Rechtsmissbrauch bei der Vertretungsbefristung

Die Gerichte dürfen sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei der Befristungskontrolle nicht auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds beschränken. Sie sind vielmehr aus unionsrechtlichen Gründen dazu verpflichtet, durch Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen.

Rechtsmissbrauch bei der Vertretungsbefristung

Die Beachtung von § 5 Nr. 1 Buchst. a der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.06.1999 verlangt, dass konkret geprüft wird, ob die Verlängerung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge oder -verhältnisse der Deckung eines zeitweiligen Bedarfs dient und ob eine nationale Vorschrift nicht in Wirklichkeit eingesetzt wird, um einen ständigen und dauerhaften Arbeitskräftebedarf des Arbeitgebers zu decken.

Hierzu sind stets alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu prüfen und dabei namentlich die Zahl der mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zurückgreifen, mögen diese auch angeblich zur Deckung eines Vertretungsbedarfs geschlossen worden sein1.

Die dazu gebotene zusätzliche Prüfung ist im deutschen Recht nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) vorzunehmen2.

Die Bestimmung der Schwelle eines institutionellen Rechtsmissbrauchs hängt maßgeblich von der Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie der Anzahl der Vertragsverlängerungen ab. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist dabei an die gesetzlichen Wertungen in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG anzuknüpfen. Die Vorschrift macht eine Ausnahme von dem Erfordernis der Sachgrundbefristung und erleichtert damit den Abschluss von befristeten Verträgen bis zu der festgelegten Höchstdauer von zwei Jahren bei maximal dreimaliger Verlängerungsmöglichkeit. Sie kennzeichnet den nach Auffassung des Gesetzgebers unter allen Umständen unproblematischen Bereich. Ist ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG gegeben, lässt erst das erhebliche Überschreiten dieser Grenzwerte den Schluss auf eine missbräuchliche Gestaltung zu. Bei Vorliegen eines die Befristung an sich rechtfertigenden Sachgrunds besteht kein gesteigerter Anlass zur Missbrauchskontrolle, wenn die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG für die sachgrundlose Befristung bezeichneten Grenzen nicht um ein Mehrfaches überschritten sind. Davon ist auszugehen, wenn nicht mindestens das Vierfache eines der in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG bestimmten Werte oder das Dreifache beider Werte überschritten ist. Liegt ein Sachgrund vor, kann also von der Befristung des Arbeitsverhältnisses Gebrauch gemacht werden, solange das Arbeitsverhältnis nicht die Gesamtdauer von sechs Jahren überschreitet und zudem nicht mehr als neun Vertragsverlängerungen vereinbart wurden, es sei denn, die Gesamtdauer übersteigt acht Jahre oder es wurden mehr als zwölf Vertragsverlängerungen vereinbart3.

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Werden die Grenzen des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG alternativ oder kumulativ mehrfach überschritten, ist eine umfassende Missbrauchskontrolle geboten. Hiervon ist idR auszugehen, wenn einer der Werte des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG mehr als das Vierfache beträgt oder beide Werte das Dreifache übersteigen. Überschreitet also die Gesamtdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses acht Jahre oder wurden mehr als zwölf Verlängerungen des befristeten Arbeitsvertrags vereinbart, hängt es von weiteren, zunächst vom Arbeitnehmer vorzutragenden Umständen ab, ob ein Rechtsmissbrauch anzunehmen ist. Gleiches gilt, wenn die Gesamtdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses sechs Jahre überschreitet und mehr als neun Vertragsverlängerungen vereinbart wurden4.

Werden die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen alternativ oder kumulativ in besonders gravierendem Ausmaß überschritten, kann eine missbräuchliche Ausnutzung der an sich eröffneten Möglichkeit zur Sachgrundbefristung indiziert sein. Von einem indizierten Rechtsmissbrauch ist idR auszugehen, wenn durch die befristeten Verträge einer der Werte des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG um mehr als das Fünffache überschritten wird oder beide Werte mehr als das jeweils Vierfache betragen. Das bedeutet, dass ein Rechtsmissbrauch indiziert ist, wenn die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses zehn Jahre überschreitet oder mehr als 15 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden oder wenn mehr als zwölf Vertragsverlängerungen bei einer Gesamtdauer von mehr als acht Jahren vorliegen. In einem solchen Fall hat allerdings der Arbeitgeber die Möglichkeit, die Annahme des indizierten Gestaltungsmissbrauchs durch den Vortrag besonderer Umstände zu entkräften5.

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Unter Berücksichtigung der danach gegebenen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast können sich Anhaltspunkte für oder gegen einen institutionellen Rechtsmissbrauch insbesondere daraus ergeben, ob ein Arbeitnehmer stets auf demselben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben beschäftigt wurde oder ihm mit den jeweiligen befristeten Arbeitsverträgen wechselnde, ganz unterschiedliche Tätigkeiten übertragen wurden. Indizien für oder gegen eine rechtsmissbräuchliche Vertragsgestaltung können auch aus der Art der Vertretung abzuleiten sein; regelmäßig erweist sich eine Befristung zur unmittelbaren Vertretung gegenüber einer mittelbaren Vertretung oder einer Vertretung nach dem Modell der sog. gedanklichen Zuordnung als weniger missbrauchsanfällig. Die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs bei aneinandergereihten befristeten Arbeitsverträgen zur Vertretung liegt näher, wenn die Laufzeit der Verträge wiederholt hinter der prognostizierten Dauer des Vertretungsbedarfs zurückbleibt, ohne dass dafür ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers erkennbar ist. Bei der Gesamtwürdigung von Bedeutung sind zudem grundrechtlich gewährleistete Freiheiten sowie besondere Anforderungen der in Rede stehenden Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien, sofern dies objektiv gerechtfertigt ist6. Auch die Anzahl und Dauer etwaiger Unterbrechungen zwischen den befristeten Arbeitsverträgen können gegen einen Rechtsmissbrauch sprechen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts schließt jedenfalls eine Unterbrechung von zwei Jahren idR aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverhältnisse und damit einen Rechtsmissbrauch aus. Bei einer so langfristigen Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Beschäftigung nicht der Deckung eines ständigen und dauerhaften Arbeitskräftebedarfs dient. In diesem Fall sind nur die Dauer und die Zahl der Vertragsverlängerungen nach der Unterbrechung in die Rechtsmissbrauchsprüfung einzubeziehen7. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in der Sache Fiamingo angenommen, ein Zeitraum von 60 Tagen sei „im Allgemeinen“ als ausreichend anzusehen, um jedes bestehende Arbeitsverhältnis zu unterbrechen und dafür zu sorgen, dass jeder etwaige später unterschriebene Vertrag nicht mehr als darauffolgend angesehen werde. Für einen Arbeitgeber, der ständig und dauerhaft Bedarf an Arbeitskräften hat, dürfte es schwierig sein, den von der Rahmenvereinbarung gewährten Schutz gegen Missbräuche zu umgehen, indem er am Ende jedes befristeten Vertrags eine Frist von ca. zwei Monaten verstreichen lässt8.

  1. vgl. EuGH 21.09.2016 – C-614/15 – [Popescu] Rn. 44, 65 f.; 14.09.2016 – C-16/15 – [Pérez López] Rn. 31; 26.11.2014 – C-22/13 ua. – [Mascolo ua.] Rn. 77, 101 f.; 3.07.2014 – C-362/13 ua. – [Fiamingo ua.] Rn. 62; 26.01.2012 – C-586/10 – [Kücük] Rn. 40[]
  2. vgl. BAG 17.05.2017 – 7 AZR 420/15, Rn. 15, BAGE 159, 125; 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn. 23, BAGE 157, 125; grundlegend: BAG 18.07.2012 – 7 AZR 443/09, Rn. 38, BAGE 142, 308 und – 7 AZR 783/10, Rn. 33[]
  3. BAG 17.05.2017 – 7 AZR 420/15, Rn. 17, BAGE 159, 125; 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn. 26, BAGE 157, 125[]
  4. BAG 17.05.2017 – 7 AZR 420/15, Rn. 18, BAGE 159, 125; 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn. 27 mwN, BAGE 157, 125[]
  5. vgl. BAG 17.05.2017 – 7 AZR 420/15, Rn.19, BAGE 159, 125; 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn. 28, BAGE 157, 125[]
  6. vgl. BAG 17.05.2017 – 7 AZR 420/15, Rn.20, BAGE 159, 125; 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn. 24 mwN, BAGE 157, 125[]
  7. vgl. BAG 21.03.2017 – 7 AZR 369/15, Rn. 32[]
  8. vgl. EuGH 3.07.2014 – C-362/13 ua. – [Fiamingo ua.] Rn. 71[]
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