig.

Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des AGG eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des AGG.

Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen, § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG. Nach § 15 Abs. 2 AGG kann der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs dient § 15 Abs. 2 AGG dazu, die „Forderungen der Richtlinien“ (hier insbesondere: Richtlinie 2000/78/EG) sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union2 nach einer wirksamen und verschuldensunabhängig ausgestalteten Sanktion bei Verletzung des Benachteiligungsverbotes durch den Arbeitgeber umzusetzen3.

Der Stellenbewerber wurde vorliegend von der Arbeitgeberin durch die Nichteinladung zum Bewerbungsgespräch auch unmittelbar wegen der Behinderung benachteiligt iSv. § 7 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 1 AGG iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX.

Im Falle der Schwerbehinderung eines Bewerbers/einer Bewerberin kann in der Nichteinladung zu einem Vorstellungsgespräch bei einem öffentlichen Arbeitgeber und dem damit verbundenen vorzeitigen Ausscheiden des Bewerbers/der Bewerberin aus dem Bewerbungsverfahren eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung liegen.

§ 7 Abs. 1 AGG verbietet sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine – vorliegend ausschließlich in Betracht kommende – unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. einer Behinderung, eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

Im Hinblick auf eine – insbesondere bei einer Einstellung und Beförderung zu treffende – Auswahlentscheidung des Arbeitgebers befinden sich Personen grundsätzlich bereits dann in einer vergleichbaren Situation, wenn sie sich für dieselbe Stelle beworben haben4. Bereits deshalb kommt es, sofern ein Bewerber vorab ausgenommen und damit vorzeitig aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen wurde, nicht zwangsläufig ausschließlich auf den Vergleich mit dem/der letztlich eingestellten Bewerber/in an.

Ob eine vergleichbare Situation iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG nur dann vorliegt, wenn der die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangende Bewerber für die ausgeschriebene Stelleauch „objektiv geeignet“ ist, kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist für eine Vergleichbarkeit die am Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle zu messende „objektive Eignung“ des Bewerbers erforderlich5. Dies hat das Bundesarbeitsgericht im Wesentlichen damit begründet, dass eine Benachteiligung nur angenommen werden könne, wenn eine Person, die an sich für die Tätigkeit geeignet sei, nicht ausgewählt oder nicht in Betracht gezogen worden sei. Könne hingegen auch ein objektiv ungeeigneter Bewerber immaterielle Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen, stehe dies nicht im Einklang mit dem Schutzzweck des AGG, das nur vor ungerechtfertigter Benachteiligung schützen, nicht aber eine unredliche Gesinnung des (potentiellen) Arbeitgebers sanktionieren wolle.

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Ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann, könnte ua. bereits deshalb zweifelhaft sein, weil § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG den Entschädigungsanspruch für Personen, die „bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden“ wären, nicht ausschließt, sondern lediglich der Höhe nach begrenzt. Zudem würde das Erfordernis der „objektiven Eignung“, da die Feststellung einer „vergleichbaren Situation“ nicht ohne Vergleichsbetrachtung auskommen kann, wohl eine parallele Überprüfung der „objektiven Eignung“ der eingeladenen Bewerber und Bewerberinnen nach sich ziehen müssen. Eine derartige Prüfung und Vergleichsbetrachtung findet jedoch möglicherweise weder in den Bestimmungen des AGG noch in den unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere denen der Richtlinie 2000/78/EG eine hinreichende Grundlage.

Die Frage, ob eine vergleichbare Situation iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG nur dann angenommen werden kann, wenn der Bewerber für die ausgeschriebene Stelleauch „objektiv geeignet“ ist, muss im vorliegenden Verfahren jedoch nicht entschieden werden, da das Landesarbeitsgericht die „objektive Eignung“ des Stellenbewerbers für die zu besetzende Stelle bejaht hat und dies unter den Parteien auch nicht mehr streitig ist.

Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung „wegen“ eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen. Dafür ist es nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist;er muss nicht – gewissermaßen als vorherrschender Beweggrund, Hauptmotiv oder „Triebfeder“ des Verhaltens – handlungsleitend oder bewusstseinsdominant gewesen sein; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei bloße Mitursächlichkeit genügt6. Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs sind alle Umstände des Rechtsstreits im Sinne einer Gesamtbetrachtung und -würdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen7.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts liegt eine Benachteiligung im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung oder Beförderung, bereits dann vor, wenn der Beschäftigte nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden wird. Die Benachteiligung liegt hier in der Versagung einer Chance8. Nach § 7 Abs. 1 AGG darf ein vorzeitiger Ausschluss eines Bewerbers/einer Bewerberin aus dem Auswahlverfahren demnach nicht in einem (mit)ursächlichen Zusammenhang mit einem in § 1 AGG aufgeführten Grund stehen. Sind bereits die Chancen einer Bewerberin/eines Bewerbers durch ein diskriminierendes Verfahren beeinträchtigt worden, kommt es regelmäßig nicht mehr darauf an, ob eine nach § 1 AGG verbotene Anknüpfung bei der abschließenden Einstellungsentscheidung noch eine nachweisbare Rolle gespielt hat9. Bewerber/innen haben vielmehr Anspruch auf ein diskriminierungsfreies Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren10. Deshalb ist es auch ohne Bedeutung, ob es später im Zuge des Auswahlverfahrens tatsächlich zu einer Einstellung oder Beschäftigung kommt11.

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Bewirbt sich ein schwerbehinderter Mensch bei einem öffentlichen Arbeitgeber um eine zu besetzende Stelle, so hat dieser ihn nach § 82 Satz 2 SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Nach § 82 Satz 3 SGB IX ist eine Einladung nur dann entbehrlich, wenn dem schwerbehinderten Menschen die fachliche Eignung offensichtlich fehlt12. Damit muss der öffentliche Arbeitgeber einem sich bewerbenden schwerbehinderten Menschen die Chance eines Vorstellungsgesprächs auch dann gewähren, wenn dessen fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist13. Insoweit ist der schwerbehinderte Bewerber im Bewerbungsverfahren besser gestellt als nicht schwerbehinderte Konkurrenten.

Dem steht die Richtlinie 2000/78/EG auch dann nicht entgegen, wenn der andere Bewerber/die andere Bewerberin behindert iSv. § 2 Abs. 1 SGB IX ist. Zwar verlangt Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG von den Mitgliedstaaten, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung zu treffen, um den Zugang zur Beschäftigung zu gewährleisten; allerdings gestattet Art. 7 der Richtlinie positive Maßnahmen, die das Ziel haben, einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt zu dienen oder diese Eingliederung zu fördern. Welche Maßnahmen und Vorkehrungen der Mitgliedstaat im Einzelnen zu treffen hat, ist dabei nicht vorgegeben14.

Unterlässt es der öffentliche Arbeitgeber entgegen § 82 Satz 2 SGB IX, einen sich bewerbenden schwerbehinderten Menschen zum Vorstellungsgespräch einzuladen und versagt diesem damit die Chance, ihn von seiner Eignung zu überzeugen, kann darin eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung liegen. Wird dem schwerbehinderten Arbeitnehmer die Möglichkeit genommen, sich in einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren, liegt eine weniger günstige Behandlung vor, als sie das Gesetz (§ 82 Satz 2 SGB IX) zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen Bewerbern für erforderlich hält15. Der Ausschluss aus dem weiteren Bewerbungsverfahren kann demnach eine Benachteiligung sein, die in einem (mit)ursächlichen Zusammenhang mit der Behinderung steht16.

Lädt der öffentliche Arbeitgeber den sich bewerbenden schwerbehinderten Beschäftigten nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein, kann darin allerdings nur dann eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung liegen, wenn ihm die Schwerbehinderung des Stellenbewerbers/der Stellenbewerberin zum Zeitpunkt der benachteiligenden Maßnahme bekannt ist oder er diese kennen muss. Deshalb muss ein Bewerber, der seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, den (potentiellen) Arbeitgeber über die vorhandene Schwerbehinderung rechtzeitig in Kenntnis setzen, soweit dieser nicht bereits aus anderem Zusammenhang über diese Information verfügt. Andernfalls ist dem öffentlichen Arbeitgeber ein Verstoß gegen die bei der Bewerbung schwerbehinderter Menschen nach § 82 Satz 2 SGB IX auferlegte Verpflichtung objektiv nicht zurechenbar und es fehlt an der (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung für die benachteiligende Maßnahme17.

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Ein hinreichender Hinweis auf eine Schwerbehinderung liegt vor, wenn die Mitteilung in einer Weise in den Empfangsbereich des Arbeitgebers gelangt ist, die es diesem ermöglicht, die Schwerbehinderung des Bewerbers zur Kenntnis zu nehmen18. Eine Information im Bewerbungsanschreiben19 oder an gut erkennbarer Stelle im Lebenslauf20 ist regelmäßig ausreichend21. Unter Umständen kann auch eine rechtzeitige gesonderte Mitteilung genügen22.

Zur Mitteilung der Schwerbehinderung eines Bewerbers/einer Bewerberin kann auch die „Vorlage“ des Schwerbehindertenausweises ausreichend sein23; allerdings genügt es nicht, wenn eine Kopie des Schwerbehindertenausweises lediglich den Anlagen zur Bewerbung beigefügt wird24, ohne dass im Anschreiben oder im Lebenslauf hierauf ausreichend hingewiesen wird.

Für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen sieht § 22 AGG eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt nach § 22 AGG die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.

Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist25. Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist26. Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises27. Der Arbeitgeber muss demnach Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben28. Die Beweiswürdigung erfolgt nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO unter Zugrundelegung der Vorgaben von § 22 AGG29.

Die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein30.

Nach diesen Grundsätzen hat der Stellenbewerber im hier entschiedenen Fall eine ungünstigere Behandlung (auch) wegen der Behinderung erfahren, so dass ihm deshalb eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zusteht.

Der Stellenbewerber hat gegenüber anderen Bewerbern und Bewerberinnen, die zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sind, eine ungünstigere Behandlung erfahren. Hierüber streiten die Parteien nicht. Die Arbeitgeberin, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts gemäß § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX als öffentliche Arbeitgeberin gilt, war gemäß § 82 Satz 2 SGB IX auch verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Von dieser Verpflichtung war sie im Fall des Stellenbewerbers nicht nach § 82 Satz 3 SGB IX wegen offensichtlichen Fehlens der fachlichen Eignung des Stellenbewerbers befreit, der Stellenbewerber war fachlich geeignet.

Der Stellenbewerber hat der Arbeitgeberin vorliegend seine Schwerbehinderung deutlich und ausreichend mitgeteilt, die weniger günstige Behandlung des Stellenbewerbers ist demnach „wegen“ der Behinderung erfolgt.

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Die Arbeitgeberin beruft sich darauf, der Stellenbewerber habe sie in seinem Bewerbungsschreiben nicht hinreichend klar und deutlich über seine Schwerbehinderung informiert. Zum einen reiche es nicht aus, nur den Begriff der „Schwerbehinderung“ anzuführen, vielmehr sei auch der GdB anzugeben gewesen. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, im heutigen Berufsleben sei allgemein bekannt, dass zwischen einer Behinderung und einer Schwerbehinderung im Rechtssinne zu unterscheiden sei, existiere insbesondere „nach dem objektiven Empfängerhorizont“ nicht. Zudem ergebe sich aus dem Bewerbungsschreiben des Stellenbewerbers nicht, dass die Schwerbehinderung zum Zeitpunkt der Bewerbung vorgelegen habe.

Im Zusammenhang mit der Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers aus § 82 SGB IX reicht es aus, über das Vorliegen einer „Schwerbehinderung“ zu informieren. Es ist nicht zusätzlich erforderlich, den GdB mitzuteilen. Soweit sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts31 etwas anderes ergeben sollte, hält das Bundesarbeitsgericht hieran nicht fest.

Der Begriff der „Schwerbehinderung“ ist ein Rechtsbegriff, dem im Rechtsverkehr, vor allem im Arbeits- und Sozialrecht eine feste Bedeutung zukommt. Der Begriff der Schwerbehinderung ist in § 2 Abs. 2 SGB IX gesetzlich definiert. Nach dieser Bestimmung sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Weist ein/e Bewerber/in im Zusammenhang mit einer Bewerbung darauf hin, „schwerbehindert“ zu sein, ist deshalb – sofern nicht ausnahmsweise Anhaltspunkte für ein abweichendes Begriffsverständnis gegeben sind – für den Arbeitgeber ohne Weiteres erkennbar, dass der Begriff iSd. in § 2 Abs. 2 SGB IX gegebenen Definition gemeint ist und damit beim Bewerber mindestens ein GdB von 50 vorliegt. Eine andere Funktion liegt im Zusammenhang mit einem Bewerbungsschreiben regelmäßig nicht nahe.

Da nach § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen schwerbehindert sind, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und dies die Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers nach § 82 Satz 2 SGB IX auslöst, einen schwerbehinderten Bewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen, ist eine (weitergehende) Angabe des im Einzelfall vorliegenden GdB nicht erforderlich. Entgegen der Rechtsauffassung der Arbeitgeberin folgt auch aus der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Interessen und Rechte der anderen Seite, soweit sich eine solche hier ggf. aus einem Anbahnungsverhältnis ergeben sollte32, nichts anderes. Zwar ist nicht auszuschließen, dass im Einzelfall wegen bestimmter Arbeitsanforderungen und/oder zur Erfüllung der Verpflichtung zu „angemessenen Vorkehrungen“33 nähere Kenntnisse des Arbeitgebers zu Art und ggf. Umfang einer Behinderung erforderlich sein können und der Arbeitnehmer deshalb zu entsprechender Auskunft verpflichtet sein kann; um solch eine besondere Situation geht es vorliegend jedoch nicht.

Vorliegend hat der Stellenbewerber mit der Erklärung in seinem Bewerbungsschreiben: „Aus gesundheitlichen Gründen musste ich für kurze Zeit meine Erwerbstätigkeit unterbrechen und mich aufgrund meiner Schwerbehinderung beruflich neu orientieren“, unzweideutig darauf hingewiesen, dass die Schwerbehinderung auch zum Zeitpunkt der Bewerbung bestand. Das Schreiben konnte sinnvollerweise nicht dahin ausgelegt werden, dass der Stellenbewerber im Hinblick auf das Vorliegen einer Schwerbehinderung einen nicht mehr aktuellen Hinweis habe geben wollen. Insbesondere die Formulierung in der Erklärung des Stellenbewerbers – aufgrund „meiner“ Schwerbehinderung – legt die Annahme nahe, der Stellenbewerber habe auf eine aktuelle Schwerbehinderung hinweisen wollen.

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Dass die Arbeitgeberin nach eigenen Angaben „nicht erkannt hat“, dass sie aufgrund der Mitteilung des Stellenbewerbers nach § 82 Satz 2 SGB IX verpflichtet war, diesen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, führt zu keiner anderen Bewertung. Von Bedeutung ist nicht, was sie tatsächlich erkannt hat, sondern was sie erkennen musste.

Der Stellenbewerber hat vorliegend auch wegen seiner Behinderung eine weniger günstige Behandlung erfahren:

Vor dem Hintergrund, dass der Stellenbewerber die Arbeitgeberin in seinem Bewerbungsschreiben darauf hingewiesen hatte, dass er zum Zeitpunkt der Bewerbung schwerbehindert war, ist der Verstoß der Arbeitgeberin gegen ihre aus § 82 Satz 2 SGB IX folgende Verpflichtung, den schwerbehinderten Stellenbewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, geeignet, die Vermutung einer unmittelbaren Benachteiligung des Stellenbewerbers wegen der Behinderung zu begründen. Mit ihrem Einwand, sie habe eine mit einem GdB von 30 behinderte Bewerberin eingestellt, hat die Arbeitgeberin die Vermutungswirkung des § 22 AGG nicht widerlegt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es für die Frage, ob ein Bewerber diskriminierungsfrei vorab aus dem Auswahlverfahren ausgeschlossen wurde, kommt es nicht darauf an, ob und ggf. zu welcher Einstellung es später im Zuge des Auswahlverfahrens tatsächlich gekommen ist.

Dem Stellenbewerber steht mithin nach § 15 Abs. 2 AGG eine Entschädigung zu. Die Bestimmung der Höhe der Entschädigung34 ist grundsätzlich Sache der Tatsachengerichte35. Das Landesarbeitsgericht hat hier in Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht eine Entschädigung iHv.03.955, 96 Euro als angemessen erachtet.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Oktober 2015 – 8 AZR 384/14

  1. vgl. ua. BAG 21.06.2012 – 8 AZR 188/11, Rn. 18 mwN, BAGE 142, 143[]
  2. ua. EuGH 22.04.1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 24, 39 f., Slg. 1997, I-2195[]
  3. BT-Drs. 16/1780 S. 38; vgl. auch BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 26 mwN; 16.09.2008 – 9 AZR 791/07, Rn. 33 mwN, BAGE 127, 367[]
  4. vgl. auch BAG 17.08.2010 – 9 AZR 839/08, Rn. 29[]
  5. vgl. etwa BAG 23.01.2014 – 8 AZR 118/13, Rn. 18; 14.11.2013 – 8 AZR 997/12, Rn. 29; 26.09.2013 – 8 AZR 650/12, Rn.20 ff.; 21.02.2013 – 8 AZR 180/12, Rn. 28, BAGE 144, 275; 16.02.2012 – 8 AZR 697/10, Rn. 35; 13.10.2011 – 8 AZR 608/10, Rn. 26; 7.04.2011 – 8 AZR 679/09, Rn. 37; ausdrücklich offen gelassen allerdings von BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 29[]
  6. vgl. etwa BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 34 mwN[]
  7. vgl. EuGH 25.04.2013 – C-81/12 – [Asociatia ACCEPT] Rn. 50; 19.04.2012 – C-415/10 – [Meister] Rn. 42, 44 f.; BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 31 mwN[]
  8. vgl. BAG 22.08.2013 – 8 AZR 563/12, Rn. 36 mwN; 17.08.2010 – 9 AZR 839/08, Rn. 29; 28.05.2009 – 8 AZR 536/08, Rn. 31, BAGE 131, 86[]
  9. vgl. BVerfG 16.11.1993 – 1 BvR 258/86, zu C I 2 c der Gründe, BVerfGE 89, 276 zu § 611a Abs. 1 BGB aF für geschlechtsbezogene Benachteiligungen[]
  10. vgl. BAG 23.08.2012 – 8 AZR 285/11, Rn. 23; 3.04.2007 – 9 AZR 823/06, Rn. 33, BAGE 122, 54; vgl. auch BT-Drs. 12/5468 S. 44 zu § 611a BGB aF[]
  11. BAG 23.08.2012 – 8 AZR 285/11, Rn. 23 mwN[]
  12. zur Bedeutung näher BAG 12.09.2006 – 9 AZR 807/05, Rn. 24 mwN, BAGE 119, 262[]
  13. BAG 12.09.2006 – 9 AZR 807/05 – aaO[]
  14. vgl. BAG 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, Rn. 48[]
  15. BAG 16.02.2012 – 8 AZR 697/10, Rn. 48; 21.07.2009 – 9 AZR 431/08, Rn. 22, BAGE 131, 232; 12.09.2006 – 9 AZR 807/05, Rn. 24 mwN, BAGE 119, 262[]
  16. vgl. BAG 22.08.2013 – 8 AZR 563/12, Rn. 51; 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, Rn. 24; 16.09.2008 – 9 AZR 791/07, Rn. 44, BAGE 127, 367[]
  17. vgl. BAG 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, Rn. 24; 16.09.2008 – 9 AZR 791/07, Rn. 28, BAGE 127, 367[]
  18. BAG 13.10.2011 – 8 AZR 608/10, Rn. 38; 16.09.2008 – 9 AZR 791/07, Rn. 35, BAGE 127, 367[]
  19. etwa BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 35; 22.08.2013 – 8 AZR 563/12, Rn. 4 iVm. Rn. 35 ff.; 16.09.2008 – 9 AZR 791/07, Rn. 28 ff., 39, BAGE 127, 367[]
  20. etwa BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 36; 26.09.2013 – 8 AZR 650/12, Rn. 30[]
  21. Klarstellung von BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 35; 26.09.2013 – 8 AZR 650/12 – aaO[]
  22. vgl. etwa BAG 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, Rn. 39 zu einer vor Beginn des Auswahlgesprächs dem Arbeitgeber zugesandten Zusicherung der Bundesagentur für Arbeit mit dem Betreff „Gleichstellung gem. § 2 Abs. 3 Sozialgesetzbuch IX …“[]
  23. BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 32 f.[]
  24. BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 37[]
  25. vgl. BAG 21.06.2012 – 8 AZR 364/11, Rn. 33, BAGE 142, 158; 15.03.2012 – 8 AZR 37/11, Rn. 65, BAGE 141, 48[]
  26. ua. EuGH 25.04.2013 – C-81/12 – [Asociatia ACCEPT] Rn. 55 mwN; 10.07.2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32, Slg. 2008, I-5187; BAG 26.09.2013 – 8 AZR 650/12, Rn. 27[]
  27. vgl. etwa BAG 18.09.2014 – 8 AZR 753/13, Rn. 33[]
  28. vgl. etwa BAG 17.08.2010 – 9 AZR 839/08, Rn. 45[]
  29. vgl. BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 32 ff. mwN[]
  30. vgl. BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 45 mwN[]
  31. insbesondere BAG 18.09.2014 – 8 AZR 759/13, Rn. 33, 35; 26.09.2013 – 8 AZR 650/12, Rn. 30[]
  32. vgl. dazu BAG 20.05.2010 – 8 AZR 287/08 (A), Rn. 28[]
  33. vgl. dazu BAG 26.06.2014 – 8 AZR 547/13, Rn. 53; 22.05.2014 – 8 AZR 662/13, Rn. 42, BAGE 148, 158; 19.12 2013 – 6 AZR 190/12, Rn. 53, BAGE 147, 60[]
  34. vgl. hierzu näher BAG 22.05.2014 – 8 AZR 662/13, Rn. 44, BAGE 148, 158[]
  35. vgl. etwa BAG 24.01.2013 – 8 AZR 188/12, Rn. 49[]
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