§ 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD begrenzt den Anspruch nicht gesetzlich krankenversicherter Beschäftigter auf bezahlte Freistellung bei schwerer Erkrankung mehrerer Kinder unter zwölf Jahren im selben Kalenderjahr nicht auf höchstens vier Arbeitstage. Es gilt nur die Gesamtbelastungsobergrenze von fünf Arbeitstagen im Kalenderjahr gemäß § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD.

Ein im Geltungsbereich des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) nicht gesetzlich krankenversicherter Beschäftigter hat nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb iVm. Satz 2 TVöD Anspruch, bis zu vier Arbeitstage unter Fortzahlung des Entgelts von der Arbeit freigestellt zu werden, wenn ein Kind unter zwölf Jahren schwer erkrankt, eine andere Person zur Pflege oder Betreuung nicht sofort zur Verfügung steht und die Notwendigkeit der Anwesenheit des Beschäftigten zur vorläufigen Pflege ärztlich bescheinigt wird. Erkrankt ein anderes Kind des Beschäftigten schwer und sind die übrigen tariflichen Voraussetzungen erfüllt, steht dem Beschäftigten eine weitere bezahlte Freistellung von der Arbeit zu, wenn die in § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD festgesetzte Freistellungsobergrenze von insgesamt fünf Arbeitstagen im Kalenderjahr nicht überschritten wird.
Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb iVm. Satz 2 TVöD hat ein Beschäftigter Anspruch, bis zu vier Arbeitstage im Kalenderjahr unter Fortzahlung des Entgelts von der Arbeit freigestellt zu werden, wenn ein Kind unter zwölf Jahren schwer erkrankt, aufgrund der Erkrankung kein Anspruch auf Krankengeld nach § 45 SGB V besteht, eine andere Person zur Pflege und Betreuung nicht sofort zur Verfügung steht und die Notwendigkeit der Anwesenheit des Beschäftigten zur vorläufigen Pflege ärztlich bescheinigt wird.
In der Kommentarliteratur wird die Auffassung des Landesarbeitsgerichts überwiegend geteilt1. Danach wird angenommen, dass im Kalenderjahr insgesamt immer nur die in den jeweiligen Doppelbuchstaben genannte Anzahl an Freistellungstagen zur Verfügung steht, gleichgültig wie viele Freistellungsanlässe nach dem jeweiligen Doppelbuchstaben bestehen. Es stelle je nach Familien- und Haushaltsumfang die deutlich risikoreichere Variante dar anzunehmen, dass auch bei mehrmaligem Vorliegen ein und desselben Freistellungstatbestands die in den einzelnen Doppelbuchstaben aufgeführte Obergrenze nicht gelten solle2.
Die Deckelung in § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD auf fünf Freistellungstage im Kalenderjahr wird überwiegend nur auf die Fälle bezogen, in denen Freistellungstatbestände nach unterschiedlichen Doppelbuchstaben vorliegen. Nur dann sei eine Addition der in den einzelnen Doppelbuchstaben aufgeführten Freistellungstage bis zur Grenze des § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD möglich3.
Lediglich vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass im Falle der schweren Erkrankung mehrerer Kinder unter zwölf Jahren in einem Kalenderjahr – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – ein Anspruch auf insgesamt fünf Freistellungstage bestehe4.
§ 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD stellt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts keine Belastungsobergrenze bei schwerer Erkrankung mehrerer Kinder dar. Dies folgt aus der Begrenzung auf fünf Arbeitstage im Kalenderjahr nach § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD.
Nach dem Tarifwortlaut ist es allerdings nicht eindeutig, dass die in Doppelbuchstabe bb genannte Obergrenze von vier Arbeitstagen im Kalenderjahr auch bei mehrmaligem Vorliegen des Freistellungstatbestands insgesamt gelten soll und § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD nur bei Hinzutreten eines anderen Freistellungstatbestands Anwendung findet. Eindeutig wäre der Wortlaut nur dann, wenn die vom Landesarbeitsgericht vorgeschlagene Formulierung gewählt worden wäre („bis zu vier Arbeitstage im Kalenderjahr je Kind“).
Sinn und Zweck der Tarifnorm sowie die systematische Auslegung sprechen jedoch für eine weitere bezahlte Freistellung bis zur Grenze des § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD im Falle der Erkrankung mehrerer unter Doppelbuchstabe bb fallender Kinder.
§ 29 TVöD benennt in seinem Absatz 1 verschiedene Anlässe, die als Fälle nach § 616 BGB gelten, in denen Beschäftigte unter Fortzahlung des Entgelts in dem angegebenen Ausmaß von der Arbeit freigestellt werden. Zu diesen Fällen zählt nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD die schwere Erkrankung eines Kindes, das das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Der Anspruch besteht nur für nicht gesetzlich Versicherte. § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD verfolgt danach, ebenso wie die inhaltsgleiche Vorgängerregelung in § 52 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb BAT, als nachrangige Regelung den Zweck, einen Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung in den Fällen zu gewähren, in denen der Arbeitnehmer nicht finanziell durch die Vorschriften des SGB V abgesichert ist, etwa weil er privat versichert ist5. Insoweit will die Norm eine Lücke schließen. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die sonstigen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD den in § 45 Abs. 1 SGB V genannten Voraussetzungen weitestgehend entsprechen (Zwölfjahresgrenze, Erfordernis einer ärztlichen Bescheinigung, Fehlen einer anderweitigen Betreuungsperson).
§ 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD ist gemäß dieser Ergänzungsfunktion im Kontext des § 45 SGB V auszulegen. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist im Bereich der gesetzlich Versicherten für die hier zu entscheidende Frage aber eindeutig. Danach besteht ein Anspruch auf Krankengeld „in jedem Kalenderjahr für jedes Kind längstens für 10 Arbeitstage“, wobei der Anspruch nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB V grundsätzlich auf 25 Arbeitstage je Kalenderjahr begrenzt ist. Angesichts der beschriebenen Funktion der tariflichen Regelung erscheint eine entsprechende Auslegung von § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD angezeigt.
Die gegenteilige Ansicht gelangt zu wertungswidersprüchlichen Ergebnissen.
Wird ein Beschäftigter an vier Arbeitstagen wegen der Erkrankung seines elf Jahre alten Kindes bezahlt von der Arbeit freigestellt, würde sie einen zusätzlichen bezahlten Freistellungstag verneinen, wenn zum Beispiel ein weiteres neun Jahre altes Kind später im Kalenderjahr schwer erkrankt. Andererseits würde sie – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – einen zusätzlichen bezahlten Freistellungstag zubilligen, wenn das zweite Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet hätte. Denn das zuletzt genannte Kind wäre nun ein Angehöriger im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. aa TVöD. Die speziellere Vorschrift des § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e Doppelbuchst. bb TVöD wäre aufgrund des Alters des Kindes nicht mehr einschlägig6. Ein solches Ergebnis wäre jedoch nicht mit der in der Vorschrift zum Ausdruck kommenden Wertung vereinbar und damit gerade in Bezug auf die Binnensystematik von § 29 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e TVöD widersprüchlich. Die wesentlich umfangreichere Freistellungsmöglichkeit nach Doppelbuchstabe bb (bis zu vier Arbeitstage) im Vergleich zu den unter Doppelbuchstabe aa zu subsumierenden Fällen (ein Arbeitstag) zeigt deutlich, dass die Tarifvertragsparteien bei Kindern unter zwölf Jahren einen erhöhten Betreuungsbedarf und damit eine gesteigerte Schutzwürdigkeit im Vergleich zu anderen Angehörigen – etwa älteren Kindern – erkannt haben. Damit wären die konträren Ergebnisse in den beiden Beispielsfällen aber nicht zu vereinbaren.
Letztlich ist die hier vertretene Ansicht auch nicht die „deutlich risikoreichere Variante“, wie das Landesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur meint7. Zunächst einmal dürfte es eine Frage des Standpunkts sein, ob das Risiko, zahlen zu müssen, erhöht oder das Risiko, bezahlt zu werden, verringert wird. Zudem kann selbst nach dem Standpunkt des Arbeitgebers bei einer Erhöhung der Obergrenze von vier auf fünf Arbeitstage gemäß der Gesamtbelastungsobergrenze in § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD von einer deutlichen Risikovergrößerung keine Rede sein.
Eine solche Risikoerhöhung könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn neben der Anerkennung eines Anspruchs auf bis zu vier Tage bezahlte Freistellung für jedes Kind auch die Gesamtbelastungsobergrenze ausgeschlossen würde, wie dies durch das Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern vom 25.08.20088 für den Bereich des Bundes geschehen ist („Ferner bin ich damit einverstanden, dass § 29 Abs. 1 Satz 3 TVöD [Begrenzung der Arbeitsbefreiung auf insgesamt fünf Arbeitstage im Kalenderjahr] keine Anwendung findet.“). Hierbei handelt es sich in der Tat um eine Abweichung vom Tarifvertrag und damit um eine übertarifliche Regelung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 5. August 2014 – 9 AZR 878/12
- Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck TVöD Stand Juli 2014 § 29 Rn. 46; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TVöD Stand Juni 2014 § 29 Rn. 79 Beispielsfall 4; Sponer/Steinherr TVöD Stand Juli 2014 § 29 Rn. 51 Beispielsfall 2b; Bremecker/Hock TVöD Lexikon Verwaltung Bd. 1 Stichwort: Arbeitsbefreiung bei Fortzahlung des Entgelts S. 8 Beispielsfall 1[↩]
- vgl. Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck aaO[↩]
- Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck Rn. 45 Beispielsfall 3; Sponer/Steinherr Rn. 51 Beispielsfall 4b; Bremecker/Hock S. 9 Beispielsfall 3[↩]
- Müller in Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr TVöD Bd. I Stand Januar 2014 § 29 Rn. 16[↩]
- so zu § 52 BAT: Schmidtke in Ramdohr Das Tarifrecht der Angestellten im öffentlichen Dienst Stand Januar 2007 Rn. 22[↩]
- Sponer/Steinherr § 29 Rn. 50; Nollert-Borasio in Burger TVöD/TV-L 2. Aufl. § 29 Rn. 11; Jansen UBWV 2012, 267, 269[↩]
- Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck § 29 Rn. 46[↩]
- BMI, Schreiben vom 25.08.2008 – D 5 – 220 210 – 2/29[↩]