Rufbereitschaft – und der Freistellungsanspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers

Ein schwerbehinderten Arbeitnehmer hat keinen Anspruch darauf, in jedem denkbaren Fall von Bereitschaftsdiensten (Rufbereitschaft) befreit zu werden.

Rufbereitschaft – und der Freistellungsanspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers

Die Anordnung von Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft ist grundsätzlich vom Direktionsrecht der Arbeitgeberin umfasst. Nach § 106 Satz 1 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit die Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz festgelegt sind. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers dient der Konkretisierung des vertraglich vereinbarten Tätigkeitsinhalts1.

So auch in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall: Nach der arbeitsvertraglichen Vereinbarung in Verbindung mit § 611a Abs. 1 BGB und § 6 Abs. 5 TVöD-V ist der Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet, jede vierte Woche Rufbereitschaft zu leisten. Die Vorschrift verbietet lediglich die Anordnung von Mehrarbeit; dies führt nicht automatisch zu einer Herausnahme aus jeder Form von Bereitschaftszeiten.

Das arbeitgeberseitige Direktionsrecht wird durch die Vorschrift des § 207 SGB IX begrenzt. Schwerbehinderte Menschen und gemäß § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX ihnen Gleichgestellte werden danach auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freigestellt. Dies hat zur Folge, dass der schwerbehinderte bzw. einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Arbeitnehmer, der – wie der Arbeitnehmer – ein entsprechendes Verlangen geäußert hat, die Leistung von Mehrarbeit nicht schuldet; und vom Arbeitgeber ihn zu Mehrarbeit herangezogen werden darf2.

Mehrarbeit ist jede über gesetzliche regelmäßige Arbeitszeit des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit3. Diese beläuft sich auf werktäglich acht Stunden4. Der gesetzgeberischen Konzeption des Arbeitszeitgesetzes liegt grundsätzlich eine Sechstagewoche zugrunde. Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelung in § 3 Satz 1 ArbZG ist die werktägliche Arbeitszeit. Werktag ist jeder Kalendertag, der kein Sonntag oder gesetzlich festgelegter Feiertag ist (vgl. § 9 Abs. 1 ArbZG; Baeck/Deutsch/Winzer ArbZG 4. Aufl. § 3 Rn. 14; ErfK/Wank 21. Aufl. ArbZG § 3 Rn. 2). Wird die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden oder die Verteilung der Arbeitszeit auf sechs Tage in der Woche überschritten, liegt Mehrarbeit iSv. § 207 SGB IX vor.

Die individuell vereinbarte oder tarifliche regelmäßige Wochen- oder Monatsarbeitszeit bleibt bei der Bestimmung der Mehrarbeit iSv. § 207 SGB IX ebenso außer Betracht wie die Möglichkeit, die Arbeitszeit nach § 3 Satz 2 ArbZG auf bis zu zehn Stunden täglich zu verlängern (vgl. zu § 124 SGB IX aF BAG 21.11.2006 – 9 AZR 176/06, Rn. 21; 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 1 b aa (2) und (3) der Gründe, BAGE 104, 73). Die Vorschrift des § 207 SGB IX soll sicherstellen, dass die Leistungsfähigkeit schwerbehinderter Menschen nicht durch zu lange Arbeitszeiten überbeansprucht5 und die gleichberechtigte Teilhabe des schwerbehinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft gefördert wird (§ 1 SGB IX). Dieser Schutzzweck der Norm erfordert es, die tägliche Arbeitszeit zu begrenzen. Nur so wird gewährleistet, dass dem schwerbehinderten Menschen ausreichend Zeit für die Teilhabe an der Gesellschaft bleibt, insbesondere für die notwendigen täglich zu verrichtenden Angelegenheiten wie Einkaufen, Behördengänge etc. Ein Bezug auf vom Werktag unabhängige tarifliche oder sonst im Arbeitsverhältnis geltende Arbeitszeitregelungen würde dem nicht gerecht (vgl. zu § 124 SGB IX aF BAG 21.11.2006 – 9 AZR 176/06, Rn. 21 mwN; 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 1 b aa der Gründe, BAGE 104, 73; zu § 46 SchwbG aF und § 3 AZO aF BAG 8.11.1989 – 5 AZR 642/88, zu II der Gründe, BAGE 63, 221).

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Entgegen der Ansicht des Arbeitnehmers verlangt es der Schutzzweck der Regelung aber nicht, als Rufbereitschaft angeordnete Bereitschaftszeiten per se als Mehrarbeit iSd. § 207 SGB IX anzusehen. Vielmehr ist auch ein schwerbehinderter Mensch grundsätzlich zur Leistung von Bereitschaftszeiten in der Sechstagewoche verpflichtet, soweit damit keine Mehrarbeit verbunden ist.

Danach hat der Arbeitnehmer jedenfalls keinen Anspruch darauf, generell von Bereitschaftszeiten ausgenommen zu werden. Angesichts seiner regulären Fünftagewoche könnte er zumindest an einem sechsten Tag in der Woche zu einer achtstündigen Bereitschaft herangezogen werden. Für die Abweisung des global gefassten Hauptantrags kommt es damit nicht darauf an, ob es sich bei den konkret angeordneten Bereitschaftszeiten um Arbeitszeit iSd. Arbeitszeitgesetzes handelt6.

Im Ergebnis zutreffend verneint das Landesarbeitsgericht auch einen Anspruch des Arbeitnehmers auf generelle Freistellung von den als Rufbereitschaft angeordneten Bereitschaftszeiten aus § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX iVm. § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX.

Nach § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen und diesen Gleichgestellte (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX) ua. Anspruch auf eine behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit. Dies schließt die Gestaltung von Sonderformen der Arbeit wie zB Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft ein. Die Vorschrift begründet einen einklagbaren Anspruch des schwerbehinderten Arbeitnehmers oder eines diesem Gleichgestellten, nicht (mehr) zu Rufbereitschaftsdiensten eingeteilt zu werden, wenn er diese wegen seiner Behinderung nicht ausüben kann7.

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Macht der schwerbehinderte Arbeitnehmer Ansprüche nach § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX auf behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation und Arbeitszeit geltend, trägt er nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Beansprucht er, nicht mehr zu Rufbereitschaftsdiensten herangezogen zu werden, muss er darlegen und gegebenenfalls beweisen, die damit verbundenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen zu können. Dazu obliegt es ihm vorzutragen, inwieweit sein Leistungsvermögen durch die Auswirkungen der Art und Schwere seiner Behinderung so eingeschränkt ist, dass er die ihm übertragene Sonderform der Arbeit (hier Bereitschaftszeiten) nicht mehr leisten kann8.

Nach den getroffenen Feststellungen hat der Arbeitnehmer keine Tatsachen dargelegt, die darauf schließen lassen, dass er aufgrund seiner behinderungsbedingten Einschränkungen vollständig von der Teilnahme an den als Rufbereitschaft angeordneten Bereitschaftszeiten zu befreien ist.

Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Vortrag des Arbeitnehmers nicht darauf schließen lässt, er sei aufgrund seiner Behinderung selbst mit den gewährten Unterstützungen und Erleichterungen nicht dazu in der Lage, Bereitschaftszeiten zu leisten. Soweit der Arbeitnehmer Rücken- und Bandscheibenleiden als Beeinträchtigungen anführt, hat die Arbeitgeberin diesen durch die Anweisung Rechnung getragen, er solle bei Einsätzen während der Bereitschaftszeiten Mitarbeiter aus der Abteilung Abwasser zur Unterstützung heranziehen, wenn er bestimmte Tätigkeiten aufgrund der seiner Beeinträchtigungen nicht ausführen könne. Soweit der Arbeitnehmer das Vorliegen eines psychischen Leidens einwendet, fehlt Vortrag zu den damit verbundenen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Fähigkeit, Bereitschaftszeiten zu leisten. Ärztliche Atteste sind nicht eingereicht, den vorgelegten Stellungnahmen des Diplom-Psychologen lassen sich Feststellungen zu konkreten Beeinträchtigungen nicht entnehmen.

Mit seiner Rüge, das Landesarbeitsgericht habe eine ihm obliegende Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO verletzt, dringt der Arbeitnehmer bereits deshalb nicht durch, weil er nicht vorgetragen hat, welchen konkreten Hinweis das Landesarbeitsgericht ihm hätte erteilen müssen und was er auf einen entsprechenden Hinweis vorgebracht hätte9.

Ein Anspruch des Arbeitnehmers auf generelle Befreiung von den Bereitschaftszeiten folgt auch nicht aus dem Gebot der Rücksichtnahme (§ 611a Abs. 1, § 613 iVm. § 241 Abs. 2 BGB). Der Arbeitnehmer hat nicht hinreichend dargelegt, dass – insbesondere nicht im Zusammenhang mit seiner Gleichstellung stehende – gesundheitliche Gründe die Herausnahme aus der Rufbereitschaft erfordern.

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Dagegen kann dem schwerbehinderten Arbeitnehmer einen Anspruch auf Freistellung von der Teilnahme an Bereitschaftszeiten von samstags 00:00 Uhr bis montags 07:15 Uhr (Wochenendrufbereitschaft) zustehen:

Die – grundsätzlich vom Direktionsrecht der Arbeitgeberin umfasste – Einteilung des Arbeitnehmers zu den Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft am Wochenende (Samstag 00:00 Uhr bis Montag 07:15 Uhr) verstieße gegen seinen Anspruch aus § 207 SGB IX auf Freistellung von Mehrarbeit, wenn es sich bei den Bereitschaftszeiten insgesamt um Arbeitszeit iSd. Arbeitszeitgesetzes handele. Die Anweisung, eine 55 Stunden und 15 Minuten umfassende Wochenendrufbereitschaft zu leisten, hätte dann zugleich die Überschreitung der werktäglichen Arbeitszeit von acht Stunden und die Verteilung der Arbeitszeit auf sieben Tage in der Woche zum Gegenstand. Entsprechendes gölte, wenn der zur Wochenendrufbereitschaft eingeteilte Arbeitnehmer typischerweise sowohl samstags als auch sonntags tatsächlich zur Arbeitsleistung abgerufen würde. In diesem Fall fiele Mehrarbeit jedenfalls dadurch an, dass er angesichts seiner regulären Fünftagewoche tatsächlich an sieben Tagen in der Woche zur Arbeitsleistung herangezogen würde.

Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 ArbZG ist Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne Ruhepausen. Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst sind arbeitsrechtlich Arbeitszeit. Sie müssen bei der Berechnung des zulässigen Umfangs der Arbeitszeit in vollem Umfang und nicht nur im Umfang des tatsächlichen Arbeitseinsatzes berücksichtigt werden10. Demgegenüber stellen Zeiten der Rufbereitschaft als solche (anders die Inanspruchnahme während der Rufbereitschaft) keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes dar11.

Unter Rufbereitschaft wird eine besondere Form des Bereithaltens zur Arbeit verstanden. Der Arbeitnehmer hat, ohne am Arbeitsplatz anwesend sein zu müssen, ständig für den Arbeitgeber erreichbar zu sein, um auf Abruf die Arbeit aufnehmen zu können12. Im Gegensatz zum Bereitschaftsdienst, der im Bedarfsfall die sofortige Arbeitsaufnahme ermöglichen soll und bei der sich deshalb der Arbeitnehmer nach § 7 Abs. 3 TVöD-V an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten hat, erlaubt Rufbereitschaft dem Arbeitnehmer grundsätzlich die Gestaltung seiner an sich arbeitsfreien Zeit. Er kann sich während der Rufbereitschaft um persönliche und familiäre Angelegenheiten, an sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, sich mit Freunden zu treffen etc.13. Während der Rufbereitschaft darf der Arbeitnehmer deshalb seinen Aufenthaltsort grundsätzlich selbst bestimmen. Völlig frei ist er dabei aber nicht. Der Zweck der Rufbereitschaft besteht gerade darin, dass der Arbeitnehmer in der Lage sein muss, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können. Kennzeichnend für Rufbereitschaft ist daher, dass zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme nur eine solche Zeitspanne liegen darf, deren Dauer den Einsatz nicht gefährdet und die Arbeitsaufnahme im Bedarfsfall gewährleistet. Der Arbeitnehmer darf sich nicht in einer Entfernung vom Arbeitsort aufhalten, die dem Zweck der Rufbereitschaft zuwiderläuft. Mithin stehen mittelbare Einschränkungen des Aufenthaltsorts dem Vorliegen von Rufbereitschaft nicht zwangsläufig entgegen. Die Eingrenzung der freien Wahl des Aufenthaltsorts und damit einhergehend der Möglichkeiten zur Gestaltung der Zeit der Rufbereitschaft ist vielmehr ein Wesensmerkmal dieses Dienstes14.

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Erhebliche Einschränkungen durch die konkrete Ausgestaltung der Rufbereitschaft und besondere Vorgaben (zB kurze Reaktionszeiten) sind mit dem Wesen der Rufbereitschaft jedoch nicht vereinbar. Dies ergibt die unionsrechtskornforme Auslegung des Arbeitszeitgesetzes, das der Umsetzung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben der RL 2003/88/EG dient. Nach deren Art. 2 Abs. 1 ist Arbeitszeit jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Demgegenüber ist Ruhezeit nach Art. 2 Abs. 2 RL 2003/88/EG jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit. Die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ schließen einander aus. Die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers ist deshalb arbeitszeitrechtlich entweder als Arbeitszeit oder als Ruhezeit einzustufen, da die RL 2003/88/EG keine Zwischenkategorie vorsieht15. Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, bei der der Arbeitnehmer während dieser Zeit nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, ist insgesamt als Arbeitszeit einzustufen, wenn dem Arbeitnehmer Einschränkungen auferlegt werden, die ihn bei objektiver Betrachtung ganz erheblich darin beeinträchtigen, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen in Anspruch genommen werden können, frei gestalten und sich eigenen Interessen widmen zu können. Erreichen dagegen die dem Arbeitnehmer während einer bestimmten Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen nicht diesen Intensitätsgrad und erlauben sie es ihm, über seine Zeit zu verfügen und sich ohne größere Einschränkungen seinen eigenen Interessen zu widmen, stellen nur die Zeiten tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung Arbeitszeit dar16.

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Bei der im Einzelfall zu treffenden Feststellung, ob Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als Arbeitszeit anzusehen ist, sind nur Einschränkungen der Interessen des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, die diesem durch gesetzliche bzw. (tarif-)vertragliche Bestimmungen oder Vorgaben des Arbeitgebers auferlegt werden. Organisatorische Schwierigkeiten, die die Bereitschaftszeit für den Arbeitnehmer mit sich bringen und die sich nicht aus solchen Einschränkungen ergeben, sondern zB Folge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers sind, bleiben unberücksichtigt. Dementsprechend stellt eine große Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Ort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen kein relevantes Kriterium für die Einstufung dieser gesamten Zeitspanne als Arbeitszeit dar17.

Die ständige Erreichbarkeit während der Bereitschaftszeit ist aber dann als Arbeitszeit im arbeitsrechtlichen Sinne zu bewerten, wenn der Arbeitnehmer in Anbetracht der ihm eingeräumten sachgerechten Frist für die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeiten seine persönlichen sozialen Aktivitäten nicht planen kann. Demgegenüber ist Bereitschaftszeit, in der die Arbeit in nur wenigen Minuten aufzunehmen ist, grundsätzlich in vollem Umfang als Arbeitszeit anzusehen, da der Arbeitnehmer in diesem Fall in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen18. Bereitschaftszeit, die ein Arbeitnehmer zu Hause verbringt und während der er verpflichtet ist, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, schränkt beispielsweise in erheblichem Maße seine Möglichkeit ein, anderen Tätigkeiten nachzugehen, und ist als Arbeitszeit anzusehen19. Das Bundesarbeitsgericht hat auch Reaktionszeiten von zehn Minuten20 und 20 Minuten12 zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme für zu kurz befunden. Ein Zeitraum von ca. 25 bis 30 Minuten stehe einer Rufbereitschaft hingegen nicht entgegen12.

Bei der Beurteilung, ob die Bereitschaftszeit als Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichem Sinne zu qualifizieren ist, fällt außerdem die durchschnittliche Häufigkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme während der Bereitschaftszeiten ins Gewicht. Ein Arbeitnehmer, der während einer Bereitschaftszeit im Durchschnitt zahlreiche Einsätze zu leisten hat, verfügt über einen nur geringen Spielraum, um seine Zeit während der Perioden der Inaktivität frei zu gestalten, weil diese häufig unterbrochen werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Einsätze von nicht unerheblicher Dauer sind21. Wird der Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt nur selten in Anspruch genommen, liegt gleichwohl Arbeitszeit in arbeitszeitrechtlichem Sinne vor, wenn die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist hinreichende Auswirkungen hat, um seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen ganz erheblich einschränken22.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. Juli 2021 – 9 AZR 448/20

  1. BAG 16.10.2013 – 10 AZR 9/13, Rn. 24[]
  2. vgl. BAG 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 1 c der Gründe, BAGE 104, 73[]
  3. BAG 21.11.2006 – 9 AZR 176/06, Rn.20; grundlegend 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 1 b aa der Gründe, BAGE 104, 73[]
  4. vgl. BAG 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 2 b der Gründe, aaO[]
  5. vgl. BT-Drs. 7/1515, S. 15, 16[]
  6. vgl. BAG 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 2 b der Gründe, BAGE 104, 73[]
  7. vgl. zur Nachtarbeit BAG 3.12.2002 – 9 AZR 462/01, zu A II 2 c der Gründe, BAGE 104, 73[]
  8. vgl. Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 164 Rn. 188; NPGWJ/Greiner 14. Aufl. SGB IX § 164 Rn. 54[]
  9. vgl. zu den Anforderungen an eine Rüge der Verletzung von Hinweispflichten BAG 29.08.2018 – 7 AZR 206/17, Rn. 46 mwN; 24.03.2009 – 9 AZR 983/07, Rn. 32, BAGE 130, 119[]
  10. BAG 20.11.2018 – 9 AZR 327/18, Rn. 15 mwN[]
  11. BAG 11.07.2006 – 9 AZR 519/05, Rn. 42, BAGE 119, 41[]
  12. BAG 31.01.2002 – 6 AZR 214/00, zu B I 2 der Gründe[][][]
  13. BAG 25.03.2021 – 6 AZR 264/20, Rn. 13; 31.01.2002 – 6 AZR 214/00 – aaO[]
  14. BAG 25.03.2021 – 6 AZR 264/20, Rn. 14[]
  15. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 29 mwN[]
  16. vgl. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 36 ff. mwN[]
  17. vgl. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 39 ff.[]
  18. vgl. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 45 ff.[]
  19. EuGH 21.02.2018 – C-518/15 – [Matzak] Rn. 66[]
  20. BAG 19.12.1991 – 6 AZR 592/89, zu II 2 der Gründe[]
  21. vgl. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 51 f.[]
  22. vgl. EuGH 9.03.2021 – C-344/19 – [Radiotelevizija Slovenija] Rn. 54[]